Читать книгу Mord mit kleinen Fehlern - Lisa Scott - Страница 8

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Möwen kreischten über einer schmierigen, braunen Tüte in einem Mülleimer, und getupfte Tauben, deren geschuppte, rosarote Beinchen sich mechanisch wie die von Aufziehspielzeugen bewegten, trippelten über die verwitterten Planken. Der Samstagmorgen war klar, heiß und sonnig über der Küste von Jersey heraufgedämmert, und Anne hatte gemerkt, dass der Atlantik genauso aussah wie der Pazifik: groß, feucht, blau und ständig in Bewegung. Ihre Vorstellung von natürlicher Schönheit blieb auch weiterhin das King-of-Prussia-Einkaufszentrum.

Anne beendete ihre morgendliche Joggingrunde, auf der sie jeden einzelnen Schritt der fünf Kilometer über die windige Strandpromenade gehasst hatte. Neun Minuten pro Kilometer: Okay, das war nicht gerade schnell, aber Anne schwitzte ganz schön in ihrem großen T-Shirt und den Radlerhosen. Sie keuchte schon, aber das lag daran, dass der Sport-BH ihr die Luftzufuhr abschnitt. Mentale Notiz: Satan existiert, und er arbeitete für Champion.

Während Anne darauf wartete, dass sich ihr Atem wieder normalisierte, wischte sie sich hinter der schwarzen Oakley-Sonnenbrille über die Augen und straffte ihren Pferdeschwanz. Eine großzügige Menge Zinkoxid bedeckte ihre Oberlippe. Andere Jogger liefen mit geschniegelten, übergroßen Triathlon-Uhren und brandneuen Sauconys an ihr vorbei, ihre gepolsterten Tritte donnerten auf den alten, grauen Brettern. Es waren jetzt sehr viel mehr Leute auf der Promenade unterwegs als zu dem Zeitpunkt, an dem Anne losgelaufen war. Das Wochenende des vierten Juli hatte augenscheinlich eingesetzt. Eine Familie fuhr in einer gemieteten Rikscha mit rot-weiß gestreifter Markise an ihr vorbei; ein paar männliche Jogger passten sich Annes Tempo an, um sie im Vorüberlaufen in Augenschein zu nehmen, darum beschloss sie, in ihre kleine Ferienwohnung zurückzukehren und zu arbeiten.

Sie machte sich auf den Rückweg, aber die Brise war zu warm, um sie abzukühlen, also blieb sie an einem Zeitungskiosk an der Ecke stehen, um eine Flasche Wasser und eine Zeitung aus Philadelphia zu kaufen. Sie bezahlte beides mit klammen Geldscheinen, trat vom Kiosk zurück und wollte gerade den weißen Plastikverschluss auf der Evian-Flasche knacken, als sie die Schlagzeile der Zeitung las und erstarrte.

ANWÄLTIN ERMORDET AUFGEFUNDEN, hieß es da reißerisch, und darunter sah man Annes Abschlussfoto von der juristischen Fakultät. Die billige Druckfarbe ließ ihre Augen in einem zuckersüßen Grün erscheinen, und ihre Haare waren in einem Orangeton, den man sonst nur auf den Schutzwesten von Holzfällern fand. Das Foto war schwarz gerahmt, darunter stand nur Anne Murphy.

Anne lachte nervös. Der Leitartikel beschäftigte sich offenbar mit ihrem Tod, aber sie war nicht tot. Müde, ja, und dehydriert. Aber nicht tot. Es handelte sich offensichtlich um ein Missverständnis, ein gewaltiges Missverständnis. Sie schlug die Zeitung auf, und eine Windböe, die stechend nach Krebsen und Dieselbenzin roch, fuhr zwischen die Seiten und blähte sie wie Segel auf. Anne besiegte das widerspenstige Papier und las die beiden obersten Absätze:

Anne Murphy, 28, die als Anwältin die Internet-Firma Chipster.com vertrat, wurde gestern Abend ermordet in ihrem Haus aufgefunden. Die Polizei erklärte, dass sie durch mehrere Gewehrschüsse aus nächster Nähe zu Tode kam.

Ein Nachbar, der Schüsse gehört hatte, rief die Beamten zu Murphys Haus in der Waltin Street 2257. Es gab kein Anzeichen eines Einbruchs, und die Polizei hat derzeit noch keine Verdächtigen.

Anne nahm ihre Sonnenbrille ab und las die Absätze noch einmal. Ihr Humor versagte. Sie musste unter Halluzinationen leiden. Das ergab einfach keinen Sinn. Vielleicht handelte es sich um eine falsche Adresse? Sie las erneut. Waltin Street 2257. Das war ihr Haus, aber sie war nicht tot. Sie war ja nicht einmal dort gewesen.

O mein Gott. Plötzlich schnürte sich ihr der Hals zu. Mit entsetzlicher Unmittelbarkeit wurde ihr bewusst, was geschehen sein musste. Die Polizei hatte Willas Leiche gefunden.

Konnte das wahr sein? Konnte das wirklich wahr sein? War Willa tot? Annes Herzschlag setzte kurz aus. Ihre Augen wurden plötzlich feucht, die umtriebige Promenade verschwand. Mit zitternder Hand setzte sie die Brille auf.

Das war Kevin, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf, eine Stimme, die sie endgültig vertrieben zu haben glaubte. Du weißt, dass Kevin das getan hat.

Anne kämpfte gegen die Stimme und deren Schlussfolgerung an, aber es gelang ihr nicht. Willa tot? Nein! Anne musste alles erfahren, alle Details. Sie las den Artikel erneut, aber es war nur ein Abriss ihrer Karriere, mit einem Gruppenbild sämtlicher weiblicher Anwälte der ROSATO-Kanzlei, das mit Die Kanzlei mit dem weiblichen Touch untertitelt war. Weitere Einzelheiten über den Mord enthielt der Artikel nicht.

Anne konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. Sie vermochte kaum, die Panik in Schach zu halten, es war, als ob man mit einer Hand eine Meereswelle aufhalten wollte. Was war geschehen? Durfte das wirklich wahr sein? Sie zwinkerte die Tränen aus den Augen und ging den Rest der Zeitung durch, aber sie fand nur Nichtssagendes über die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag, rot, weiß und blau unterlegte Tabellen über die Parade und das Feuerwerk im Art Museum. Ein Radfahrer mit gemeißelten Schenkeln musterte sie, als er an ihr vorbeibrauste, gefolgt von einem Trio schlaksiger Jogger, das sich synchron zu ihr umdrehte. Anne zog sich auf die obere Promenade zurück und las den Artikel immer wieder, in dem verzweifelten Versuch, das Geschehene zu begreifen.

Kevin ist frei, aber wie? Und warum hat man mich nicht verständigt?

Anne konnte die Stimme nicht zum Schweigen bringen – und auch die Fragen nicht. Hatten die Cops Willa mit ihr verwechselt? Wie denn? Sie sahen sich überhaupt nicht ähnlich. Willa hatte braune Augen, ihre Nase war ganz anders, und sie hatte keine Narbe. Wer hatte die Leiche identifiziert? Dann dachte Anne noch einmal darüber nach. Sie und Willa hatten ungefähr die gleiche Größe – beide etwa 163 Zentimeter – und dieselbe Kleidergröße, nämlich 36. Willas Haare waren so lang wie die von Anne, und ihre neue Haarfarbe kam Annes ziemlich nahe.

Anne spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. Dann fiel ihr wieder ein, dass sie Willa, bevor sie aufgebrochen war, ein T-Shirt aus der Kanzlei geliehen hatte, auf dem ROSATO & PARTNER aufgedruckt war. Na und? Anne verstand plötzlich gar nichts mehr. Die Cops verließen sich bei der Identifikation von Leichen nicht auf T-Shirts, Haare oder Kleidergrößen. Sie bedienten sich dafür der DNA, zahnärztlicher Unterlagen, wissenschaftlicher Methoden und dergleichen eben, oder nicht?

Kevin hätte gewusst, dass ich es nicht bin.

Es ergab einfach keinen Sinn. Oder hatte er jemanden angeheuert? Nein. Niemals, nicht einmal vom Gefängnis aus. Er würde es selbst erledigen wollen. Sie fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. Wer war in ihrem Haus getötet worden? Warum verwechselte man die Tote mit ihr? Ihr Kopf pochte. Die Zeitung in ihrer Hand juckte. Sie wollte sie keine Sekunde länger in der Hand halten. Anne wirbelte herum, ließ die Wasserflasche fallen und stieß mit einem anderen Jogger zusammen, einem Mann mittleren Alters, der erfreut schien, sie in seinen Armen auffangen zu dürfen.

»Entschuldigen Sie, Miss«, sagte er, dann runzelte er hinter einer Croakie-Brille, die an einem breiten, roten Band um seinen Hals gesichert war, die Stirn. »Geht es Ihnen gut? Sie zittern so furchtbar ...«

»Es geht mir gut«, erwiderte Anne und riss sich los. Sie stolperte gegen einen Mülleimer und warf die Zeitung in ein Nest aus Budweiser-Dosen und Fritten-Tüten. Ihre Knie gaben unter ihr nach, als ob ihr jemand die Schienbeine weggekickt hätte.

Sie hielt sich an dem Mülleimer fest. Ihr Herz raste. Die Sonne brannte. Der Müll stank. Fliegen summten. Eine Welle der Übelkeit schwappte über sie hinweg, und sie stieß sich vom Mülleimer weg, aber um sich herum nahm sie nichts mehr wahr. Die Sonne bleichte die Menschen knochenweiß. Himmel und Wolken wirbelten wie die Graffiti-Wand einer Uferpromenade an ihr vorbei.

»Miss?«, rief eine Männerstimme, und durch die gleißende Helligkeit nahm Anne ganz verschwommen wahr, dass ein weiterer Mann auf sie zukam. Dann liefen noch mehr Leute auf sie zu.

Der Mann mittleren Alters sagte etwas. Der zweite Mann war direkt über ihrem Gesicht, sein Atem roch nach Kaffee. Er packte ihren Arm. Ein dritter Mann nahm ihren anderen Arm, als ob er ihr auf die Beine helfen wollte, aber Anne hatte gar nicht das Gefühl, zu Boden gefallen zu sein. Der Griff der Männer glich Handschellen an ihren Gelenken. Ihr Herz flatterte vor Furcht. Ihr Gehirn bemühte sich krampfhaft, wieder zu funktionieren. Sie hatte keinen Schutz. Keine Waffe, kein Handy. Nicht einmal eine Unterlassungsverfügung.

Adrenalin strömte durch ihren Körper. Ihr Herz drohte zu explodieren. Sie kämpfte gegen die Männer, entzog sich ihrem Griff, rief Worte, die sie nicht hören konnte. Sie wichen zurück und sahen perplex zu, wie Anne sich auf die Beine kämpfte, die Galle schluckte, die ihr hochgekommen war, und den Blick auf den schaukelnden Horizont richtete. Sie starrte so lange auf den Himmel, bis er sich normalisierte. Die Sonne nahm wieder ihre Position ein, und die Wolken zogen zurück an ihre Plätze. Anne gewann ihr Gleichgewicht wieder, und die Männer, die um sie herumstanden, rückten in ihr Sichtfeld. Sie hörte auch, was sie sagten:

»Versuchen Sie nicht aufzustehen. – Sie haben einen Schwächeanfall! Sind Sie Diabetikerin?« – »Ich rufe einen Arzt! Ich habe mein Handy dabei!« – »Können Sie mich hören?« – »Miss? Wie heißen Sie?« – »Ich sage euch, sie ist dehydriert. Sie braucht Wasser. Ich habe eine Flasche dabei.« – »Warten Sie, ich helfe Ihnen hoch.« »Ich rufe einen Notarzt.«

Kevin ist wieder da.

Die Furcht ließ Anne wieder klar denken. Verjagte ihre Schwindelgefühle und brachte ihre Beinmuskulatur in Bewegung. Erinnerte ihren Körper an den ältesten aller Instinkte. Anne sprang auf und hechtete ohne ein Wort davon. Die Männer würden ihr das schlechte Benehmen nachsehen. Sie rannte um ihr Leben.

Ihre Füße schlugen dumpf auf der Promenade auf. Ihre Schenkel schmerzten angesichts der plötzlichen Anstrengung. Das Eisengeländer entlang der Promenade verschwamm zu einer silbernen Kugel. Der Atlantik wurde zu einem blauen Streifen. Ihr Atem kam stoßartig. Ihre Laufschuhe donnerten auf die verwitterten Bretter, trafen kaum auf, bevor sie sich wieder in die Luft erhoben.

Anne hastete die Stufen zum menschenleeren Strand hinunter, dann entlang des Wassers. Die Meeresluft füllte ihre Lungen. Eine kühle Brise legte sich über ihre Wangen. Ihre Fersen wirbelten Sand auf. Ihre Beine schossen kraftvoll nach vorn, und sie wurde immer schneller, begann zu fliegen. In einem irrwitzigen Tempo, dann noch schneller. Ihr Atem ging leicht, ihr Herz pochte, und ihre Körperfunktionen waren auf Automatik geschaltet. Sie war noch nie zuvor so schnell gerannt, aber die Furcht feuerte sie an.

Salz brannte ihr in den Augen. Der Wind blies heftiger, schlug gegen ihre Ohren. Ihre Reeboks knirschten über Muschelscherben. Sie geriet auf den härteren Sand direkt am Rand des Wassers und lief in Meeresschaum, der gegen ihre Waden spritzte. Wasser tränkte ihre Socken und Schuhe. Sie sprang über eine zerbrochene Flasche, deren grünes Glas in der Sonne gefährlich zackig glänzte, und rannte weiter, immer den Strand entlang, parallel zum Meer. Sie lief dem Horizont entgegen, flog immer weiter, bis sie entschwand.

Als Anne die mit Schindeln verkleidete Doppelhaushälfte erreichte, in der sie eine Ferienwohnung gemietet hatte, stand die Sonne hoch am Himmel. Sie lief die ausgetretenen Holzstufen in den ersten Stock hinauf. Mit bebender Brust rannte sie zu der Eingangstür, ihr T-Shirt und die Shorts dermaßen schweißgetränkt, dass sie aussah, als ob sie in ihren Kleidern geschwommen wäre. Ihre Laufschuhe hinterließen verwischte Spuren auf den splitternden Holzdielen. Körniger, nasser Sand klebte an ihren Knöcheln.

Ihre Hand zitterte, als sie in der Tasche ihrer Shorts nach dem Türschlüssel suchte. Hinter sich hörte sie die unbekümmerten Geräusche von Urlaubern, die in Richtung Strand unterwegs waren. Sie plauderten und lachten und trugen gestreifte Sonnenschirme über ihren Schultern. Ihre Kinder zottelten mit Plastikeimern in den Händen hinterher, und ein kleiner Junge fuhr auf einem Dreirad, an dessen Lenkstange mit Klebeband eine winzige amerikanische Flagge befestigt war. Anne schloss die Tür auf und stürmte hinein. Sie riss sich die Sonnenbrille von den Augen, bevor diese sich an die plötzliche Dunkelheit gewöhnt hatten.

Die Ferienwohnung bestand aus einem Zimmer, dessen getäfelte Wände verschwenderisch mit Fischernetzen, getrockneten Seesternen und einer roten Plastikkrabbe geschmückt waren. Kindersicherer Stoff bedeckte ein braunes Sofa mit zahlreichen Kissen, flankiert von weißen Korbstühlen und kleinen Beistelltischen mit Glasplatten. Anne ging rasch zum Telefon auf einem der Beistelltische. Sie konnte nicht glauben, dass Willa tot sein sollte. Sie nahm den Hörer und wählte ihre eigene Nummer, dann betete sie, dass jemand ans Telefon ging.

Anne zählte die Klingeltöne, eins, zwei, drei, vier, dann schaltete sich ihr Anrufbeantworter ein. Sie hängte schnell ein, wollte nichts hören, hatte ein saures Gefühl in der Magengrube. War Willa wirklich tot? Warum sonst ging sie nicht ans Telefon? Wo war sie? Vielleicht war sie ausgegangen. Joggte. Aber aus dem Nichts kamen keine Antworten, und das einzige Geräusch im stillen Zimmer war Annes abgehackter Atem. Sie nahm den Hörer erneut zur Hand und wählte wieder ihre Nummer, nur für den Fall, dass sie sich beim ersten Mal verwählt hatte.

Bitte, Willa, nimm ab. Doch wieder meldete sich nur der Anrufbeantworter.

Anne versuchte verzweifelt, ihr Gehirn wieder in Gang zu setzen. Ihre Finger klammerten sich um den Hörer. Was nun? Wer könnte wissen, wo sich Willa befand? Ihre Familie – aber Anne hatte keine Ahnung, wo Willas Angehörige lebten. Sie wusste ja nicht einmal, wo Willa wohnte. Vielleicht war Willa doch ausgegangen. Vielleicht war sie gar nicht tot. Sie konnte nicht tot sein.

Annes Gedanken purzelten in ihrer Verwirrung übereinander. Na gut, sie wusste nicht, wo sich Willa aufhielt, aber sie musste der Welt mitteilen, dass sie noch am Leben war. Sie dachte an ihre eigene Familie, verwarf diesen Gedanken jedoch schnell wieder. Ihre Mutter konnte sie nicht ausfindig machen, und ihren Vater, einen Gitarristen, der noch vor ihrer Geburt einfach abgehauen war, hatte sie nie kennen gelernt. So viel dazu.

Anne dachte unwillkürlich an Gil und Chipster. Gil musste erfahren, dass sie noch lebte und dass sein Fall am Dienstag wie geplant verhandelt würde. Chipster.com wollte an die Börse, und ein negatives Geschworenenurteil würde den Börsengang, der schon einmal verschoben worden war, völlig unmöglich machen. Sie nahm den Hörer ab und gab Gils Handynummer ein. Es klingelte viermal, dann fünfmal, dann meldete sich die Voicemail. Anne wartete, bis seine Bandansage geendet hatte, doch plötzlich ertönte ein Gong, und eine mechanische Stimme erklärte: »Im Augenblick können keine weiteren Nachrichten angenommen werden.« Dann war die Verbindung tot.

»Verdammt!« Anne drückte auf die Gabel und versuchte es erneut. Gils Voicemail musste voll sein. Sie hörte wieder nur die Bandansage und den Abbruchsgong. Anne knallte den Hörer auf die Gabel. Ihre Gedanken rasten. Bei Gott, es waren noch viele andere Anrufe zu tätigen.

Sie nahm den Hörer wieder zur Hand und wählte die Nummer der Kanzlei. Irgendjemand würde jetzt bei der Arbeit sein. Mary nahm heute für sie die eidesstattliche Erklärung einer Zeugin im Chipster-Fall auf. Der Termin fand um dreizehn Uhr in der Kanzlei statt. Sofort meldete sich eine Stimme. »Sie haben die Rufnummer von ROSATO & PARTNER gewählt«, sagte der Anrufbeantworter der Kanzlei. »Bis Dienstag, den fünften Juli, haben wir geschlossen. Wir trauern um unsere verstorbene Kollegin Anne Murphy. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, dann rufen wir Sie so bald als möglich zurück.«

Anne hängte erstaunt ein. Sie hatten die Kanzlei geschlossen? Wo sie Anne doch nicht einmal leiden konnten! Ihr kam die Idee, Mary auf dem Handy anzurufen, aber wie lautete die Nummer? Anne kannte sie nicht, ihr Handy dagegen schon.

Sie lief ins Schlafzimmer, in dem sie ihr vorübergehendes Kriegshauptquartier eingerichtet hatte. Das Doppelbett war zum Arbeits-, Schlaf- und Wohnbereich umfunktioniert worden. Ihr dicker Laptop stand offen auf dem Kissenschreibtisch, und schwarze Notizbücher voller Notizen lagen im Halbkreis um das Doppelbett. Ihr silbernes Handy funkelte im Sonnenlicht, das durch das geöffnete Fenster fiel. Anne griff nach dem Handy und klappte es auf.

Das Display war nunmehr transparentes Schwarz. Die Batterien waren leer. In der Eile der letzten Nacht hatte sie vergessen, das Handy im Wagen aufzuladen. »Scheiße!«, brüllte Anne und knallte das Handy auf die Matratze.

Kevin ist drauβen. Kevin ist frei. Kevin hat das getan.

Der Gedanke lähmte sie einen Moment lang. Im letzten Jahr war sie ans andere Ende des Landes gezogen, um so weit wie möglich von Kevin Satorno wegzukommen. Sie waren sich in Los Angeles in einem Supermarkt begegnet. Er hatte ihr erzählt, er sei gerade dabei, an der University of California in Geschichte zu promovieren. Ein einziges Mal war sie mit ihm ausgegangen, eine Verabredung zum Abendessen, die in einem keuschen Kuss geendet hatte, aber dieser eine Abend hatte ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt.

Danach rief Kevin ständig bei ihr an, sprach von Ehe und Kindern, schickte ihr Geschenke und rote Rosen. Irgendwie war er auf die Idee verfallen, dass sie ihn liebte. Zuerst war ihr ganz schrecklich zumute, weil sie glaubte, ihm die falschen Signale vermittelt zu haben, aber als er dann unangemeldet in ihr Büro kam und seine zehn Anrufe täglich auf dreißig anwuchsen, bekam sie es mit der Angst zu tun. In kürzester Zeit folgte ihr Kevin überall hin. Er wurde zum Stalker.

Sie war zu den Behörden gegangen, wo sie von Erotomanie beziehungsweise dem de-Clérambault-Syndrom erfuhr, bei dem ein Mensch der irrigen Annahme verfällt, eine bestimmte Person würde ihn lieben. Sie hatte baldmöglichst eine Unterlassungsverfügung bewirkt, aber die hatte ihr in der Nacht, als Kevin ihr an der Haustür auflauerte und sie mit einer Waffe bedrohte, auch nicht geholfen. Es war großes Glück gewesen, dass ein Passant ihre Schreie gehört hatte. Daraufhin war Anne an die Ostküste gezogen, um in Sicherheit noch mal ganz von vorn anzufangen. Kevin war wegen schwerer gewaltsamer Bedrohung im Gefängnis gelandet, aber nur für zwei Jahre. Sie hatte ein ganzes Land zwischen sich und ihn gelegt, ihr Leben geändert, einen neuen Job angenommen. Und jetzt war Willa möglicherweise wegen ihr tot.

Anne schloss voll Schmerz die Augen. Als sie sie wieder öffnete, waren sie voll Zorn. Eigentlich sollte sie sich bei der Polizei melden und ihr mitteilen, dass sie am Leben war, aber zuerst musste sie herausfinden, ob Kevin auf Bewährung draußen war. Sie nahm das Schlafzimmertelefon zur Hand und wählte die Auskunft in Los Angeles, wo sie sich die Nummer des Büro der Staatsanwaltschaft geben ließ. Der Staatsanwalt, der Kevin verurteilt hatte, würde vielleicht wissen, wo er sich aufhielt, aber als sie sein Büro erreichte, verkündete die Voicemail: »Der Staatsanwalt Antonio Alvarez, dessen Anschluss Sie gewählt haben, kehrt erst am 15. Juli in sein Büro zurück. Drücken Sie die eins, um eine Nachricht zu hinterlassen, die zwei, um wieder mit der Zentrale verbunden zu werden ...«

Anne hängte ein, ging ihr mentales Rolodex durch, um sich daran zu erinnern, wer damals an der Verurteilung noch beteiligt gewesen war. Sie durchlebte eine schreckliche Erinnerung: wie sie Kevin bei einer polizeilichen Gegenüberstellung identifizieren musste, wie sie gegen ihn aussagte, wie sie vor Gericht mit dem Finger auf ihn zeigte, als er auf der Angeklagtenbank saß, wie er daraufhin aufsprang und sich auf den Zeugenstand stürzte. Obwohl es im Haus warm war, zitterte sie. Doch dann tauchte der Name eines Mannes in ihrer Erinnerung auf:

Dr. Marc Goldberger, der vom Gericht bestellte Psychiater, der Kevin als Sachverständiger begutachtet und gegen ihn ausgesagt hatte. Der Psychiater hatte den Geschworenen den Begriff Erotomanie erklärt und erläutert, welch großer Bedrohung Anne in den kommenden Jahren ausgesetzt sein würde. Die meisten Erotomanen waren intelligent, gebildet und gerissen genug, um das Objekt ihrer Begierde bis zu zehn Jahren zu verfolgen.

Anne nahm das Telefon wieder zur Hand, rief erneut die Auskunft von Los Angeles an und ließ sich die Nummer des Psychiaters geben. In seinem Büro meldete sich niemand, aber sie schrieb die Notfallnummer auf, die der Anrufbeantworter ihr nannte, und rief direkt durch. Die Verbindung wurde hergestellt, und Anne erkannte die einfühlsame Stimme, wie ein Echo aus ihrer Erinnerung. »Dr. Goldberger?«

»Ja, wer spricht da?«

Anne wollte gerade ihren Namen nennen, als sie innehielt. Vielleicht musste er Vertraulichkeit wahren, und womöglich würde er nicht mit ihr reden, wenn er wusste, wer sie war. »Ich bin Cindy Sherwood. Ich habe über die Satorno-Verhandlung berichtet, vielleicht erinnern Sie sich.«

»Nein, tut mir Leid. Es ist noch recht früh, Ms. Sherwood, und das an einem Feiertagswochenende. Ich unterhalte mich nicht mit Journalisten, und ich kann mich nicht erinnern, in Zusammenhang mit diesem Fall interviewt worden zu sein.«

»Bitte, ich habe mich gefragt, ob Sie den gegenwärtigen Aufenthaltsort von Mr. Satorno kennen. Ich arbeite an einer Fortsetzungsgeschichte.«

»Soweit ich weiß, sitzt Mr. Satorno im Gefängnis. Wenn Sie mehr erfahren wollen, reden Sie mit Mr. Alvarez, dem zuständigen Staatsanwalt.«

»Falls Sie von Mr. Satorno hören, würden Sie mich dann bitte anrufen? Die Vorwahl gehört zu Philadelphia, wo ich seit meiner Heirat wohne.« Anne hinterließ ihre Handynummer, und er war so freundlich, sie aufzuschreiben, bevor er die Verbindung unterbrach.

Anne legte den Hörer auf, dachte weiter nach, versuchte, gefasst zu bleiben. Wenn sie die Kontrolle verlor, würde sie wieder die Frau sein, die voller Angst den Strand entlanglief. Auf gewisse Weise hatte sie das bis zu diesem Augenblick getan, Tag für Tag, seit sie Kevin Satorno begegnet war, und sie durfte das nicht länger zulassen. In ihr formte sich bereits eine Idee.

Anne sprang in ihren nassen Laufschuhen auf, aber diesmal war es keine Flucht, es war Kampf. Sie nahm ihren Aktenkoffer und den Sportbeutel und packte eiligst alle Unterlagen und Kleider ein. Zum ersten Mal, seit sie die Zeitung gesehen hatte, funktionierte sie wieder. Sie musste zurück nach Philadelphia und herausfinden, ob Willa tatsächlich tot war und wer sie getötet hatte. Und es gab nur eine Möglichkeit, das zu tun. Wenn die Welt glaubte, dass Anne tot war, dann würde sie auch tot bleiben. Das Totsein spielen.

Im Moment war es die einzige Möglichkeit, am Leben zu bleiben.

Mord mit kleinen Fehlern

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