Читать книгу Lebenslänglich - Lisbeth Herger - Страница 4

Vorwort

Оглавление

Es gibt die Lauten. Und es gibt die Leisen. Das gilt für den Alltag. Für die Politik. Und auch für die Geschichtsschreibung.

In diesem Buch melden sich zwei Leise zu Wort. Zwei ehemalige Heimkinder, denen man das Reden früh abgewöhnt hat. Mit kalter Lieblosigkeit. Mit Drill und Strafen. Mit Gewalt. Sie standen eines Tages in meinem Büro, erzählten von ihrer qualvollen Kindheit und von den vielen posttraumatischen Belastungen, denen sie ein Leben lang ausgeliefert geblieben sind. Sie beklagten die Einseitigkeiten im aktuellen medialen Diskurs, zum Beispiel, dass die Heimkinder hinter dem bekannten Bild des Verdingkindes zu verschwinden drohen. Und bemängelten, dass man viel von schlimmen Kindheiten, aber wenig vom davon beschädigten Leben als Erwachsene zu hören bekomme. Genau darüber möchten sie schreiben, erklärten sie, und legten eine hochkomplexe Projektskizze auf den Tisch – ein von ihren Erfahrungen genährtes Fachbuch zu posttraumatischen Belastungsstörungen sollte es werden. Sie erzählten aber auch, wie sie sich, 51 Jahre nach ihrem Weggang aus dem schrecklichen Heim, nach einem langen, sehr unterschiedlich gelebten Leben – er als Hauswart, sie als Akademikerin – auf ihren Wegen wiedergefunden hatten. Bei der Suche nach ihren Akten. Dank eines aufmerksamen Staatsarchivars, der die beiden aufeinander hingewiesen hatte. Und sie berichteten von ihren regelmässigen Treffen danach, von ihrem intensiven Mailwechsel, von ihrer Einmischung in die politischen Prozesse der «Wiedergutmachung» und von ihrem Rückzug daraus.

Das war der Anfang zu diesem Buch. Diana Bach und Robi Minder mit ihren Erzählungen, am alten, vom Holzwurm gezeichneten Tisch meines Besprechungszimmers. Dann kam eine Menge Material dazu. Ein paar Kilogramm Akten zu ihrer behördlich verwalteten Kindheit. Über 600 Mails, die sie sich von 2013 bis 2016 geschrieben hatten. Dann davon unabhängige biografische Texte, eine Heimbiografie von Robi Minder, Fragmente zu ihrem Leben von Diana Bach und immer wieder lose, assoziative Nachträge. Und natürlich lange Gespräche.

Um all das Dokumentierte, aber auch das Fragmentierte und das Unsagbare in einen lesbaren Text zu bringen, brauchte es den ordnenden Blick von aussen. Der Materialberg wollte strukturiert, erzählerisch zusammengefügt, aber auch historisch kommentiert werden. So hat das Buch zu seiner Form gefunden. Ausführliche Porträts von Robi Minder und Diana Bach, nachgezeichnet bis ins Pensionsalter, unterlegt mit den Akten zu ihrer Kindheit und Jugend. Dann ein Porträt des Heims, das sich als wärmende Grossfamilie in einer Villa präsentierte, derweil hinter den Pforten die Angst regierte. Schliesslich ein Briefwechsel als komponierte Montage mit Originaltexten der beiden. Und begleitende Kommentare zur Einbettung des Geschehens in die jüngste Aufarbeitung der Geschichte um fürsorgerische Zwangsmassnahmen in der Schweiz.

Aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes wurden – mit Ausnahme öffentlicher Personen – sämtliche Namen und Orte mit Pseudonymen versehen und nicht erkennbar gemacht. Diana Bach und Robi Minder aber gibt es wirklich. Sie sind im lebendigen Gespräch, wie die Fotografien auf dem Cover und im Buch illustrieren.

Der Bundesrat hat 2014 die Unabhängige Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgung eingesetzt und 2017 das Nationale Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang – Geschichte, Gegenwart, Zukunft» beim Schweizerischen Nationalfonds in Auftrag gegeben. Diese wissenschaftliche Aufarbeitung ist wichtig und wertvoll, ihre Ergebnisse werden mit Zahlen und vertieften Analysen klären helfen, wie dieses Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte verstanden werden kann. Das vorliegende Buch hat einen anderen Anspruch. Hier steht die Sicht zweier ehemals «administrativ Versorgter» im Zentrum, die ein ganzes Leben lang darunter gelitten haben. Ihre Erfahrung aber wird eingebettet in die Zeitgeschichte von damals und in die aktuelle Aufarbeitung der Vorgänge von heute. Umfangreiche Recherchen und Studien des Archivmaterials liefern die Koordinaten dazu. So wird Geschichte erleb- und hörbar. Damit man die Leisen, so Diana Bach, wie die zarten Geigen in einem mit Bläsern besetzten Orchester, nicht einfach überhört.

Lisbeth Herger, Sommer 2018

Lebenslänglich

Подняться наверх