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Eine halbe Stunde später hatte Anne ihren Schlüssel einem verblüfften Makler zurückgegeben und bretterte in dem roten Mustang den Atlantic City Expressway entlang. Sie hatte ihr duschnasses Haar zu einem Knoten aufgesteckt und setzte eine weiße Baseballmütze darüber, tief ins Gesicht gezogen. Zu der Mütze trug sie ein weißes T-Shirt, den Jeansrock und die Pantöffelchen mit dem Leopardenmuster, weil ihre Laufschuhe klatschnass waren. Ihre Augen hinter der Oakley-Sonnenbrille waren immer noch angeschwollen – von den Tränen, die sie unter der heißen Dusche vergossen hatte. Sie spürte, es würden nicht die letzten Tränen sein.

Der Mustang donnerte über den Highway, und Anne hielt das dick gepolsterte, mit Kunstleder überzogene Lenkrad fest umklammert. Der gelbe Zeiger des Tachos zitterte, als sie von hundertzwanzig auf hundertvierzig Stundenkilometer beschleunigte. Es herrschte so gut wie kein Verkehr, weil alle wegen des vierten Julis in Richtung Strand fuhren und sich auf ein sonniges Ferienwochenende freuten. Anne schaltete das Radio ein, fand einen Sender, der rund um die Uhr Nachrichten brachte, und ließ Sonnenbrandwarnungen, Verkehrsmeldungen und Hinweise zu Meerestemperaturen über sich ergehen, bis endlich die richtigen Nachrichten kamen. Sie drehte die Lautstärke auf:

»Die Polizei hat bislang weder einen Verdächtigen noch ein Motiv für den Tod von Anne Murphy, einer Anwältin der Kanzlei ROSATO, PARTNER, die gestern Abend erschossen wurde.«

Anne biss sich auf die Lippen. Es tat weh, war surreal und schrecklich. Ihr vermeintlicher Tod war die Meldung des Tages, und die arme Willa blieb namenlos.

»Die Innenstadt-Kanzlei ROSATO & PARTNER hat 50.000 Dollar Belohnung für Informationen zur Ergreifung des Täters ausgesetzt. Jeder, der zur Aufklärung des Falles beitragen kann, wird gebeten, die Mordkommission anzurufen unter der Rufnummer ...«

Das überraschte Anne. Sie hatte nicht an eine Belohnung gedacht, geschweige denn daran, dass die Kanzlei eine Belohnung aussetzen würde.

»Bleiben Sie dran. Wir informieren Sie umgehend über neue Entwicklungen. Einen ausführlichen Bericht über die Tat finden Sie auf unserer Website unter ...«

Anne schaltete das Radio aus. Ein klobiger Reisebus blockierte die Überholspur, und als er sich wieder auf die rechte Spur einordnete, zog sie rasch an ihm vorbei. Dann nahm sie ihr Handy zur Hand und rief wieder bei sich zu Hause an. Es nahm immer noch niemand ab. Dann rief sie bei Mary an. Auch niemand. Sie wollte keine Hallo-ich-lebe-Nachricht hinterlassen und klappte ihr Handy zu. Sie würde es später noch einmal versuchen müssen. Wenn sie keine hundertvierzig die Stunde mehr fuhr.

Eine Stunde später, nachdem sie es vorübergehend aufgegeben hatte, Mary verständigen zu wollen, erreichte sie Philadelphia. Sie bog an der 22. Straße vom Highway ab und fuhr direkt zum Benjamin Franklin Parkway, einem sechsspurigen Boulevard, der vor rot-weiß-blauen Aktivitäten nur so brummte. Der Parkway war mit einer Reihe bemalter Sägeblöcke abgeriegelt, und der Verkehr wurde umgeleitet.

An einer Ecke winkte ein Cop direkt vor Anne die Fußgänger über die Straße. Sie zog die Baseballmütze noch tiefer ins Gesicht. Sie konnte es sich nicht leisten, jetzt erkannt zu werden. Der Motor des Mustang knatterte im Leerlauf. Langsam ging das Benzin aus, und von der langen Fahrt war ihr extrem heiß. Anne besah sich die Menge, die vor der Motorhaube die Straße überquerte. Ganze Familien hielten sich an den Händen auf dem Weg zum Art Museum, wo Aluminiumtribünen und Zelte aus Fallschirmseide aufgestellt worden waren. Jogger liefen mit federnden Schritten zum Schuylkill River. Kunststudenten warfen Labradorhunden mit Halstüchern Frisbee-Scheiben zu. Kinder hüpften ausgelassen über den mit Kaugummi verklebten Gehweg und ließen Ballons steigen. Der Duft nach Hotdogs erfüllte die Luft, und diverse Verkaufsstände boten amerikanische Flaggen, Uncle-Sam-Hüte, aufblasbare Liberty-Glocken und T-Shirts feil, auf denen ICH WURDE AM VIERTEN JULI GEBUMST stand. Igitt.

Hier in der Stadt fühlte Anne sich angespannt. Nur fünf Häuserblocks entfernt fing das Viertel an, in dem sie wohnte. Wie oft hatte sie genau diese Kreuzung auf dem Weg von oder zur Arbeit überquert – aber jetzt war ihr die Gegend kaum mehr vertraut. Sie hatte sich für immer verändert, war ihr genommen worden. Wenn Kevin frei war, hatte sie ihre Chance auf einen Neuanfang verspielt. Und doch wusste sie, dass ihr Verlust mit dem von Willa nicht zu vergleichen war. Falls Willa wirklich tot war.

Der Cop winkte sie weiter, und Anne senkte den Blick, als sie vor seiner Nase über die Kreuzung fuhr. Eine Brise vom Schuylkill River blies durch den breiten Boulevard, ließ die bunten Flaggen aller Nationen flattern und brachte die Ketten, mit denen sie an den Straßenlampen befestigt waren, zum Rasseln. Ein Mann, der die Straße überquerte, sah sie im Vorbeifahren aufmerksam an, darum fuhr Anne an den Straßenrand und schloss das Verdeck des Cabrios. Das Stoffdach glitt über sie hinweg, und sie fühlte sich darunter wie unter einer vom Fahrzeughersteller installierten Sicherheitsdecke.

Anne fuhr weiter, und nach ein paar Häuserblocks – Greene, Wallace und dann ihre Straße, die Waltin – erreichte sie die inoffizielle Grenze zu Fairmount. Sie bog nach links auf die Waltin und befand sich plötzlich in einem ungewöhnlich langen Stau, der die einspurige Fahrbahn blockierte. Leute von außerhalb der Stadt, die zu den Feierlichkeiten auf dem Parkway gekommen waren. Fremde ergossen sich über ihre Straße. War einer von ihnen Kevin? Anne lugte unter ihrer Baseballmütze hervor. Keiner von ihnen sah aus wie Kevin. Sie blieb hinter einem weißen Camaro stehen. Ihr Magen verkrampfte sich. Alles war jetzt anders geworden.

Sie inspizierte die Straße mit neuen Augen. Reihenhäuser, aus deren erstem Stock amerikanische Flaggen hingen, und ein schwuler Nachbar, der seine Regenbogenfahne voller Stolz gehisst hatte. Die Szenerie wirkte absolut normal, obwohl die Straße beidseitig völlig zugeparkt war und nur wenige Autos den weißen Anwohner-Aufkleber vorzuweisen hatten. Auf den Gehwegen drängten sich die Menschen, aber Anne wusste nicht, ob es ihre Nachbarn waren, denn sie kannte ihre Nachbarn nicht.

Ein älterer Mann ging mit einem rehbraunen Mops die Straße entlang; der geschnörkelte Schwanz des Hundes wippte, sein rollender Gang schien unbeschwert. Anne sah es mit einem plötzlichen Stich. Sie machte sich Sorgen um Mel. Sie reckte den Hals und schaute die Straße hinunter. Der Kater war nirgends zu sehen. Ihr Reihenhaus befand sich mitten im Häuserblock; die roten Ziegel waren vor kurzem dampfstrahlgereinigt und der alte grüne Anstrich ihrer Eichentür von einem neutralen Lack ersetzt worden. Der für gewöhnlich vertraute Anblick ließ sie erschauern.

Der Stau löste sich nur langsam auf, und der Camaro vor ihr schob sich eine Wagenlänge vorwärts. Anne fuhr ein paar Zentimeter weiter, erhaschte einen besseren Blick auf ihr Haus. Ein Stück zerrissenes gelbes Plastikband flatterte von ihrem Türknauf. Bei dem Anblick ließ sie sich in den weichen Fahrersitz zurückfallen, mit einem schweren Gewicht auf der Brust. Es war ein polizeiliches Absperrband. Willa musste tot sein. Zu glauben, sie sei es nicht, war nur Verdrängung. Annes Haus war zum Schauplatz eines Mordes geworden.

Anne hielt die Tränen zurück. Sie musste in Erfahrung bringen, wer das getan hatte; ob es Kevin war. Sie hatte während ihrer Zeit bei ROSATO & PARTNER einige Tatorte in Augenschein genommen, und sie beschloss, diesen Tatort wie jeden anderen zu behandeln, auch wenn sie die Miete dafür bezahlte. Möglicherweise war Willa im Haus ermordet worden.

Sie fuhr weiter, sobald sich der Camaro erneut in Bewegung setzte, den Blick auf ihr Haus gerichtet. Es stand kein Cop vor der Tür, der offizielle Besucher notierte, die Schaulustigen vertrieb und dafür sorgte, dass keine Beweise vernichtet wurden. Seine Abwesenheit signalisierte, dass der Tatort schon freigegeben worden war. Das überraschte sie. Für gewöhnlich wurde ein Tatort erst nach zwei oder gar drei Tagen freigegeben.

Der Mustang rollte weiter. Als Anne näher kam, registrierte sie noch etwas Merkwürdiges an ihrem Haus. Passanten standen vor ihrer Tür herum, und als sie weitergingen, konnte Anne sehen, dass auf ihrer Vordertreppe ein paar in Zellophan eingewickelte Blumensträuße lagen. Anne schaute verblüfft aus dem Wagenfenster. Vermutlich waren die Blumen für sie niedergelegt worden, aber von wem? Sie hatte keine Freunde. Sie blinzelte hinter den Brillengläsern, versuchte vergeblich, die Karten aus der Ferne zu entziffern. Sie fragte sich, ob einer der Sträuße von Matt war. Glaubte auch er, dass sie tot war? Sehnte er sich nach ihr? Sie spürte einen Stich, den sie nicht abschütteln konnte.

HUUP! Anne wurde aus ihren Gedanken gerissen und sah in den Rückspiegel. Ein Minivan-Fahrer, der es nicht erwarten konnte, seine Kinder aus dem Wagen zu lassen. Sie fuhr weiter. Anne musste irgendwie in ihr Haus kommen, aber überall waren Leute. Sie durfte jedoch nicht erkannt werden. Da kam ihr eine Idee.

Fünfzehn Minuten später bog Uncle Sam höchstpersönlich um die Ecke auf die Waltin Street. Er trug einen rotweißen-blauen Zylinder, einen falschen Bart aus dichter Baumwolle und eine Scherzsonnenbrille mit überdimensionalem blauen Plastikgestell – dazu einen Jeansrock, Pantöffelchen mit Leopardenmuster und ein T-Shirt mit dem Aufdruck ALLES GUTE ZUM 4. JULI VON EINER UNABHÄNGIGEN FRAU! Das Outfit war in höchstem Maße lächerlich, aber etwas anderes verkauften die Straßenhändler nicht, und außerdem passte es zu den verschrobenen Touristen. Seit Anne die Sachen gekauft hatte, waren ihr schon vier weibliche Uncle Sams begegnet, eine davon in nachgemachten TOD-Slippern.

Anne schlenderte die Straße entlang und blieb vor den Blumensträußen auf ihrer Treppe stehen. Ein Dutzend weiße Rosen lagen auf der obersten Stufe, und sie erkannte die Handschrift. Matt! Reflexartig wollte sie danach greifen, doch dann hielt sie sich zurück. Dafür hatte sie jetzt keine Zeit. Sie ging weiter die Straße entlang, bis sie zu einer kleinen Gasse kam. Dort hielt sie kurz inne. Sie begutachtete die Straße hinter ihrer Scherzbrille. Die Luft war rein.

Anne glitt in die Gasse, die zu den Hinterhöfen der Reihenhäuser ihrer Straße führte. Niemand benutzte jemals diese Gasse, in diesem Jahr war sogar ein Flugblatt verteilt worden, mit dem Vorschlag, die Nachbarn sollten sich zusammentun und aus Sicherheitsgründen die Gasse mit einem Zaun absperren lassen, aber niemand hatte die Anregung aufgegriffen. Es war schwer, die Einwohner von Philadelphia für irgendetwas zu begeistern – abgesehen von der lokalen Profi-Basketballmannschaft, den Sixers.

Anne eilte die Gasse entlang und wäre beinahe über einen moosbedeckten Ziegelstein gestolpert, der an einem Abflussrohr lehnte, konnte sich aber gerade noch an einem Lattenzaun festhalten. Sie rückte ihren Bart zurecht. Wegen des Zylinders duckte sie sich auf dem Weg zu ihrem Haus. Sie hielt Ausschau nach Mel, aber der Kater war nirgends zu sehen. Er war noch nie draußen gewesen, und obwohl er kugelrund genug war, um auch eine Weile ohne Futter zu überleben, fürchtete sie, dass er unter ein Auto geraten könnte. Ein Hund bellte in einem der Häuser, und sie duckte sich noch tiefer, bis sie an die graue Mauer kam, die ungefähr einen Meter achtzig hoch war und ihren winzigen Hinterhof umgab.

Anne legte beide Hände auf die kratzige Mauer und zählte bis drei. Dann hievte sie sich schwungvoll hoch, blieb jedoch oben hängen. Ihre Beine baumelten zu beiden Seiten der Mauer herunter, und sie sah aus wie eine lebensgroße Uncle-Sam-Puppe. Anne biss die Zähne zusammen, schwang sich hinüber und landete unsanft auf den harten Steinplatten ihres Hinterhofs. Die Pantöffelchen rutschten ihr von den Füßen. Sie sammelte sie ein und erstellte auch sonst Inventar. Sie hatte weder Beine, Arme noch einen Nagel gebrochen, also stand sie auf, wischte den Staub von ihrem Rock und lief geduckt zur Hintertür. Ins Haus zu gelangen, würde leichter sein, als in den Hof zu kommen.

Anne tastete in ihrer Rocktasche nach den Schlüsseln.

Mord mit kleinen Fehlern

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