Читать книгу Mord mit kleinen Fehlern - Lisa Scott - Страница 11

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Anne stand im Flur des ersten Stocks, kraulte Mel, um ihn still zu halten, und lauschte den Geräuschen im Erdgeschoss. Es klang nach einer ganzen Gruppe von Menschen, und sie hoffte, dass es nicht die mobile Spurensicherung war. Anne hörte, wie der Lärm des Feiertagsverkehrs durch die offene Haustür drang. Wer immer das Haus betreten hatte, musste noch im Eingangsbereich stehen, wo Willa getötet worden war. Plötzlich erklang eine Männerstimme:

»Für uns war es ziemlich eindeutig, durch das Muster der Spritzer an der Ostwand, hier, und an der Eingangstür. Ganz typisch für eine Schrotflinte. Sehen Sie hier, auf der Milchglasscheibe? Und auf dem Boden. Der Teppichboden.«

Scheiße! Er hörte sich wie ein Cop oder ein Detective an, und Anne zog sich, mit Mel im Arm, von der Treppe zurück. Sosehr sie sich auch wünschte, zur Polizei gehen und ihr alles sagen zu können, würde sie das nie wieder tun. Die Polizei hatte sie auch das letzte Mal nicht zu beschützen vermocht, und sie konnte einfach nicht vergessen, wie der stählerne Lauf des Gewehrs auf sie gerichtet war.

Der Detective fuhr fort: »Die junge Anwältin, Murphy, geht an die Tür. Der Täter schießt zweimal, zwei Schüsse ins Gesicht. Sie fällt in den Eingangsbereich. Der Täter lässt die Waffe fallen und macht sich vom Acker. Er lässt die Haustür offen. Er ist weg. Irgendwo da draußen.«

Oben im ersten Stock wurde Anne übel, und sie umklammerte Mel, diesmal, um sich zu trösten. Sie hatte also mit dem Tathergang recht gehabt, aber es war zu furchtbar, um länger darüber nachzudenken. Die arme Willa.

Jetzt ließ sich eine Frauenstimme vernehmen. »Er ließ die Waffe also fallen? Der Kerl ist kein Dummkopf.«

Anne zuckte überrascht zusammen, als sie die Stimme erkannte. Das ist Bennie Rosato. Was macht sie denn hier? Sie war nie zuvor in Annes Haus gewesen, obwohl sie keine fünf Minuten von hier entfernt wohnte. Natürlich sah sich Bennie die Tatorte aller Mordfälle an, in denen sie die Verteidigung übernommen hatte. Das war der erste Schritt bei jeder Verteidigung. Aber warum war sie jetzt hier?

Dann wieder der Detective: »Ja, er ist schlau. Das Gewehr ist jetzt in der Ballistik. Es wird auf Fingerabdrücke untersucht, aber das kann wegen der Feiertage eine Weile dauern. Es war ja schon haarig, am Feiertagswochenende überhaupt jemanden aufzutreiben. Ich vermute, sie werden nichts finden.«

»Das denke ich auch«, sagte Bennie. »Der Kerl hatte es geplant. Perfektes Timing, perfekte Durchführung.«

»Perfekte Exekution«, ergänzte ein zweiter Mann und lachte plötzlich auf.

»Was haben Sie da gesagt?«, verlangte Bennie zu wissen.

»Das ist nicht komisch«, meinte eine weitere Stimme, die einer Frau gehörte.

Noch eine Überraschung. Das ist Judy Carrier. Also war sie da unten. Als Anne noch lebte, war Judy nie vorbeigekommen; jedes Mal, wenn Anne sie zum Essen einlud, hatte Judy abgelehnt. Und wenn Judy dabei war, dann mit Sicherheit auch Mary – die beiden waren an der Hüfte zusammengewachsen. Anne hätte über die Absurdität des Ganzen beinahe lachen müssen. Bennie, Mary und Judy in meinem Haus? Was bat denn zu diesem plötzlichen Interesse an meinem Leben geführt? Mein Tod?

»Ich will meine Zeit nicht damit verschwenden, Ihnen Manieren beizubringen, Detective«, erklärte Bennie mit eisiger Stimme. »Ich nehme Ihre Entschuldigung an. Aber ich möchte Sie wissen lassen, dass ich mich für Anne Murphy verantwortlich fühle. Sie war meine Partnerin. Sie ist hergezogen, um für mich zu arbeiten, und sie wurde unter meiner Obhut ermordet. Ich habe ihrer Mutter versprochen, dass ich mich um sie kümmern würde, aber ich habe versagt.«

Sie hat es meiner Mutter versprocben? Warum? Und wann? Anne war perplex. Wie hatte Bennie ihre Mutter finden, geschweige denn mit ihr sprechen können? Was war hier eigentlich los?

»Es tut mir Leid, Ms. Rosato ...«

»Nicht Leid genug. Hören Sie: Feiertag hin oder her, Sie finden besser heraus, wer Anne Murphy ermordet hat, bevor ich es tue.«

Im ersten Stock war Anne jetzt vollends durcheinander. Was genau wollte Bennie tun? Und warum? Anne hätte an einer Hand alle Gespräche abzählen können, die sie in dem ganzen Jahr, das sie nun schon für Bennie Rosato arbeitete, mit ihr geführt hatte.

»Und jetzt sagen Sie mir bitte, ob Sie die Nachbarn befragt haben«, verlangte Bennie.

»Sowohl gestern Nacht als auch heute Morgen. Niemand hat gesehen, dass jemand vom Haus wegrannte. Niemand hat überhaupt etwas Verdächtiges gesehen. Alle waren entweder auf der Party am Parkway oder nicht in der Stadt, weil sie der Party am Parkway entfliehen wollten.«

»Würden Sie mir bitte die Details mitteilen?« Von unten hörte man das Rascheln von Papier, und Anne vermutete, dass Bennie ihren Notizblock und der Detective seine Aufzeichnungen herausholten. Anne kam einfach nicht über das hinweg, was sie bisher gehört hatte. Sie hat meiner Mutter versprochen, sich um mich zu kümmern?

»Los geht’s. Hausnummer 2255, Rick Monterosso, der Nachbar zur östlichen Seite, abwesend. Hausnummer 2259, Millie und Mort Berman, die Nachbarn auf der westlichen Seite, ebenfalls abwesend. Das Paar auf der anderen Straßenseite, Nummer 2256, Sharon Arkin und Rodger Talbott, dito. 2253 ging weder gestern Abend noch heute Morgen an die Tür, wahrscheinlich nicht in der Stadt. 2254, Familie Simmons, war im Restaurant Striped Bass zum Essen. 2258, die Tullizens waren am Parkway und kamen erst nach dem Zeitpunkt des Mordes nach Hause.«

»Dann waren also die Nachbarn zu beiden Seiten ausgegangen. Wer hat wegen der Schüsse den Notruf verständigt? Wenn die Tür offen stand, als er sie erschoss, was der Fall gewesen sein muss, dann hat man die Schüsse zweifelsohne in der ganzen Straße gehört. Es ist ja auch keine groβe Straße.«

»Die Leute haben dabei sicher an Knallfrösche gedacht. Wir haben nur einen Notruf erhalten, von einem Mann namens Bod Doods in Hausnummer 2250, Ich habe ihn gestern Nacht noch befragt, und er weiß auch nicht mehr.«

»Aber Sie haben zumindest eine heiße Spur, nicht wahr? Es könnte Kevin Satorno gewesen sein, der Stalker. Das heißt, falls er nicht mehr einsitzt.«

Was?! Woher weiß Bennie von Kevin? Anne hätte beinahe laut nach Luft geschnappt. Sie hatte niemandem in Philadelphia von ihm erzählt, als sie hergezogen war, weil sie die Vergangenheit hinter sich lassen wollte. Es war ihr Geheimnis. Außerdem hatte sie bei dem Einstellungsgespräch mit Bennie kein Wort über Kevin verloren. Sie war scharf auf den Job und wollte nicht wie eine Verliererin dastehen, die sich mit Psychopathen verabredete. Wie hatte Bennie es herausgefunden? Anne war völlig konfus. Mentaler Hinweis: Es ist verwirrend, nach dem eigenen Tod noch am Leben zu sein.

Dann sagte Bennie: »Angesichts dessen, was ich in der Gerichtsakte gelesen habe, ist Satorno der Hauptverdächtige, falls er auf freiem Fuß sein sollte. Er hat schon einmal versucht, sie umzubringen. Der Typ ist durchgeknallt. Ich habe Ihnen die Akte persönlich zustellen lassen. Haben Sie sie gelesen?«

»Natürlich habe ich die Akte gelesen«, erwiderte der Detective unwirsch. »Ich habe auch den zuständigen Staatsanwalt in Los Angeles angerufen. Der Rückruf steht noch aus, aber auch in Kalifornien feiern sie den vierten Juli, Ms. Rosato. Der Mann ist in Urlaub.«

»Das hat man mir auch gesagt, und man wollte mir seine Rufnummer in Hawaii nicht geben. Haben Sie die Nummer?«

»Ich habe nicht danach gefragt. Der Mann ist in Url ...«

»Ich verstehe es nicht. Kevin Satorno ist Insasse eines kalifornischen Staatsgefängnisses. Wie schwer kann es schon sein, ihn ausfindig zu machen?« Bennie lachte höhnisch. »Sie sollten eigentlich wissen, wo er ist, zumindest einen Großteil der Zeit.«

Heiz ihm ordentlich ein, Bennie. Anne fasste neuen Mut. Sie schlich ans Geländer und lugte nach unten, Mel immer noch fest im Arm. Sie sah Bennie Rosato im Wohnzimmer, ein Gewirr aus langen blonden Haaren, die ungezähmt über den Rücken ihres blauen Arbeiterhemdes fielen, das sie zu ausgewaschenen Jeansshorts und ausgelatschten New-Balance-Turnschuhen trug. Ihre Beine waren klasse. Das kam vom Rudern, Bennies Lieblingssportart, trotz des erforderlichen harten Trainings. Im Moment revidierte Anne ihre Meinung über diese Frau, nicht aber über den Sport.

Der Detective war nicht zu sehen, aber Anne konnte ihn hören. »Wenn wir nicht gerade ein Feiertagswochenende hätten, wäre es leicht. Wir wissen, dass er zu vierundzwanzig Monaten verurteilt wurde und im L.A. County eingewiesen wurde, aber er wurde ein paarmal verlegt, und wir sind uns nicht sicher, wo er zuletzt gelandet ist. Er könnte auch auf Bewährung raus sein.«

»Aber Sie hätten doch die Information, wenn er Bewährung hätte – oder entflohen wäre.«

»Noch nicht. Bei einer Bewährung haben wir darüber hinaus das Problem, dass wir erst feststellen müssen, wo genau er einsaß. Wir müssen mit den richtigen Leuten reden, aber die sind alle im langen Wochenende. Auch wenn er geflohen ist, lässt sich das nicht so ohne Weiteres herausfinden.«

Bennie schnaubte. »Das kann ich nicht glauben. Sie können nicht einmal feststellen, ob er geflohen ist?«

»Aus einem Knast in Kalifornien. Glauben Sie es ruhig. Wenn sich irgendein Knallkopf aus einem Staatsgefängnis absetzt, egal in welchem Staat, dann muss jemand seinen Namen in das NCIC eintragen, das National Crime Information Center in Washington. Niemand weiß das, bis der Name eingegeben wird, und er muss von einer Person eingegeben werden, die die Zeit dafür hat und am Feiertagswochenende des vierten Juli arbeitet.« Der Detective schwieg kurz. »Selbst wenn sein Name eingegeben wurde, bekommen wir jeden Tag eine Million solcher Benachrichtigungen. Wir gehen sie nicht alle durch. Dazu haben wir nicht die Zeit. Und auch keine Veranlassung.«

»Jetzt haben Sie eine Veranlassung.«

»Eine Kollegin nimmt sich die Namen gerade vor, aber haben Sie eine Ahnung, von wie vielen Namen wir hier reden? Allein in Philly gib es derzeit 75 000 Abgänge. Und fünfzig von ihnen werden wegen Mordes gesucht.«

»Was sind denn ›Abgänge‹?«, wollte Bennie wissen. »Ist es das, wonach es klingt?«

»Ja. Flüchtige Straftäter. Die bösen Buben, die nach einem Freigang nicht zurückkommen oder sich absetzen, während sie auf Kaution draußen sind. Typen, die nicht zu ihrem Gerichtstermin erscheinen. Alle, die per richterlichem Haftbefehl gesucht werden. Und dieser Kevin Satorno saß nicht mal wegen Mordes ein, nur wegen tätlichem Angriff. Im ganzen Strafsystem ist er ein Niemand. Außerdem ist er nicht mal unser Niemand. Er ist ein kalifornischer Niemand.«

Ein Niemand? Im ersten Stock wurde Anne übel. Sie wusste, dass Kevin zuerst ins L.A. County Jail eingeliefert worden war, aber danach hatte auch sie seine Spur verloren. Schließlich hatte sie ihre Vergangenheit auch hinter sich lassen wollen. Nur dass es jetzt nicht mehr die Vergangenheit war.

»Und was gedenkt Ihre Abteilung zu tun, um Satorno zu finden, falls er auf freiem Fuß ist?«, verlangte Bennie unten zu wissen. »Der Mörder hat offenbar beabsichtigt, Anne zu töten – und nichts weiter, als sie zu töten. Es gab keinerlei Hinweise auf einen Raub oder eine versuchte Vergewaltigung.«

»Die Abteilung kann nicht auf die bloße Annahme hin aktiv werden, dass der Mann frei sein könnte, Ms. Rosato. Diesen Luxus können wir uns nicht erlauben. Es ist ja nicht so, dass wir Personal im Überfluss hätten. Im Center City District haben wir nur vierzig Streifenbeamte, zwanzig im sechsten District und noch mal zwanzig im neunten. Und die haben mit dem Feiertag schon mehr als genug zu tun, darum haben wir den Tatort auch freigegeben. Ich kann sie nicht anweisen, nach einem Kerl zu suchen, der möglicherweise immer noch hinter Gittern sitzt.« Der Detective schwieg kurz. »Sie wissen nicht zufällig, ob Satorno das Opfer in letzter Zeit kontaktiert hat, oder?«

»Nein.« Bennie trat nach links, aus Annes Sichtfeld heraus. »Wisst ihr beide das zufällig? Carrier? DiNunzio?«

Anne beugte sich weiter über das Geländer, und Mel versteifte sich erneut. Er wollte um keinen Preis nach unten, in die Nähe des blutverschmierten Eingangsbereichs. Anne erhaschte einen Blick auf Judy in ihrem heiß geliebten Overall, einem frischen gelben T-Shirt und mit einem zitronengelben Halstuch.

Judy schüttelte den Kopf. »Nein. Tut mir Leid. Ich wusste gar nichts von Satorno, bis du mir heute von ihm erzählt hast.«

Plötzlich unterbrach ein schluckaufartiges Schluchzen die Unterhaltung, ein Geräusch, das so emotional war, dass es in der Öffentlichkeit schon fast peinlich schien. Schlagartig fuhr Bennie herum, ebenso Judy, gerade als ein zweites Schluchzen von rechts erklang, wo Mary stehen musste. Anne konnte nicht anders, als sich weit über das Geländer zu beugen, und was sie sah, schnürte ihr vor Überraschung die Kehle zu:

Mary weinte – eine zierliche, eingefallene Gestalt, tief in Annes Sofa. Sie hatte das Gesicht in den Händen vergraben, und ihre schmalen Schultern bebten unter den Schluchzern. Ihre Haare waren völlig zerzaust, und den Khakishorts und der ärmellosen Bluse mangelte es an der üblichen Makellosigkeit.

»Schon gut, Mary«, tröstete Judy, ging zu ihr und legte einen Arm um ihre Freundin. »Sie kriegen diesen Kerl, du wirst schon sehen.«

»Ich ... kann es einfach nicht begreifen.« Marys Stimme zitterte unter Schluchzern. Ihre Wangen wirkten erhitzt, und auf ihrem Hals zeichneten sich rote Flecken ab. »Ich kann einfach nicht ... glauben, dass das passiert ist. Es ist so furchtbar, dass ... sie umgebracht wurde. Wie sie umgebracht wurde.«

Anne war von den Reaktionen ihrer Kolleginnen ebenso verwirrt wie von ihren eigenen. Mary DiNunzio, die mich nicht mal richtig kennt, weint um mich. Und aus irgendeinem Grund fühle ich mich jetzt verdammt mies.

Bennie ging zu Mary und legte die Hand beruhigend auf deren Schulter. »Mary, vielleicht sollten wir dich in die Kanzlei zurückbringen.«

»Ist schon okay, es geht mir gut.« Marys Schluchzer klangen ab. Aus ihrem Gesicht sprach Schmerz, und sie presste die Handflächen gegen die Wangen, als ob sie sie kühlen wollte. »Aber hier ist überall Blut. Und es ist ihr Blut!«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Judy und strich über Marys Rücken. »Willst du draußen warten? Warum wartest du nicht draußen?«

Bennie drehte sich kurz zu den Detectives um. »Könnten Sie uns ein paar Minuten allein lassen?«

»Klar«, erwiderten sie dankbar und unisono. Gleich darauf ging die Haustür auf, ein Viereck aus Licht tauchte auf dem Wohnzimmerteppich auf, und der Lärm von draußen schwappte herein. Die Detectives schlossen die Tür nicht ganz hinter sich und blieben am Kopfende der Treppe stehen. Gleich darauf roch Anne Zigarettenrauch, der durch die offene Haustür waberte. Sie schlich näher zum Treppenabsatz, und ihr Blick kehrte zu Mary zurück.

»Siehst du es denn nicht, Bennie?« Mary wies mit der ausgestreckten schmalen Hand auf den Eingangsbereich, und Anne sah, wie ihre Finger zitterten. »Alles voller Blut. Und wir drei stehen hier und reden, als ob es nur irgendein Fall wäre. Aber wir sprechen hier von Anne.« Ihre Stimme wurde lauter, überschlug sich vor Angst beinahe. »Anne Murphy wurde hier getötet! Keine Mandantin, sondern eine von uns! Und sie ist tot! Ermordet! Habt ihr beide das vergessen?«

Wau! Auf ihrem Beobachtungsposten war Anne von diesem Ausbruch wie erstarrt. Es sah Mary überhaupt nicht ähnlich, jemanden zu kritisieren, schon gar nicht Bennie und Judy. Die beiden wirkten ebenfalls völlig versteinert.

Judy hörte auf, Marys Rücken zu tätscheln. »Wir wissen, dass es ihr Blut ist, Mary. Das haben wir nicht vergessen. Wir sind hier, um herauszufinden, wer das getan hat, und um ihn dafür zur Verantwortung zu ziehen.«

»Was würde das schon bringen?«, rief Mary. »Wenn wir den Kerl finden, kommt sie dadurch auch nicht zurück. Sie ist tot, und wisst ihr, was? Wir haben sie überhaupt nicht gekannt. Ein Jahr lang haben wir mit ihr zusammen gearbeitet, aber wir haben sie nie richtig kennen gelernt. Ich bin mit Jack nur zwei Monate ausgegangen, aber von ihm wusste ich wesentlich mehr!«

»Wir haben viel zu tun«, verteidigte sich Judy. »Wir hatten gearbeitet. Erst an dem Dufferman-Fall, dann an Witco . Vielleicht bist du deshalb so emotional, wegen deiner Trennung ...«

»Nein, das ist es nicht, es ist wegen Anne! Wegen Murphy . Wie auch immer sie genannt werden will. Genannt werden wollte.«

»Murphy«, bestätigte Judy, aber Bennie schüttelte den Kopf.

»Nein, ich glaube, sie hat das nur übernommen, weil ich sie immer so genannt habe. Nehme ich an. Beim Bewerbungsgespräch hat sie sich als Anne vorgestellt.«

»Ist doch egal!«, platzte Mary heraus. »Es liegt an uns! Wir haben uns keine Zeit für sie genommen! Wir haben es gar nicht versucht. Wir wissen ja nicht einmal, wie sie genannt werden wollte. Sie hat erzählt, sie hätte eine Verabredung für gestern Abend. Hatte sie das wirklich? Und mit wem? Ist er der Mörder? Wir haben kein Ahnung! Und dann stellt sich noch heraus, dass sie auch noch von einem Stalker bedroht wurde, der letztes Jahr versuchte, sie zu töten, und den sie sogar in den Knast gebracht hat! Wir hatten davon keinen blassen Schimmer!«

»Murphy hat ein Geheimnis daraus gemacht, sie war immer sehr auf Privatsphäre bedacht ...«, wandte Judy ein.

»Was ist mit der Eingabe vor Gericht, Judy? Daraus hat sie kein Geheimnis gemacht. Sie hat einen Stripper ins Gericht geschleust, und wir mussten das aus den Nachrichten erfahren! Wahrscheinlich wollte sie uns davon erzählen, als sie gestern Nachmittag in mein Büro kam, aber wir haben sie nicht zu Wort kommen lassen!« Marys Augen wurden wieder feucht, aber sie blinzelte die Tränen weg. »Angeblich sind wir die Kanzlei mit dem weiblichen Touch. Was für ein Witz! Wir helfen uns nicht einmal gegenseitig. Wo liegt denn eigentlich der Unterschied zu anderen Kanzleien? Ob Männer oder Frauen, letzten Endes verhalten wir uns alle wie Anwälte.«

»Du hast ganz einfach Schuldgefühle, Mare.«

»Stimmt! Ich fühle mich total schuldig! Und weißt du was: Dazu habe ich auch allen Grund! Und du ebenfalls!« Mary drehte sich zu ihrer besten Freundin um, die neben ihr auf der Couch saß. »Soll ich dir mal die Wahrheit sagen, Jude? Du hast Murphy nie gemocht. Anne. Wie auch immer. Du hast sie nie leiden können. Darum ist es dir jetzt auch völlig egal.«

Hoppla. Anne war schockiert. Sie schämte sich dafür, zu lauschen, aber sie konnte nicht anders.

»Es ist mir nicht egal!«, protestierte Judy, aber Mary war außer Rand und Band.

»Ist es dir doch! Die ganze Zeit, als ich krank war, bist du ihr aus dem Weg gegangen. Mehr als einmal hat sie dich zum Mittagessen eingeladen, aber du hast immer abgelehnt. Du hast sie von Anfang an nicht gemocht. Und weißt du auch, warum? Weil sie so umwerfend war! Du warst immer der Ansicht, dass sie zu viel Make-up und zu viel Lippenstift trug.«

Sie reden. über meinen Lippenstift? Anne mochte die Ironie des Ganzen kaum glauben.

»Sie hat ja auch immer zu viel Make-up aufgelegt!« Auch Judy war jetzt krebsrot im Gesicht. »Das heißt noch lange nicht, dass es mir egal ist ...«

»Warum haben wir uns so verhalten? Ich wette, es hat mit unserer Biologie zu tun, dass wir ständig mit anderen Frauen um Männer wetteifern, selbst wenn keine Männer in der Nähe sind. Das ist doch krank! Und wann werden wir uns endlich davon frei machen?«

»Es war nicht nur ihr Aussehen ...«

»Du hast gesagt, sie würde ihr Aussehen benutzen!«, brach es aus Mary heraus. »Das hast du gesagt, Judy! Dass Anne Chipster nie bekommen hätte, wenn sie nicht so heiß aussehen würde.«

Meine Güte! Anne konnte nicht glauben, was sie da hörte. Das war ja auch überhaupt nicht für ihre Ohren bestimmt, und plötzlich wollte sie es auch nicht mehr hören. Aber dann doch wieder.

»Das stimmt ja auch!«, brüllte Judy zurück. »Wie kommt denn eine frisch gebackene Anwältin an so einen Fall? Der Mandant kannte sie vom Studium? Ach bitte! Wach doch endlich auf, Mary. Hier die Tatsachen: Gil Martin hätte Anne niemals beauftragt, wenn sie nicht so ausgesehen hätte, wie sie aussah.« Judys Kopf schnellte zu Bennie herum, das Halstuch flatterte. »Du hast dir doch auch Gedanken gemacht, Bennie. Warum hat Gil Anne beauftragt? Ausgerechnet die Jüngste von uns allen? Die Anwältin mit der geringsten Erfahrung? Wie viele Fälle hat sie schon bearbeitet? Einen?«

Bennie hob beschwichtigend die Hände. »Beruhigt euch, alle beide.« Ihre Stimme klang so gelassen wie die eines Richters. »Mary, du hast Recht. Wir hätten alle etwas freundlicher zu Anne sein können, aber das waren wir nicht. Wir hatten viel zu tun – wie Judy schon sagte –, doch das ist keine Entschuldigung.« Bennie beugte sich vor, berührte Marys Schulter und schüttelte sie ein wenig. »Doch es hilft Anne jetzt auch nicht, wenn wir uns gegenseitig Vorwürfe machen. Wir tragen an ihrer Ermordung keine Schuld.«

»Wie kannst du so sicher sein?« Mit trauervoller Miene sah Mary zu Bennie auf. »Wer weiß, ob es nicht doch einen Unterschied gemacht hätte? Wenn wir mehr mit ihr geredet hätten, auch nur einmal mit ihr zum Essen gegangen wären, vielleicht hätte sie uns dann von diesem Stalker erzählt. Wenn wir uns angefreundet hätten, dann wären wir gestern Nacht vielleicht bei ihr gewesen, als er kam. Wenn wir zusammen gewesen wären, würde sie jetzt vielleicht noch leben.« Mary standen schon wieder Tränen in den Augen, und selbst Judy sah tief betroffen aus.

»Das ist richtig«, sagte sie, und ihr Halstuch hing schlaff herab. »Du hast absolut Recht.«

Ich halte das nicht länger aus. Anne konnte nicht zusehen, wie sie sich so schlecht fühlten. Es war nicht allein ihre Schuld. Mit Frauen konnte sie einfach nicht umgehen. Sie hatte immer jede Menge Verabredungen, aber nie Freundinnen. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie sich selbst immer nur als Lucy gesehen, ohne Ethel.

»Ich will nichts vorgeben«, erklärte Bennie. »Wir haben uns Anne gegenüber nicht richtig verhalten, aber jede von uns kann um Anne trauern, wie sie es möchte. Das Einzige, was wir jetzt noch tun können – so finde ich –, ist, den Kerl zu finden, der sie ermordet hat.« Sie klopfte Mary abermals auf die Schulter. »Ich will mich hinten umsehen. Du hältst hier die Stellung, einverstanden? Carrier, du bleibst bei ihr.«

»Ich brauche ein Kleenex.« Mary erhob sich langsam, die Hand vor dem Gesicht, und sah sich im Wohnzimmer um. »Sieht jemand eine Schachtel?«

Vielleicht kann ich ihnen ein Zeichen geben, dass ich hier bin. Anne musste doch in der Lage sein, ihre Aufmerksamkeit zu wecken, ohne dass die Cops es merkten. Sie sah zur Haustür. Die beiden Detectives standen noch draußen, und irgendetwas auf der Straße hatte ihre Aufmerksamkeit geweckt. Anne beschloss, es zu wagen. Sie schob Mel auf ihren rechten Arm, nahm ihren rot-weiß-blauen Zylinder ab und schwenkte ihn wie wild.

»Mary! Mary!«, rief sie mit einem Bühnenflüstern, aber die Frauen sahen nicht nach oben. »Mary!«, rief sie erneut, doch Mary war mit ihrer laufenden Nase beschäftigt, und Judy suchte nach einer Kleenex-Schachtel. Die Detectives bemerkten, dass sie allmählich wieder auftauchen konnten, schnippten ihre Kippen auf den Gehweg und traten wieder ins Haus. Nein!

»Ich kann hier nirgends ein Kleenex entdecken«, verkündete Judy, die gerade auf dem Fernsehgerät nachsah. »Es muss doch ein Badezimmer geben. Nimm Toilettenpapier. In diesen Drei-Zimmer-Einheiten ist das Bad für gewöhnlich oben an der Treppe.«

Das Badezimmer! Ja! Das ist hier! Hinter mir!

»Gute Idee«, sagte Mary und ging in Richtung Treppe.

Ohne noch einmal darüber nachzudenken, drehte Anne sich um, versteckte sich im Badezimmer und schloss die Tür.

Mord mit kleinen Fehlern

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