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In der Gastronomie
Оглавление1970, nach der Rekrutenschule, während der ein begeisterter Leutnant den braven Soldaten mit seiner vorbildlichen Disziplin zum Offizier machen will und er selbst das Unglück gerade noch zu verhindern weiss, beginnt Robi Minder seine Karriere in der Welt der Gastronomie. An einer durch seine Mutter vermittelten Stelle, im Restaurant Safran Zunft, mitten in Basels Altstadt. Schon bald wird der Quereinsteiger auch hier gefördert. Der Chef steckt ihn in einen schwarzen Anzug mit Fliege und schickt ihn als sein Aide du Patron in die oberen Säle, wo er rauschende Feste und Bankette zu organisieren und das Personal zu führen hat. Damit aber gerät Robi Minder erneut in jene Hölle, die er zwingend zu vermeiden sucht: Nun wird jeder Tag ein Prüfungstag, wird jede Serviererin, die er für ein Bankett engagiert, zu einer Prüfungsexpertin. Und immer muss er das Beste liefern, muss es allen recht machen. Hinter dem galanten jungen Bankettmanager versteckt sich ein hochsensibler, zutiefst verletzter Bub, der täglich durch die Schleuder seiner Ängste geworfen wird. Robi Minder ist immer auf Draht, immer unter Stress, Entspannung kann der Gehetzte nur noch mithilfe von Alkohol finden. Und so beginnt er zu trinken. Regelmässig. Wohldosiert über den Tag verteilt. Der Stoff ist immer greifbar, er selbst ein äusserst kontrollierter Mensch, dem abgestufte Mässigkeit leichtfällt. Die verräterische Fahne aus seinem Mund lässt sich mit Mineralwasser ausschwemmen. Und den Menschen kommt Robi Minder sowieso nicht zu nahe. Mit etwas Alkohol bleibt das gefürchtete Zittern seiner Hände aus. Und sein instabiler Schritt wird sicherer.
Noch ein weiterer Trick hilft ihm über seine täglichen Runden in den grossen Bankettsälen. Seit seiner Kindheit weiss Robi Minder um sein besonderes Talent in der Nachahmung von Menschen. Mit Leichtigkeit imitiert er ihren Schritt, ihre Gestik, den Tonfall ihrer Stimmen. Und nun entdeckt er, wie nützlich solch ein Rollenspiel sein kann. Denn wenn er als Stellvertreter seines Chefs sich selbst verlässt und ein anderer wird, wenn er sozusagen aus seiner Haut fährt und sich eine fremde überzieht, wird alles ein Spiel. Und seine Ängste werden leiser. Und so fängt er an, seinen Patron zu imitieren, läuft mit dessen wiegendem Gang durch die Säle, knetet sanft sein rechtes Ohrläppchen, während er redet, oder streicht sich mit dem Zeigefinger über den Nasenrücken, genau wie dieser, und auch die Tonalität der Stimme des Patrons kopiert er und seinen so unverkennbaren Basler Dialekt. Mit etwas Alkohol im Blut und in der Körperrolle des Chefs schafft es Robi, den Rotwein ohne Kleckern zu servieren, den Teller ruhig vor den Gast zu stellen und dabei freundlich zu lächeln; ist Robi Minder selbst am Werk, landet der kostbare Tropfen neben dem Glas, verschüttet er die sorgfältig angerichteten Teller, knicken gar beim Balancieren der Gläser seine Beine gefährlich ein. Seine Rolle als gewandter Kellner gefällt den Gästen. Sie sehen den leiblichen Sohn des Safran-Wirts am Werk und erfreuen sich am geglückten Spiegelspiel vererbter Gene.
In den ersten Jahren seiner Servicetätigkeit lebt Robi Minder mit einem Kollegen zusammen, dann zieht er, der stille Sonderling, in eine Einzimmerwohnung um. Lebt vorerst allein, bis eine Reise sein Single-Dasein unerwartet verändert. Er fliegt mit einem alten Schicksalsgenossen aus dem Waisenhaus, wie vor Jahren vereinbart – und was er verspricht, das hält er auch –, ins thailändische Eldorado käuflicher Frauen. Es ist nicht Robi Minders Welt. Sein Blick verfängt sich denn auch nicht in den präsentierten Katalogfrauen, frei verfügbar, da im Arrangement inbegriffen, sondern er flieht zu einer Schattenfrau, die weinend in einem Winkel des Etablissements sitzt, «out of service», wie der Besitzer verärgert deklariert. Diese und nur diese will er haben, wenn er denn schon wählen soll. Er nimmt die Frau mit auf sein Zimmer und weiss sofort, er wird sie retten, die Verlorene, wird sie ihrem Elend entreissen, will sie so schnell wie möglich heiraten und in die Schweiz holen. Und das tut er auch. Und so teilt er bald einmal seine kleine Wohnung mit dieser ihm gänzlich unbekannten Frau, deren Sprache er nicht kennt, deren Kultur ihn in ihrer Fremdheit täglich neu herausfordert. Mit grossem Eifer lernt er ihre Sprache, sie führt ihn in die thailändische Küche ein, und später wird sie im Restaurant des inzwischen selbstständig wirtschaftenden Robi Minder kochen. Das Glück will sich dennoch nicht einstellen. Vier Jahre später sind die beiden geschieden.
Doch nochmals zurück in die Anfangszeit dieser Verbindung. Robi Minder bleibt ein traumatisierter junger Mann, der unter einer Glasglocke lebt. Daraus können ihn auch die ersten Versuche in der Liebe nicht befreien. Die Gefühle bleiben erstarrt wie erkaltete Lava oder verirren sich als lästigen Schwindel in seinen Kopf, als zuckende Schlenker in seine Beine. Und dies immer häufiger. Sein Trick mit dem Rollenspiel will nicht mehr immer gelingen, der Alkoholpegel muss erhöht werden. Robi Minders Patron, der Wirt des Restaurants Safran, ist seinem geschätzten Gehilfen noch immer wohlgesonnen, auch wenn ihm seine Defizite nicht verborgen bleiben. Auch er will, wie sein Vorgänger, den sympathischen Mann fördern, schickt ihn ins Welschland zum Französischlernen, vermittelt ihm ein Praktikum in einem anderen Betrieb. Und schiebt ihm allerlei Literatur zu, mit Ratgeberrezepturen nach dem Motto «Sorge dich nicht – lebe!». Doch für Robi ist dies keine Hilfe. Im Gegenteil, Zuwendungen steigern die Strenge seiner Selbstkontrolle, erhöhen den Erwartungsstress, alles wird immer noch schlimmer. Schliesslich sucht der ruhelos Gequälte Hilfe bei einem Psychiater. Dieser diagnostiziert eine labile Konstitution, entlässt ihn nach wenigen Sitzungen, weitere Hilfe weiss auch er nicht anzubieten. Noch weiss die Psychiatrie in diesen 1970er-Jahren wenig von Traumata und posttraumatischen Belastungsstörungen. Schliesslich ergreift Robi Minder ein weiteres Mal die Flucht nach vorn und setzt einen nächsten beruflichen Neustart auf seinem Weg. Diesmal wagt er den Sprung in die Selbstständigkeit. Schluss mit dem Kontrollblick von oben, Schluss mit der Schauspielerei in der Rolle des Chefs, nun wird er sein eigener Patron. Robi Minder ist jetzt 26, holt seine gesamten Ersparnisse von der Bank, investiert in ein Restaurant, das nun ihm gehört. Dabei hat er ein Ziel glasklar vor Augen: möglichst schnell möglichst viel Geld zu verdienen, um sich von der Gesellschaft mit ihren bedrohlichen Anforderungen ganz ins Private zurückziehen zu können.
Der Traum ist schnell ausgeträumt. Der Wirt ohne Patent und blockiert darin, den entsprechenden Fachabschluss nachzuholen, sieht sich gezwungen, dafür einen Kollegen einzustellen. Das kostet. Dazu addieren sich Fehlinvestitionen. Der im Handel Ungeübte lässt sich viel zu teuren Wein aufschwatzen, die Ausgaben summieren sich, langsam rutscht Robi Minder in eine finanzielle Schieflage, versucht diese mit der Expansion auf ein zweites Lokal aufzufangen. Nach nur zwei Jahren kommt das Aus, er muss seine Insolvenz erklären. Und wird, als geschlagener Hans im Glück, erneut auf den Arbeitsmarkt katapultiert. Zurück in die Welt der Dienstleister, der Kellner. Mit seinen guten Arbeitszeugnissen findet Robi bald wieder Arbeit. In einem Basler Tanzlokal, dem Happy Night, einer In-Diskothek, die über die Landesgrenzen hinaus bekannt und auch im Elsass, im Rheinland beliebt ist, ein bisschen spleenig mit einem richtigen englischen Taxi in der Saalmitte; da sitzt der DJ drin und legt seine Platten auf. Es ist die Show, die zieht, und dann natürlich die Musik. Und ein bisschen auch Hanny, die Frau hinter der Bar, die so gar nicht in das Klischee einer Bardame passen will. Sie fasziniert. Auch den neu eingestellten Kellner Robi Minder. Und für einmal gerät ihm seine Schüchternheit zum Vorteil. Die beiden finden sich als Paar, heiraten, werden Eltern eines kleinen Sohnes und bleiben sich zuverlässige Lebensgefährten. Bis heute.