Читать книгу Mord mit kleinen Fehlern - Lisa Scott - Страница 7

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ROSATO & PARTNER stand auf dem Messingschild, das an der himmelblau gestrichenen Wand befestigt war, und Anne trat aus dem Aufzug hinaus in die klimatisierte Luft des leeren Empfangsbereichs. Marineblaue Clubsessel, ein orientalischer Teppich mit blauem Muster und ein Glastisch, bedeckt mit fächerförmig angeordneten Hochglanzmagazinen, bildeten eine veritable Oase nach der Hitze und dem Gedränge draußen.

Der Feiertagsverkehr hatte bereits eingesetzt, und Anne hatte vor dem Gerichtsgebäude kein Taxi bekommen, weshalb sie in ihren Blahniks fünfundzwanzig Häuserblocks weit gehen musste, was sie als eine unnötig grausame Bestrafung empfand. Mit einem Seufzer kickte sie sich die Pumps von den Füßen. Sie stopfte die Schuhe in ihren Aktenkoffer und stapfte barfuß zur Empfangstheke, die ebenfalls verlassen war. Die Empfangssekretärin hatte wohl früh Schluss gemacht, und in der ganzen Lobby war keine Menschenseele zu sehen. Es herrschte Stille, mit Ausnahme des Gelächters in einem der weiter hinten liegenden Büros. Anne wusste auf Anhieb, wem die Stimmen gehörten.

Anne nahm das Klemmbrett zur Hand, das auf der Empfangstheke lag, und sah sich die Liste derer an, die sich ein-und wieder ausgetragen hatten. Bennie Rosato hatte sich für den ganzen Tag wegen Außenterminen abgemeldet, und Anne atmete erleichtert auf. Wegen der Eingabe mit dem nackten Mann wäre sie ganz schön in Erklärungsnot geraten. Das Telefon auf der Empfangstheke klingelte, und Anne nahm den Hörer ab. »Rosato und Partner«, meldete sie sich.

Der Anrufer war ein Mann. »Hier sind die Daily News. Ist Anne Murphy zu sprechen? Wir haben ein paar Fragen an sie wegen ...«

»Tut mir Leid, ich bin nicht da.« Anne warf den Hörer auf die Gabel. Als das Telefon erneut klingelte, tat sie so, als wäre es reine Hintergrundmusik. Sie legte das Klemmbrett zur Seite und ging die rosa Benachrichtigungszettel durch, suchte sich die heraus, die sie betrafen, nahm dann ihre Briefe und die großen FedEx-Umschläge aus dem schwarzen Schuber, auf dem ihr Name stand, und marschierte damit zu ihrem Büro.

Das Sonnenlicht ergoss sich durch das Fenster hinter ihrem Stuhl, und ihr übervoller Schreibtisch badete in einem allzu weißen Gleißen. Die Staubkörnchen tanzten in der Luft, als die erhitzte Anne ihr Büro betrat. Ihr Schreibtisch stand vor der linken Wand, und darüber befanden sich Bücherregale aus Holz, gefüllt mit juristischen Fachbüchern und dicken Gesetzessammlungen, ein paar Krimis aus dem Juristenmilieu und abgelaufenen Neiman-Marcus-Katalogen voller Kleider, die sie eigentlich verdient hätte, sich aber noch nicht leisten konnte. In ihrem Büro gab es keine Fotos, und außer ihren Diplomen von der Universität Berkeley und der juristischen Fakultät von Stanford hing nichts an ihren Wänden.

Anne ließ die Handtasche und den Aktenkoffer auf einen Hocker fallen, warf die Post und die Notizzettel auf den Schreibtisch, ging zu ihrem Stuhl und setzte sich. Das Gelächter war jetzt lauter, da sie näher an seiner Quelle saß. Es gehörte zu den beiden älteren Partnerinnen, Mary DiNunzio und Judy Carrier. Sie hingen mal wieder in Marys Büro herum, das ihnen quasi als Clubhaus diente.

Anne ging ihre Nachrichten durch, aber sie war nicht mit dem Herzen dabei. Sie konnte einfach nicht still sitzen. Ihre Füße vibrierten angesichts ihres Sieges. Auf dem Weg ins Büro hatte sie Gil über Handy angerufen und ihm den Sieg berichten wollen, er hatte sich nicht gemeldet, also hatte sie nur eine Nachricht hinterlassen. Anne hatte auch ihm vorab nichts von dem nackten Mann erzählt; sie wollte, dass er im Falle ihrer Verhaftung alles glaubhaft abstreiten konnte. Doch jetzt hatte sich alles zum Guten gewendet. Sie hatte gewonnen!

Anne war nach Feiern zumute. Sie hörte wieder das Lachen. Vielleicht konnte sie Mary und Judy zu einem Drink einladen. Das hatte sie zwar noch nie getan, aber warum eigentlich nicht? Sie hatte an diesem Abend nichts weiter geplant als einen Besuch im Fitness-Studio, und da würde sie nur zu gern einmal schwänzen. Anne trainierte viel, um den Stress abzuarbeiten, aber sie hasste das Training so sehr, dass es ihr neuen Stress verursachte.

Anne stand auf und spazierte barfuß den Flur entlang in Richtung Gelächter. Die Unbekümmertheit des Lachens war ansteckend, und ihr eigenes Lächeln wuchs beträchtlich, als sie sich dem Büro von Mary näherte und sich zur Tür hineinlehnte. »Was ist denn so lustig, Mädels?«, fragte sie.

Das Lachen hörte abrupt auf, als ob jemand einen Schalter umgelegt hätte.

»Ach, nichts«, entgegnete Judy Carrier, die auf Marys Kommode saß. Aber ihre porzellanblauen Augen glänzten feucht vor Lachen, und ihre ungeschminkten Lippen verrieten noch letzte Spuren eines Lächelns.

Mary DiNunzio runzelte hinter ihrem ordentlichen Schreibtisch die Stirn. »Tut mir Leid, wenn wir zu laut waren. Haben wir dich gestört?«

»Nein, überhaupt nicht.« Annes Wangen färbten sich rot. Sie hätte es besser wissen sollen. Diese Kanzlei war schlimmer als die High School, und sie fühlte sich wie eine Schulversagerin, die sich bei den Einser-Leuten eingeschlichen hatte.

»Wie war es vor Gericht?«, fragte Mary. Falls sie von dem nackten Mann gehört hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Ihr Ausdruck schien interessiert, jedoch nur aus Höflichkeit. Ihr dunkelblondes Haar war zu einem französischen Zopf geflochten, und sie trug eines der khakifarbenen Kostüme von Brooks Brothers, für die sie bekannt war, im Gegensatz zu Judy, die auf der Kommode in einem Jeans-Overall, einem weißen Top und einem roten Tuch in ihrer Prinz-Eisenherz-Frisur saß. Die beiden waren so verschieden, dass Anne ihre enge Freundschaft nie verstehen konnte und den Versuch, sie zu verstehen, längst aufgegeben hatte.

»Äh, vor Gericht lief es gut.« Annes Lächeln verwandelte sich in eine professionelle Maske. Mary hätte Chipster am liebsten selbst vertreten, und Anne hatte immer das Gefühl, sie hätten Freundinnen sein können, wenn die Dinge anders gelagert wären. Wenn sie beispielsweise beide auf dem Planeten Pluto lebten, wo Frauen nett zueinander waren. »Ich habe gewonnen, bin also zufrieden.«

»Mein Gott! Du hast gewonnen?« Mary lächelte. »Ich gratuliere! Wie hast du das geschafft? Es war eine haarige Eingabe.«

»Hoffmeier hat meinen Standpunkt einfach verstanden, nehme ich an.« Anne dachte nicht im Traum daran, ihnen die Geschichte zu erzählen. Es war ein Fehler gewesen, hierher zu kommen. Mit ›hierher‹ meinte sie ›Philadelphia‹.

Mary wirkte verblüfft. »Womit war er denn einverstanden? Die Fälle waren doch keine Hilfe.«

»Wer weiß? Er hat mir die Begründung jedenfalls abgekauft. Ich muss jetzt los, bin schon spät dran. Ich wollte mich nur verabschieden.« Anne trat aus dem Büro und setzte ein letztes gespieltes Lächeln auf. »Einen fröhlichen vierten Juli. Feiert schön, Mädels.«

»Du hast wahrscheinlich Pläne. Verabredungen mit Männern, stimmt’s?«, fragte Mary, und Anne nickte.

»Ja. Also, bis dann.«

»Auch heute Abend? Weil ich ...«

»Ja. Wichtiges Date heute Abend. Ich muss jetzt los.«

»Okay, tja, einen schönen vierten Juli.«

Judy nickte. »Ja, wünsche ich auch.«

Aber Anne hatte das Büro bereits verlassen und eilte rasch den Flur entlang. Eine Stunde später trug sie ein übergroßes T-Shirt, ausgebeulte Shirts und Reeboks und stand in einem praktisch leeren Fitness-Studio, um es mit einem elliptischen Life-Fitness-Gerät aufzunehmen, einer teuren Maschine, die das Laufen für Leute simulierte, die es hassten, im Freien zu laufen. SELECT WORKOUT befahl das Display, und winzige rote Lichter blinkten gemeinsam als hilfreicher Pfeil, der auf den ENTER-Knopf wies.

Anne drückte den Knopf, ließ von FAT BURN über CARDIO und MANUAL alles durchlaufen, bis sie zu RANDOM kam, und das gefiel ihr. RANDOM würde ihr ohne Vorwarnung große Hügel in den Weg bauen. RANDOM würde sie auf Trab halten. RANDOM spiegelte das Leben wider.

Anne packte die Griffe und fing mit dem vorgetäuschten Laufen an. Das Studio war leer bis auf einen Muskelmann an der Leg-Lift-Maschine, der sich selbst im Spiegel beobachtete, ein Narziss auf einer Nautilus. Es war so leise, dass sie das humpta-humpta der Musik hören konnte, das aus dem Spinning-Raum nebenan drang. Sie hatte es einmal mit Spinning versucht, aber das musste man in der Gruppe machen, und das bedeutete, dass irgendjemand, männlich oder weiblich oder beides, besser war als sie.

Also trainierte Anne allein vor einer Reihe an der Wand befestigter Fernsehgeräte, sah geradeaus und trug Kopfhörer, deren Kabel in einem Sony-Walkman endeten. Die Batterien des Walkman waren schon lange Zeit leer; er diente ihr nur noch als Schutz davor, angequatscht zu werden. Sie ließ ihren Puls schneller werden, schaute CNN, das mit abgeschaltetem Ton lief, und versuchte, weder das Training noch CNN noch sonst etwas in ihrem Leben zu hassen.

Schließlich hatte sie gewonnen.

Der Gedanke brachte sie zum Lächeln. Ein kleiner Hügel erhob sich vor ihr, und sie joggte den simulierten Anstieg hinauf, die Augen auf das Fernsehgerät gerichtet. Über den unteren Rand des Bildschirms glitten zwei Newsticker mit Börsennotierungen und ihren geheimnisvollen Akronymen sowie roten und grünen Pfeilen. Es gab jede Menge roter Pfeile, die nach unten wiesen. Wenn Anne am Aktienmarkt investiert hätte, würde sie sich Sorgen machen, aber sie investierte grundsätzlich nur in Schuhe.

»Hi, Anne«, sagte eine Stimme, und sie drehte sich um. Eine Frau stieg auf das Gerät neben ihr und drückte FAT BURN. Die Frau war viel zu dünn für FAT BURN, aber das war ohnehin die größte Lüge, gleich hinter ›Einheitsgröße – für alle Größen geeignet‹.

»Hi«, erwiderte Anne und kramte in ihrem Gedächtnis nach dem Namen der Frau. Die Frau lief gemächlich los, die Augen auf einen imaginären Punkt an der Wand fixiert. Schließlich erinnerte sich Anne. Willa Hansen. Willa war eine grüblerische Künstlernatur und hatte ihre Haare mal wieder gefärbt, diesmal in einem normalen menschlichen Haarton. Es war sogar ein Rot, das dem von Anne ähnelte.

»Deine neue Haarfarbe gefällt mir, Willa«, ließ Anne sich nach einer Minute vernehmen. Sie wollte wohl ein Gespräch anfangen, aber ihr war nicht klar, warum. Vielleicht um zu beweisen, dass sie sich an Willas Namen erinnerte. Mentale Notiz: Es ist sinnlos, sich an den Namen eines Menschen zu erinnern, wenn man dafür nicht gelobt wird.

»Danke.«

»Wie hast du das Blau herausbekommen?«, fragte Anne und hätte sich gleich darauf am liebsten selbst getreten. Irgendwie klang es falsch. Es war ihr schon immer schwer gefallen, sich mit Frauen zu unterhalten. Mit Männern zu reden war so viel einfacher; wenn sie mit einem Mann reden wollte, musste sie ihm nur zuhören, was für die Jungs auf das Gleiche hinauslief.

»Das Blau ist von selbst rausgegangen. Es war Kool-Aid.«

»Was?« Anne zog die Kopfhörer von den Ohren. Vielleicht hatte sie sich einfach verhört. »Du hast deine Haare mit Kool-Aid gefärbt? Der Limo?«

»Klar.« Willa lächelte. »Man muss sie nur mit Wasser verdünnen.«

Anne wusste nicht so recht, was sie darauf sagen sollte, also joggte sie stumm auf ihrer simulierten Strecke weiter. Es gab einige Dinge in ihrer Generation, die sie nie verstehen würde. Ihre eigenen Experimente in Sachen Haarfarbe neigten eher zum Konventionellen. Als sie in die Kanzlei eintrat, hatte sie ihre Haare im Farbton ›Professionelles Braun‹ gefärbt, aber das hatte sich als fruchtlos erwiesen. Sie blieb unprofessionell, und das mit einem echt langweiligen Haarton, also war sie zu ihrem natürlichen Lucille-Ball-Rot zurückgekehrt. Anne versuchte es mit einem anderen Gesprächsansatz. »Ich wusste nicht, dass man Kool-Aid auch für die Haare verwenden kann.«

»Klar doch«, erwiderte Willa, die in ihrem T-Shirt und den Shorts auf dem Laufband schlenderte. »Normalerweise verwende ich Manic Panic, aber Kool-Aid funktioniert genauso gut. Das Blau war Blaubeere, und um es loszuwerden, musste ich nur Cherry drüberkippen, und schon wurde mein Haar schwarz.«

»Schwarzbeere?«

»Vermutlich.« Willa verstand den Scherz nicht. »Dann habe ich es rot gefärbt, und es kam irgendwie kupferartig raus.«

Anne erklomm einen weiteren simulierten Hügel und lief immer weiter. Das beleuchtete Display auf dem Laufgerät zeigte ihr an, dass sie erst seit zwei Minuten und 28 Sekunden joggte, was bedeutete, dass sie noch ungefähr drei Jahre und 23 Stunden vor sich hatte. Sie sah aus den Augenwinkeln auf Willas Display. Willa hatte keine Hügel vor sich, was bedeutete, dass ihrem Diät-Programm ganz einfach der Stress fehlte.

»Was machst du am vierten Juli, Anne?«

»Ich werde mich in meinem Haus verkriechen und das ganze Wochenende arbeiten. Am Dienstag steht eine große Verhandlung an.«

»Ach, stimmt ja, du bist Anwältin.«

Anne verspürte den Drang, Willa von ihrem großen Sieg zu erzählen, den sie heute vor Gericht errungen hatte, aber das wäre jämmerlich. Sie kannte Willa nicht besonders gut, und sie beide hatten sich nur ein paarmal über ihr jeweiliges Privatleben unterhalten – beziehungsweise dessen Mangel. Willa lebte ebenso wie Anne allein und stammte nicht aus Philadelphia. Anne vermutete, dass sie ein Treuhandvermögen besaß, und genau da endeten die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Frauen auch schon abrupt. »Hast du denn Pläne für den Feiertag?«

»Nicht mehr. Ich sollte ursprünglich auf die Hunde eines Pärchens aufpassen, aber sie haben sich getrennt.«

»Das Pärchen?«

»Die Hunde.«

Anne hakte nicht nach. Mittlerweile brachte sie das simulierte Laufen ohnehin zum Schnaufen. »Ich wusste gar nicht, dass du als Hundesitterin arbeitest.«

»Manchmal, nur aus Spaß. Ich liebe Hunde. Wenn ich auf Hunde aufpasse, nütze ich die Zeit, um sie zu zeichnen.« Willa schlenderte weiter auf ihrem Laufband. »Aber wahrscheinlich gibt es dieses Wochenende viele andere Dinge zu zeichnen. Es findet eine so genannte ›Party am Parkway ‹ statt, und Montagnacht gibt es ein Feuerwerk vor dem Kunstmuseum.«

»O nein, ich wohne direkt am Parkway.« Das war Annes erster Unabhängigkeitstag in Philadelphia, und sie hatte noch gar nicht an etwaige Feierlichkeiten gedacht. Wie sollte sie bei dem Lärm ihre Arbeit erledigen? Verdammt. Auf ihrem Display tauchte der Kilimandscharo auf. Typisch RANDOM. »Ich muss dieses Wochenende unbedingt arbeiten. Wie soll ich das nur schaffen?«

»Hast du kein Büro?«

»Schon, aber ...« Anne wollte Mary und Judy nicht über den Weg laufen. Oder schlimmer noch, Bennie. Die Arbeit war ja ganz okay, wenn nur die Kolleginnen nicht wären.

»Büros sind Scheiße, stimmt’s?«

»Haargenau.«

»Warum fährst du nicht weg?« Willas gemächliches Schlendern verlangsamte sich auf Zeitlupe. Bald würde sie sich rückwärts bewegen, und das Fitness-Studio würde sie bezahlen müssen.

»Wegfahren?«

»Du bist doch allein stehend?«

»Und wie.«

»Dann fahr nach Jersey an die Küste. Ich war mal im Norden von Cape May, da gibt es einen Nationalpark. Sehr still und friedlich. Ich habe jede Menge zeichnen können.«

»Zur Küste runter?« Das war der Code für die Jersey-Küste. Jedermann in Philadelphia machte in Süd-Jersey Urlaub. Anders als Los Angeles war Philadelphia keine Sommerfrische für Auswärtige, Gott sei Dank. »Das könnte ich eigentlich tun.«

Willa nahm ihre gemächliche Gangart wieder auf, während Anne sich in die Idee verliebte. Was für eine tolle Möglichkeit, ihren Sieg zu feiern! Sie besaß kein Auto, aber sie mietete stets dasselbe Cabrio, hauptsächlich um am Wochenende Lebensmittel einzukaufen. Der Geschäftsführer der Hertz-Filiale hielt es für gewöhnlich extra für sie zurück; es war ein feuerwehrroter Mustang, der selbst den meisten Zuhältern peinlich gewesen wäre. Anne wollte den Wagen kaufen, sobald sie sämtliche Kreditkartenschulden bezahlt hatte und die Hölle zugefroren war.

»Warum eigentlich nicht?«, sagte Anne. »Ich könnte übers Wochenende wegfahren!«

»Klar könntest du das. Tu etwas Verrücktes. Färbe deine Haare lila.«

»Lieber nicht.« Anne kicherte. Ihre Stimmung hob sich. »Aber ich könnte ein Reisebüro anrufen. Vielleicht habe ich Glück, und irgendjemand hat die Reservierung für seine Ferienwohnung storniert.«

»Irgendein Anwalt, der in der heißen Stadt bleiben musste.« Willa lachte, und Anne fiel mit ein.

»Der Idiot.«

»Genau.«

Dann kam Anne Mel in den Sinn. »Aber ich habe einen Kater. Ich kann ihn nicht allein lassen.«

»Warum sollte ich nicht auch mal auf eine Katze aufpassen? Ich mag Katzen, und ich könnte deinen Kater zeichnen.«

Anne zögerte bei dem Gedanken, eine Fremde in ihr Haus zu lassen, vor allem nach dem, was sie mit Kevin erlebt hatte. Aber Willa war eine Frau. Sie schien eine ehrliche Haut zu sein und, wichtiger noch, kein Psychopath. Anne, die nie auch nur daran gedacht hatte, an die Küste zu fahren, konnte es jetzt kaum erwarten hinzukommen. Sie könnte ununterbrochen arbeiten. Außerdem hatte sie noch nie zuvor den Atlantik gesehen. Anne war ziemlich sicher, dass sie ihn finden würde. »Würdest du dieses Wochenende bitte auf meinen Kater aufpassen, Willa?«, bat sie.

»Ist gut. Ich werde die Katze zeichnen, vielleicht sogar das Feuerwerk. Wenn du am Parkway wohnst, hast du sicher einen prima Ausblick.« Willas Spaziergang kam zu einem Halt. »Willst du nicht lieber gleich los, damit du nicht in den Stau kommst? Ich verlege mein Training auf den Weg zu deiner Wohnung. Übrigens kann ich bei dir auch putzen.«

»Großartig!« Anne drückte den CLEAR-Knopf. »Und zur Hölle mit dem Training! Ich laufe morgen früh am Strand, in der frischen Meeresbrise! Oder vielleicht auch nicht. Ha!«

Noch bevor sich Anne auf den Heimweg machte, hatte sie sich sowohl den Mustang als auch ein Ferienhaus an der Küste gesichert. In ihren Sportklamotten eilte sie daraufhin in den Stadtteil Fairmount, der direkt an das Geschäftsviertel grenzte. In diesem Teil der Stadt wohnte die Oberschicht, dazwischen lagen diverse Kunstmuseen, die Free Library und das Familiengericht. Es wimmelte nur so vor kolonialen Stadthäusern mit neu verfugten Ziegelfassaden und frisch gestrichenen Fensterläden. Auch Bennie Rosato besaß ein Haus in dieser Gegend. Fairmount war ein ruhiges, sicheres Viertel, mehr hatte Anne nicht verlangt, als sie nach Osten gezogen war. Sie kam ohne Parkplätze aus.

Das Haus, das Anne gemietet hatte, war drei Stockwerke hoch, aber schlichtweg anorexisch; es war nur ein Zimmer breit, eine gemütliche Drei-Zimmer-Einheit, so nannten die Einheimischen ihre Häuser mit je einem Zimmer pro Stock. Anne trat hastig ein und ignorierte dabei die Rechnungen und Kataloge, die durch den Briefschlitz direkt auf den Teppichboden des winzigen Eingangsbereichs gefallen waren. Sie verschloss und verriegelte die Tür, ließ den Aktenkoffer und die Handtasche auf den Wohnzimmerboden fallen und rannte mit dem Sportbeutel in der Hand nach oben.

»Mel! Mel! Wir haben die Eingabe gewonnen!«, rief Anne dem Kater zu, was ihr wieder einmal zeigte, dass sie schon viel zu lange allein lebte. Sie stürmte in ihr Schlafzimmer und ließ den Sportbeutel auf den Boden fallen, was den dicklichen grauen Kater, der sich am Fuß des ungemachten Bettes eingerollt hatte, abrupt aufweckte. Mel legte die Ohren an, ganz Kampfkatze, bis ihm klar wurde, dass es nur sein Frauchen war, woraufhin er sich entspannte und mit seinen großen grünen Augen faul blinzelte. Anne ging zum Bett, nahm sein pelziges Gesicht in beide Hände und küsste seine rosa Nasenspitze.

»Wir haben gewonnen, mein Hübscher!«, wiederholte sie, aber Mel gähnte nur und entblößte seine spitzen weißen Zähne. Als er das Maul schloss, lugten die Spitzen noch heraus, und er verwandelte sich in ein Halloween-Ungeheuer. Mel sah richtig Furcht erregend aus, und Anne fragte sich, ob er die Feiertage verwechselt hatte.

»Mel, die gute Nachricht ist, dass wir gewonnen haben. Die schlechte Nachricht ist, dass ich wegfahre, aber dir wird es gut gehen. Du wirst eine sehr nette Frau kennen lernen, die dich zeichnen will, verstanden?«« Anne küsste ihn erneut, aber da er nicht schnurrte, sagte sie sich, dass er sich wohl Sorgen machte, mit einer völlig Fremden allein gelassen zu werden, die sich die Haare blau färbte. Mentale Notiz: Die Menschen projizieren alle möglichen Gefühle auf ihre Katzen, und den Katzen gefällt das.

Anne küsste Mel ein letztes Mal, hastete zu ihrer unordentlichen Wäschekommode und zog Unterwäsche, zwei T-Shirts, einen Jeansrock und ihre neuen Shorts heraus. Sie nahm auch ihre schicken Pantöffelchen mit dem Leopardenmuster aus der untersten Schublade, weil sie ihr immer ein festliches Gefühl vermittelten, und schließlich hatte sie etwas zu feiern.

»Habe ich schon erwähnt, dass wir unsere Eingabe gewonnen haben, Mel?«, fragte Anne und stopfte die Sachen in ihren Sportbeutel. Sie würde in ihrem Feriendomizil duschen, darum holte sie aus dem Badezimmer nur schnell ihr Kiehl-Shampoo, den Conditioner und die Bodylotion mit Grapefruitduft sowie ihre Make-up-Utensilien in ihrer I-Love-Lucy-Dose. Sie konnte nicht ohne ihre Lucy-Dose oder die Grapefruit-Lotion aufbrechen. Das wäre ja, als würde man campen.

»Jetzt geht es los, Mel!«, sang sie, als sie wieder ins Schlafzimmer eilte, aber Mel war wieder eingeschlafen und wachte nicht einmal dann auf, als sie die Toilettenartikel in den Beutel stopfte und genau in dem Moment den Reißverschluss schloss, als es an der Tür klingelte. Das musste Willa sein. Anne schulterte den Beutel und nahm die schlafende Katze in den Arm, deren gestreifte Vorderbeine über ihre Unterarme baumelten. Er ließ es zu, dass sie ihn nach unten trug. Die geborene Limousinenkatze.

»Ich komme!«, rief Anne im Erdgeschoss und lugte durch den Spion, nur um sicher zu sein. Das geschah ganz automatisch, obwohl Kevin eine Trillion Meilen entfernt im Gefängnis saß. Sie fürchtete den Tag seiner Entlassung, aber es würde erst in zwei Jahren so weit sein. Auf der obersten Treppenstufe stand laut schnaufend Willa Hansen in ihren Sportsachen.

»Komm herein!«« Anne entriegelte und öffnete die Tür, und Willa flötete, als sie Mel sah: »Ooooh, wie hübsch er ist!«

Und da wussten Anne und Mel, dass alles gut sein würde.

Autos, Minivans und Pickups ergossen sich so weit das Auge reichte über die drei Fahrspuren. Ihre Bremslichter bildeten eine gepunktete rote Linie. So viel zum Thema RANDOM, und Anne fand sich damit ab, dass sie erst nach Einbruch der Dunkelheit an den Strand kommen würde. Sie lenkte das Mustang-Cabrio auf den rechten Fahrstreifen und lehnte sich gegen die Kopfstütze. Die Nachtluft blies kühl und glücklicherweise feuchtigkeitsfrei. Der Himmel verdunkelte sich zu einem tiefen Saphirrot, einzelne Sterne waren schon zu sehen, hoben sich wie Diamanten deutlich vom Himmel ab.

An dem blauen Voyager-Minivan neben ihr waren auf einer Stange am Fond zwei Kinderfahrräder befestigt, deren Speichen mit rotem, weißem und blauem Krepppapier umwickelt waren. Im hinteren Teil des Vans befanden sich Lebensmitteltüten, gefaltete Decken und eine Big-Bird-Puppe, deren Schnabel gegen das dunkle Seitenfenster drückte. Anne konnte die Familie im Wagen kaum erkennen, aber es gab Hinweise auf sie – Kinder, die auf den Sitzen hüpften, Mutter und Vater vorn.

Anne wandte den Blick ab und schaltete, plötzlich ruhelos, das Radio ein. Sie zappte die diversen Sender durch, aber es kam nichts außer Oldies, die älter waren als sie selbst, und Sportergebnissen, was sie an ihr Fitness-Training erinnerte. Sie schaltete das Radio wieder aus. Die Nacht brach stumm an, abgesehen von den Motorengeräuschen der dreitausend Minivans, die glückliche Familien an den Stand brachten und zweifelsohne allmählich die Luft für Frauen vergifteten, die sich weigerten, sich in ihren Mustang-Cabrios einsam zu fühlen. Anne öffnete eine Dose Diätcola aus dem Dosenhalter und prostete sich selbst zu. »Auf das Kohlenmonoxid und auf mich«, sagte sie. Sie nahm einen Schluck warme, fade schmeckende Cola, dann kam ihr eine Idee:

Sie hatte gewonnen, und es gab einen Menschen, dem sie das erzählen konnte. Sie fragte sich nicht erst lange, warum – ausnahmsweise nahm sie sich nicht die Zeit, sich bei der Selbstbeobachtung zu beobachten –, und sie machte sich auch keine mentale Notiz. Sie würde es einfach durchziehen. Tu es einfach!

Anne stellte die Coladose ab und suchte in ihrer Umhängetasche nach dem Handy sowie dem kleinen, roten Adressbuch und öffnete es. Sie musste das Adressbuch ins Scheinwerferlicht des Wagens hinter ihr halten, um die Einträge lesen zu können. Mit dem Daumen blätterte sie bis M und fand die Telefonnummer. Es gab fünf ältere Nummern, alle durchgestrichen, und sie wusste nicht, ob die neueste Nummer noch aktuell war.

Sie tippte die Vorwahl von Los Angeles ein, dann die Rufnummer. Dort wäre gerade Zeit fürs Abendessen. Die blechernen Klingeltöne setzten ein, einmal, zweimal, dreimal, mit einem schwachen Knacken. Anne wartete, dass jemand den Hörer abnahm, und trotz der Tatsache, dass sie gerade einen Schluck Cola getrunken hatte, war ihr Hals plötzlich trocken. Nach einem Augenblick hörte das Klingeln auf, und es meldete sich eine mechanische Stimme:

»Die Nummer, die Sie gewählt haben, ist nicht länger in Kraft. Bitte prüfen Sie Ihre Unterlagen ...«

Anne sank das Herz in die Hose, eine Reaktion, die sie hasste, und sie presste die Zähne aufeinander. Sie war fest entschlossen, kein Opfer zu sein, kein Weichei, keine völlige Versagerin. Also ließ sie die mechanische Stimme in endlosen Schleifen plappern und gab ihre Nachricht dennoch ab:

»Hallo, wie geht es dir? Ich dachte, du würdest vielleicht wissen wollen, dass ich heute eine sehr wichtige Eingabe vor Gericht gewonnen habe. Ich habe mir die Eingabe selbst ausgedacht, und sie war ein wenig verrückt, aber es hat funktioniert. Abgesehen davon geht es mir gut, ehrlich, mach dir keine Sorgen um mich.« Sie schwieg kurz. »Ich liebe dich auch, Mom.«

Dann beendete sie die Verbindung und klappte ihr Handy zu.

Mord mit kleinen Fehlern

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