Читать книгу Lebenslänglich - Lisbeth Herger - Страница 11
Als Hauswart unterwegs
ОглавлениеDie Weichenstellung dazu verdankt er einer Annonce, die er zufällig entdeckt, «Wohnung mit Hauswartspflicht». Das klingt für Robi Minder mit seinen Stressbelastungen interessant. Denn als Hauswart kann er seine Arbeit selbstständig einteilen und ohne Chef agieren, kann sich, wenn die Kontakte mit Mieterinnen und Mietern ihm wegen seiner Sozialphobie Kopfschmerzen bescheren, in die Gartenarbeit oder auf eine nächste Liegenschaft zurückziehen. Das sind, zusammen mit der Aussicht auf eine grössere Wohnung, eine Menge Vorteile. Robi Minder bewirbt sich, und es klappt. Ein erster Schritt seiner Rückkehr in eine bürgerliche Berufswelt. Doch die Angst vor Menschen ist nicht kleiner geworden. Und die Mietergespräche werden tatsächlich zu einer Qual, die bereits bei der Planung beginnt. Sie treiben ihm den Schweiss auf die Stirn und in den Nacken, die Hände werden dabei fahrig, und die Formulare verkehren sich in widrige Gegenspieler bei seinem Kampf um den Schein souveräner Ruhe. Manchmal hat Robi Minder eigentliche Panikattacken. Undenkbar ist für ihn ein gemütlicher Kaffeeschwatz mit einem Handwerker oder einer Mieterin, zu sehr fürchtet er den Verlust der Kontrolle über seine zitternden Hände, die den Kaffee verschütten, noch bevor die Tasse am Mund ist, oder böse Zungen in der Verwaltung und Mieterschaft, die ihm etwa Faulheit vorwerfen könnten.
Robi Minder, der Hauswart, gerät mehr und mehr in einen Dauerstress, was zu schlimmen Muskelschmerzen führt. Äusserlich gibt er sich ruhig und gewissenhaft und schafft es, in seiner Rolle vollkommen zu überzeugen. So sehr, dass man ihm schon bald weitere Liegenschaften zur Obhut anvertraut. Die neuen Aufträge sind ihm, trotz wachsender Belastung, hoch willkommen, denn an seinem geliebten Pokertisch machen sich neuerdings Männer aus fremden Kulturen breit, die das regelkonforme Spiel durch dreiste Bandentricks verdrängen. Nach zwanzig Jahren verabschiedet sich Robi Minder für immer von dem verrauchten Hinterzimmer mit den Glück bringenden Karten und den gewinnträchtigen Geldbündeln. Les jeux sont faits.
Die zusätzlichen Liegenschaften im Portfolio des Hauswarts bringen zwar mehr Geld. Aber auch mehr Stress und weitere Ängste. Die nun leider vor der eigenen Wohnungstür nicht mehr haltmachen. Dort also, wo Robi Minder sich mit Frau und Kind gut eingerichtet hat, in einem kleinen Nest voller Fürsorge. Die drei bleiben auf sich selbst zurückgeworfen. Für die Pflege von Freundschaften bleibt wenig Zeit, die Verwandten sind fern oder unerreichbar. Sie leben im Bündnerland, Schwester Elisabeth ist in Frankreich. Mit seiner Mutter verbindet den ehemaligen Heimbuben nur mehr ein loses Band, zudem stirbt sie früh, an kaputt gerauchter Lunge. Und der Vater, inzwischen als Vertreter von Just-Bürsten unterwegs, hat sich in Depressionen verloren und ist fast ganz aus Robi Minders Lebenswelt entschwunden. Er wird dereinst verwahrlost sterben, ein Darmverschluss gerät ihm, nach drei Tagen vergeblichen Klopfens in der Einsamkeit seiner Wohnung, zum Todesurteil. Sein herbeigerufener ältester Sohn, der ihm einst weggenommen wurde und dem er so lange nachtrauerte, wird unerwartet Zeuge dieses letzten Abschieds seines Vaters.
Die kleine Familie ist also auf sich gestellt. Frau und Kind tragen Robi Minder durch den Alltag, der Sohn gedeiht, die Frau bleibt zuverlässige Partnerin, unterstützt ihn, wenn sich neue Risse auftun unter den Füssen ihres Mannes. Ohne zu fragen, setzt sie sich neben ihn, als offenbar wird, dass er sich nicht mehr alleine ans Steuer wagt, da die Angst zu sehr mitfährt, und sie tut dies bis heute, wann immer es nötig ist. Aber trotz all dieser Liebe wird Robi Minder manchmal, wenn er sich so gar nicht verstanden fühlt, von einer ungeheuren Wut geradezu überfallen. Dann fliegen die Möbel, brechen Tischplatten, krachen Angeln aus den Haustüren, oder ein Motorrad landet in der Rabatte vor dem Haus. Dann feiern die Geister des Wiesengrunds ihre Walpurgisnacht und werden zu wüsten Monstern. Allerdings – Gewalt gegen seine Lieben, Frau und Kind, gestattet er den Monstern nie.
Die Zeit im Wiesengrund und ihre Folgen bleiben in unterschiedlichem Gewand prägende Realität in Robi Minders Alltag. Im Alter von 45 Jahren entscheidet er sich, zusammen mit seiner Schwester, zu einer direkten Konfrontation mit den ehemaligen Heimeltern. Zu viele Fragen sind offengeblieben, nagen unerlöst an ihren Herzen und peinigen sie, allen voran die eine: Wie nur konnte die Heimmutter derart brutal und gefühlskalt sein, warum nur hat sie die ihr anvertrauten Kinder, als komplett schutzlose Wesen, die sie waren, derart gequält? Und so fahren sie denn, dreissig Jahre nach dem Verlassen des Wiesengrunds, zurück ins Nachbardorf, wo das Ehepaar Furrer inzwischen in Rente lebt. Der Heimvater öffnet die Tür, zeigt sich überrascht, in der Stube sitzt, gebrechlich in einem Sessel zusammengesunken, Mutter Furrer. Robi Minders Schwester Elisabeth wird bald einmal von ihren Emotionen überrollt und überschüttet die alte Frau mit einer Kaskade von Vorwürfen und Fragen. Deren Mann Anton versucht beharrlich zu intervenieren, das Gespräch in die Gegenwart zu lenken, wie geht es euch, erkundigt er sich, was nur ist aus euch geworden. Das einst mächtige Mueti jedoch sitzt abgedreht in ihrem Fauteuil, würdigt die Besucher keines Blickes, stammelt einzig in ständiger Wiederholung, sie könne sich an nichts erinnern. Als das Geschwisterpaar wieder draussen steht, beginnen die beiden – nach einem ersten Atemholen – erschüttert zu analysieren und zu rätseln. Ob Frau Furrer wohl dement ist oder einfach eine Erinnerungsamnesie vortäuscht, um sich vor allem zu schützen? Und welche Rolle kam und kommt noch heute dem Heimvater zu? Mimt er geschickt den Ahnungslosen, und vermeidet er jedes Schuldeingeständnis – oder wusste er tatsächlich vieles nicht? Die Fragen sind nicht weniger geworden, und die Geister des Wiesengrunds fahren alle wieder mit zurück in den Alltag. Jedenfalls ergeht es Robi Minder so.