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ОглавлениеAm Montagmorgen trat Bennie aus dem Aufzug und blieb gleich darauf wie erstarrt stehen. Pakete füllten den Empfangsbereich der Kanzlei, Dutzende von Paketen auf dem Teppich, auf Tischen und Stühlen aufeinander gestapelt wie Bauklötzchen. Sie begann zu zählen. Es mussten mindestens dreißig sein. Was hatte das zu bedeuten? Sie drückte Zeitung, Handtasche und Aktentasche an sich und ging zum nächsten Paket, um den Adressaufkleber zu lesen. Inhalt: HÄNGEMATTE, REINES LEINEN (2). Empfänger: Benedetta Rosato. Wie bitte?
Völlig verwirrt ging sie zum nächsten Paket und las, was auf der eingeschweißten Rechnung stand: PULLOVER, KASCHMIR (2). Sie hatte keine Kaschmirpullover bestellt. Sie ging zu einem langen, schmalen Karton mit dem Aufdruck eines französischen Gartengeräteherstellers. KLAPPSPATEN, ÖLGEHÄRTET (2). Und wieder als Empfänger: Benedetta Rosato.
Erst als die Sekretärin, Marshall Trow, auftauchte, hatte Bennie endlich begriffen, was passiert war. Sie sah der helläugigen jungen Frau im blauen Umstandskleid mit gerunzelter Stirn entgegen. »Ist das zu fassen? Verfluchte Scheiße.«
»Hast du dein Anti-Fluch-Training schon beendet?«
»Verdammt noch mal, ja! Es sind meine Kreditkarten, verstehst du? Wer immer es ist, der jetzt meinen Terminplaner mit sich rumträgt, muss die Kreditkarten benutzt haben, bevor wir sie haben sperren lassen.«
»Stimmt, aber reg dich nicht auf. Die Kosten können sie dir nicht aufbrummen. Ich habe ein paar von diesen Firmen angerufen, und sie haben bestätigt, dass deine Karten für die Bestellung benutzt worden sind. Du musst dich als Eigentümerin der Karten mit ihnen in Verbindung setzen. Ich hab dir eine E-Mail geschrieben, dass du es sofort machen sollst. Hast du sie nicht bekommen?«
»Tut mir Leid, Marsh. Ich hatte keine Zeit, meine Mails zu checken.« Sie hatte die ganze Zeit gearbeitet. Sie hatte sich nicht einmal einen neuen Terminplaner gekauft. Ihr ganzes Geld, fünfzig Dollar, die sie zu Hause im Schubfach mit ihrer Unterwäsche aufbewahrte, hatte sie heute Morgen hastig in einen Plastikbeutel gesteckt. »Ich hatte keine Zeit für irgendwas.«
»Ich rufe die Polizei an, und dann soll die Post das alles wieder abholen. Und dann werde ich mich um einen neuen Führerschein für dich kümmern.«
»Danke.« Aber etwas Wesentliches war Bennie immer noch unklar. »Warum kauft jemand dieses ganze Zeug mit meinen Kreditkarten und schickt es dann in mein Büro? Warum behält er es nicht? Was soll das?«
»Irgendein schlechter Scherz, wahrscheinlich.« Marshall wickelte sich das buschige Ende eines ihrer hellbraunen Zöpfchen um den Zeigefinger. »Jemand denkt, das ist lustig. Wie wenn man zwanzig Pizzas geliefert bekommt. Jemand macht sich über dich lustig.«
»Dann lass ihn lachen.« Bennie machte eine energische Handbewegung. »Ich muss anfangen. Wie war dein Wochenende?«
»Danke, bestens. Jim und ich haben gefaulenzt, aber das Baby hatte keine Lust, sich uns zum Vorbild zu nehmen. Hat in einem fort gestrampelt. Es sind nur noch zwei Wochen.« Marshall rieb sich ihren sehr schwangeren Bauch. »Das mit der Gruppenklage ist toll. Wir spielen jetzt bei den ganz Groβen mit, oder?«
»Wir versuchen’s wenigstens.« Bennie hatte die Klageschrift für St. Amien letzte Nacht beendet, sie musste sie noch heute Morgen einreichen. Um elf wollte sie noch einmal alles mit ihrem Mandanten durchgehen. Sie konnte es kaum erwarten, denn sie wollte die Erste sein mit ihrer Klageschrift. »Marshall, kannst du die Formulare für die Anmeldung der St.-Amien-Klage fertig machen?«
»Sie liegen schon auf deinem Tisch, du musst nur noch unterschreiben.«
»Eine wirklich erstaunliche Frau«, sagte Bennie in ehrlicher Anerkennung. Sie wusste nicht, ob Marshall nach der Geburt des Kindes zu ihr zurückkommen würde. Wenn nicht, würde es für die Kanzlei ein empfindlicher Verlust werden – wenn es die Kanzlei dann noch gab. »Jetzt muss ich nur noch die hundertfünfzig Dollar für die Anmeldegebühr auftreiben.«
»Ich kann dir die Kaffeekasse anbieten. Drei Dollar und zwei Cents.«
»Du tust wirklich alles für mich. Willst du mich heiraten?«
»Nein.«
»Nur weil ich gehe wie ein Mann?«
»Was?« Marshalls hübsche Stirn zog sich in Falten.
»Ach, nichts. Sonstige Neuigkeiten? Hat jemand angerufen?«
»Noch nicht.« So rücksichtsvoll drückte Marshall aus, dass sich in der Außenwelt kein Mensch mehr für diese Kanzlei interessierte. »Wer gibt die Anmeldung ab?«
»Ich. Judy und Anne sollen weiter für die Gruppenklage recherchieren, und Mary muss sich mit Brandolini beschäftigen. Also mach ich es. Du kennst meinen Wahlspruch.«
»Wenn der große Beutel kommt, lass den kleinen links liegen?« Marshall lächelte spitzbübisch. Sie war intelligent und loyal und hatte Humor, Fähigkeiten, die Gott für Anwaltssekretärinnen reserviert hatte, weil diese sie mehr als jeder andere brauchten.
»Nein. Wenn du mehr Zeit als Geld hast, mach es selbst. Ich schau mir jetzt meine Mails an, dann gehe ich.« Bennie machte sich auf den Weg in ihr Büro, hielt dann aber inne. Marshall musste mit den anderen gesprochen haben. Sie hatten ihr gesagt, wie der gestrige Abend verlaufen war. Sie war das Herz der Kanzlei. Bennie drehte sich noch einmal um. »Marshall. Du weißt alles – ich meine, wie es um uns steht, aber die anderen wissen es nicht so genau. Bis gestern Abend waren sie völlig ahnungslos. Sie waren ziemlich erschrocken, glaube ich, als ich ihnen ein paar Details angedeutet habe.«
»Ziemlich. Ja.« Marshall schnaubte. »Heute Morgen haben sie noch richtig gezittert. Aber sie werden sich schnell erholen.«
»Wie schlimm war es wirklich? Hast du Beruhigungspillen kaufen müssen?«
»Nein. Sie sind schon drüber weg. Es ist gut, dass du es ihnen gesagt hast. Sie sind alt genug und sollten wissen, wie groß der Druck ist, unter dem die Kanzlei steht.« Marshalls Augenbrauen zogen sich zusammen. »Aber um dich mache ich mir Sorgen. Sie haben gesagt, dass du nicht mit ihnen essen gehen wolltest, dass du völlig außer dir warst, als du gegangen bist. Ist alles in Ordnung mit dir, Bennie? Du siehst müde aus.«
»Ich hab bis spät in der Nacht gearbeitet, und ich war nicht außer mir. Ich muss diese Klage einreichen. Es geht mir gut.«
»Du kannst nicht alles allein machen.« Marshall schüttelte den Kopf. »Was wirst du tun, wenn ich demnächst ein echtes Baby habe, um das ich mich kümmern muss?«
»Keine Ahnung«, erwiderte Bennie.
Eine halbe Stunde später machte sie sich auf den Weg zum Gerichtsgebäude, das wie ein Monolith aus Backstein zwischen den alten Häusern und dem neuen Verfassungszentrum aufragte. Anwälte, Gerichtsbedienstete, Geschworene und Richter strömten an diesem Vormittag in das Gerichtsgebäude. Es war ein typischer geschäftiger Montagmorgen, an dem neue Jurys bestellt wurden. Die einst großzügige, mit Marmor verkleidete Lobby war nach den neuesten Sicherheitsmaßnahmen in einzelne Korridore unterteilt worden, die die Besucher zu den Metalldetektoren leiteten. Bennie reihte sich in eine der Schlangen ein, die auf der Straße vor dem Gebäude begann, und wollte gerade in eine schnellere Kolonne überwechseln, als sie eine Hand auf ihrem Arm spürte. Es war die Richterin Kolbert. Heute wirkte sie streng in einem gepflegten Tweedkostüm, mit einer dicken Aktentasche in der Hand.
»Lange nicht gesehen, Frau Vorsitzende«, begrüßte Bennie sie. Die Anwälte vor ihr in der Schlange warfen ihr neidische Blicke zu. In Justizkreisen galt die persönliche Bekanntschaft mit Richterin Kolbert so viel wie die mit Madonna unter den Freunden der Popmusik.
»Guten Morgen, Bennie«, antwortete die Richterin, und die Falten in ihrem Make-up vertieften sich. »Ihr Kopfweh heute Morgen muss enorm gewesen sein.«
»Nein, nein. Ich hatte kein Kopfweh. Warum sagen Sie das?«
»Wegen gestern Nacht.« Die Richterin, nach Shalimar und Verärgerung riechend, beugte sich zu ihr. »Sie haben ganz schön getankt, in diesem Restaurant. Und Sie haben kein Hehl daraus gemacht.«
»Was?«, fragte Bennie überrascht. »Ich habe doch nur ein Glas Wein getrunken!«
»Bitte? Sie enttäuschen mich. Richter Eadeh hat mir gesagt, dass er Sie gesehen hat, an der Bar. Sie haben ziemliches Aufsehen erregt. Er sagte, man hat Sie bitten müssen, das Lokal zu verlassen.«
»Das stimmt nicht!« Bennie fühlte sich, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht erhalten. Der Anwalt vor ihr drehte sich um. Er wollte sehen, wer sich da vor Madonna zum Narren machte. »Niemand hat mich rausgeworfen! Wovon reden Sie?«
»Ich werde nicht mit Ihnen darüber streiten.« Die Richterin winkte einer Gruppe von Anwälten zu, die gerade vorbeikam, wandte ihre Aufmerksamkeit dann wieder Bennie zu. Mit einem leichten Zischen flüsterte sie: »Ich rate Ihnen zu mehr Vorsicht in der Öffentlichkeit. Ich weiß, dass Sie frei hatten an diesem Abend, genauso wie wir, aber wirklich, jeder hat Sie bemerkt. Sie sind schließlich bekannt, und Sie repräsentieren unsere Berufsgruppe.«
»Aber – es stimmt nicht, niemand hat mich -«
»Richter Eadeh hat Sie gesehen, und auch Richter Sherman. Wollen Sie sagen, dass die beiden lügen?«
Auch Richter Sherman? »Nein, natürlich nicht, aber Sie müssen sich geirrt haben. Es waren so viele Leute an der Bar. Vielleicht war es jemand, der aussah wie ich. Aber ich war es nicht, das schwöre ich Ihnen!«
»Bennie, das sage ich Ihnen jetzt in aller Freundschaft. Wenn Sie ein Alkoholproblem haben, sollten Sie sich behandeln lassen. Und jetzt muss ich gehen.« Die Richterin drehte sich auf dem Absatz ihrer Lackpumps um und verschwand.
Bennie stand da wie erstarrt. Ihr Gesicht brannte. Wovon hatte die Richterin eigentlich gesprochen? Sie hatte nicht mehr als ein Glas Rotwein getrunken. Sie hatte keine Szene gemacht. Sie war nicht hinausgeworfen worden. Die Schlange bewegte sich vorwärts, und sie bewegte sich mit wie ein Roboter. Sie begriff es einfach nicht. Es war voll gewesen in diesem Lokal. Vielleicht hatte irgendjemand sich schlimm aufgeführt, und die Richter hatten diese Person mit ihr verwechselt. Vielleicht war es jemand, der ihr ähnlich sah. Das musste es sein. Doch was konnte sie dagegen tun? Zu jedem einzelnen Richter gehen und die Sache erklären? Entschuldigen Sie, aber ich bin wirklich keine Alkoholikerin?
Bennie passierte die Sicherheitsüberprüfung, schob Aktentasche und Handtasche durch das Durchleuchtungsgerät und zeigte geistesabwesend ihren Gerichtsausweis. Es musste eine Verwechslung gewesen sein, ganz einfach. Am besten, sie tat gar nichts. Sie konnte nur beten, dass St. Amiens Klage nicht vor einem Richter verhandelt wurde, der glaubte, sie brauche die Hilfe der Anonymen Alkoholiker. Denn dann wäre alles, was sie machte, für die Katz.
Bennie fuhr mit der Rolltreppe in den zweiten Stock, und als sie den mit einem blauen Teppich belegten Treppenabsatz erreichte, hatte sie eine neue Theorie. Schon vorher war der Gedanke in ihr aufgetaucht, aus heiterem Himmel: Vielleicht war es jemand, der ihr ähnlich sah. Denn es gab jemanden, der ihr ähnlich sah. Es war möglich, dass Alice, ihre Zwillingsschwester, nach Philly zurückgekommen war. Sie sahen gleich aus, aber Bennie hatte Alice nicht mehr gesehen, seit diese vor zwei Jahren die Stadt verlassen hatte. Und in Anbetracht von Alices Lebensstil hatte sich Bennie manchmal gefragt, ob sie überhaupt noch lebte. Alice hatte sich keine Zwillingsschwester gewünscht, und auch Bennie hätte gern auf Alice verzichtet – nachdem sie sie kennen gelernt hatte. Die beiden Frauen waren nicht zusammen aufgewachsen. Eine von ihnen war Anwältin geworden, die andere hatte die Laufbahn einer Kriminellen eingeschlagen. Bei einer Verhandlung vor Gericht, als Bennie Alice wegen eines Morddelikts verteidigte, war alles ans Licht gekommen. War Alice zurückgekehrt? Und warum sollte sie gestern Abend in diesem chinesischen Restaurant gewesen sein?
Bennie ging zerstreut die Korridore des Gebäudes entlang, durch ein Labyrinth von hellen weißen Sälen und an der mit Kinoplakaten gepflasterten Tür des gerichtlichen Vollstreckungsbeamten vorbei. Kevin Costner als Wyatt Earp im Wilden Westen. Offensichtlich hatten noch andere Leute Schwierigkeiten mit der Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Bennie ging weiter. Ihre Gedanken rasten. Es war doch nicht möglich, dass es Alice gewesen war in dem Restaurant gestern Abend, oder? Sie hatte sie nicht gesehen! Und sicher hätte sie es bemerkt, wenn ihre Doppelgängerin an einem Tisch über einer Schale mit Dim Sum gesessen hätte. Die Sache schien äußerst unwahrscheinlich zu sein. Die Theorie war nicht stichhaltig. Alice hatte in der Stadt nichts zu tun, und sie hatte gesagt, dass sie nie zurückkäme. Die Richter hatten sich einfach geirrt. Das taten sie dauernd, besonders, wenn sie Entscheidungen fällten, die nicht in Bennies Sinn waren. Sie versuchte, darüber zu lachen, aber sie fühlte sich nicht wohl dabei.
Sie erreichte das Vorzimmer des Distriktsgerichts und stieß die Doppeltüren auf, die in den großen Raum führten. Es herrschte reges Leben und Treiben. Dem Eingang gegenüber befand sich eine lange Theke mit Resopalplatte, dahinter arbeiteten etwa fünfzig Gerichtsbedienstete und Rechtspfleger. Sie trugen Akten hin und her oder bearbeiteten Schriftstücke in ihren abgeteilten Nischen, an deren Wände amerikanische Fahnen und Kalender hingen. Bennie wurde sich immer wieder der Tatsache bewusst, dass auch der umfangreichste Prozess mit einer ganz einfachen Klage begann. Jemand reichte sie ein, jemand anderes nahm sie entgegen, stempelte sie ab und übergab sie einem Dritten in einer schwarzen Robe. Die Angestellten in diesem Vorzimmer mit ihren karierten Hemden und verblichenen Jeans waren für das Rechtssystem ebenso unabdingbar wie die Leute in den schwarzen Roben, und Bennie hatte im Lauf der Jahre zu vielen dieser Angestellten ein persönliches Verhältnis entwickelt. Sie wartete in der Schlange an der Theke und zwang sich dazu, die peinigenden Gedanken an Alice vorerst beiseite zu schieben.
»Hallo, Joe«, sagte sie, als sie an der Reihe war. Joe Grimassi begrüßte sie mit einem Lächeln. Er war fünfundzwanzig, trug ein gut gebügeltes, blaues Hemd und Khakihosen und nahm nach Dienstschluss an einem juristischen Fortbildungsprogramm teil.
»Hi, Bennie. Wie geht’s?«
»Gut.« Sie holte die Mappe mit der Klageschrift aus ihrer Aktentasche und legte den Scheck für die Anmeldegebühr auf den Tisch. »Wie ist die Zivilrechtsprüfung gelaufen?«
»Letztes Semester? Ich hab eine Eins gekriegt. Nochmals danke für Ihre Hilfe. Ich weiß das zu schätzen.«
»Gern geschehen. Ich weiß, wie vertrackt diese Zivilrechtsfälle sind.«
»Wenn ich Sie nicht gehabt hätte, wäre ich bestimmt durchgefallen. Und was bringen Sie mir heute?« Er streckte die Hand aus, und Bennie gab ihm die Dokumente.
»Eine Gruppenklage. In meinem hohen Alter zum ersten Mal. Ich hoffe, ich beiße mir nicht die Zähne daran aus.«
»Ich kenne diesen Beklagten.« Joe nickte und überflog die Papiere. »Ich hab gehört, dieser Fall wird ein Monstrum. Wir hatten letzte Woche schon vier Klageschriften in derselben Sache.«
Was? »Sie machen Witze. Schon letzte Woche? Von wem? Wer...«
»Ach, die üblichen. Kerpov, Brenstein, Quinones und die Kanzlei von Linette. Linette hat sich als Erster angemeldet, klar.«
»Ich hätte es wissen sollen.« Bennie gab sich in Gedanken eine Kopfnuss. Und sie hatte sich eingebildet, sie alle überholen zu können!
»Diese Gruppenklage-Cracks wissen, wann sie Gas geben müssen. Vor allem, wenn es sich um eine so gigantische Sache handelt. Da geht’s nicht um Peanuts.« Joe beugte sich verschwörerisch über die Theke. »Das wissen Sie jetzt nicht von mir, Bennie, aber ich hab gehört, dass Bill Linette sich als federführender Anwalt der Klägergruppe hat eintragen lassen.«
»Als federführender Anwalt der Gruppe?« Bennie konnte es nicht glauben. Bill Linette war der Superstar aller Gruppenanwälte. Seinen Spitzname »Bull« hatte er bekommen, weil er nie locker ließ und nie nachgab. »Wie geht das? Ich habe doch den wichtigsten Kläger, Robert St. Amien.«
»Linette sieht das nicht so. Sein Bote hat geplaudert. Ich hab den Namen seines Mandanten vergessen.« Joe legte die Papiere beiseite, füllte eine Quittung über die bezahlte Gebühr aus und gab ihr die Fallnummer. »Sieht aus, als gäbe es zwischen dir und Big Bull ein paar kleine Meinungsverschiedenheiten. Duell mit einem Prominentenanwalt. Gib ihm von mir einen Tritt in den Hintern, ja?«
»Darauf kannst du wetten, Joe.« Bennie fühlte ein Kribbeln in der Bauchgegend. »Hol mir bitte die Kopie von Linettes Klageschrift.«
»Glaub mir, es war kein bekannter Name. Und er hat nicht mehr als zehn Minuten gebraucht, um sie zu verfassen, wenn überhaupt.« Joe ging zu einem Tisch in der Nähe, hob einen Stapel Akten hoch und zog eine Mappe heraus. »Da ist sie. Du kennst die Vorschriften. Gib sie dann an die Leute vom Kopierdienst weiter.«
»Sie war noch nicht beim Richter, oder? Bitte, sag nein.« Bennie brauchte Zeit. Zeit zwischen ihrer angeblichen Trunkenheit in der Öffentlichkeit und der Zulassung der Klage, aber ein Blick auf die Mappe sagte ihr, dass Zeit jetzt nichts mehr nützte. RICHTER KENNETH B. SHERMAN. Sherman, der gestern Abend Geburtstag gefeiert hatte, der sie gemocht hatte, bis er herausgefunden hatte, dass sie gern ein Gläschen über den Durst trank. »Vielen Dank, Joe«, sagte sie und machte dem nächsten Anwalt in der Schlange Platz.
Auch vor dem Kopierdienst wartete eine lange Schlange. Bennie stellte sich an und öffnete die Mappe. »Mayer vs. Verband der Hersteller optischer Linsen in Pennsylvania« lautete die Überschrift, und ihr Magen zog sich zusammen. Einem gewissen Herman Mayer war bereits die Stellung des Hauptklägers zuerkannt worden, wenigstens behauptete das der Text. Sie überflog ihn, während sie wartete, und Ärger stieg in ihr hoch. Die Klageschrift war nur drei Seiten lang, es wurde kaum juristisch argumentiert, sondern nur flüchtig dargelegt, warum es sich um eine Gruppenklage handelte und was der Grund für die Klage war. Keine Details, keine Argumente, keine Daten, keine Anfechtungen von Behauptungen. Es war keine Klageschrift, sondern ein schlechter Witz.
Am Ende des Textes stand die Klagesumme in Blockbuchstaben. Sie musste die Zahlen drei Mal lesen, bevor sie glaubte, was sie da schwarz auf weiß vor sich sah: SIEBZIG MILLIONEN DOLLAR. Sie kniff sich in den Arm. Siebzig Millionen Dollar! Mayers Fall konnte niemals so viel wert sein! Er hatte keine Fabrik gebaut wie St. Amien. Die Summe lag außerhalb jeder Norm. Es war eine absolute Kamikazeforderung. Kein Wunder, dass Linette sich so beeilt hatte mit der Anmeldung. Seine Gebühr von dreißig Prozent der Summe war immer noch fantastisch viel Geld. Sie fing erst gar nicht mit dem Rechnen an. Der Versuch allein nahm ihr den Atem.
»Hey, Lady«, sagte eine barsche Stimme hinter ihr. Es war ein Bote, der von einer der großen Kanzleien kam. »Wollen Sie das jetzt kopieren lassen oder nicht?«
»Ja. ’tschuldigung.« Siebzig Millionen! Noch immer ganz verdattert, trat Bennie vor und kramte in ihrer Handtasche nach Kleingeld für die Kopien, fünfzig Cents pro Seite. Sie musste unbedingt eine neue Geldbörse kaufen. Aber sie kam einfach nicht über die Schadenssumme hinweg. Siebzig Millionen Dollar! »Das ist eine Menge Kies«, hörte sie sich sagen.
»Fünfzig Cents, ja, das ist eine Menge«, sagte der Bote zustimmend.
Bennie kehrte mit den Kopien zu Joe zurück, gab ihm die Mappe mit dem Schriftsatz und verließ das Gerichtsgebäude mit raschen, energischen Schritten. Ihre Stimmung wurde nicht besser. Es war wieder ein ungewöhnlich schöner, milder Tag, aber sie bemerkte nichts davon. Sie hatte nichts gegessen und war nicht hungrig. Als sie das Gebäude ihre Kanzlei betrat, war sie erregt und voller Tatendrang, aber als sie oben aus dem Aufzug trat, blieb sie wie angewurzelt stehen.
Sie wusste sofort, um was es sich handelte.