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Bei Bauer Ammann

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Nach einigem Zögern stimmt Robis Mutter dem Wechsel zu. Und so kommt es, dass der Jugendliche als 13-Jähriger zum Sommeranfang des Jahres 1962 sein kleines Bündel packt, nach fast zehn Jahren des Schreckens und der Qual den Wiesengrund verlässt und zu Familie Ammann zieht. Seine Schwester wird gleichzeitig über Umwege ins Mädchenheim Bachgraben in Basel umplatziert. Die Heimeltern Furrer hadern mit dem Entscheid, ihre Korrespondenz zeugt von Kritik und Missfallen, sie ärgern sich über die Pläne und darüber, dass eine Frau wie die liederliche Mutter Minder noch immer das Sorgerecht und damit das Sagen über das Geschick der Kinder hat. «Sie werden staunen, beide Minderli sind nicht mehr bei uns, wir haben die Versetzung nicht verstanden. […] Elisabeth ging nicht gerne weg, und wir haben sie nicht gerne weggegeben», so schreiben sie reihum. Die beiden Kinder verlassen den Wiesengrund ohne wirklichen Abschied. Die elfjährige Elisabeth setzt sich apathisch in ein unbekanntes Auto, das sie abholt, sie ist gefangen in ihrer Trostlosigkeit, kränkelnd, und hat das Körpergewicht einer Siebenjährigen; Robi dagegen tritt seinen Weg zu Fuss an, getrieben von der Hoffnung auf ein Leben ohne Schläge und ein bisschen familiäre Wärme.

Sein Wechsel zu Bauer Ammann scheint vorerst zu glücken. Die künftigen Adoptiveltern haben «grosse Freude» an ihm, denn «Robi selber mault nicht herum, zeigt sich anhänglich und selten frech, hilft fleissig mit in Haus und Hof». Auch fällt es ihm «erstaunlich leicht, in der Schule zu folgen», wie seine Fürsorgerin in Basel festhält und dabei Robis Lehrer zitiert, der ihn als «guten Sekundarschüler, dem das Lernen keine besondere Mühe bereite», lobt. Doch bereits nach vier Monaten ist der Höhenflug vorbei. Robi fühlt sich bei den Ammanns nicht mehr wohl, hat «Heimweh nach der Kindsmutter und nach der Schwester», möchte in «Mutters Nähe» wohnen, so notiert Fräulein Seliner. Sie fährt nach Auwil, um den Wandel aufzuklären, spricht mit dem Lehrer, mit Robi, mit der Pflegefamilie. «Robi redet ruhig, sachlich, überlegt», liest man in ihrem ausführlichen Bericht zu seinen Klagen. Darüber, dass man ihn nicht als Pflegesohn, sondern als Angestellten behandle, dass er keinerlei Wärme verspüre und so gar nicht heimisch werde. Die Bäuerin sei wenig mütterlich, sei überfordert, der invalide Vater oft unbeherrscht und verärgert. Was er der Fürsorgerin nicht erzählt, weil er dafür keine Sprache findet, sind die entsetzlichen Bilder von Tierschmerz und Tierqual, die ihn zunehmend verfolgen. Denn Bauer Ammann verdient sich mit der Kastration von Kaninchen, Schweinen und Hunden ein Zubrot. Er macht es mit einer Rasierklinge, ohne Betäubung, und der junge Robi muss ihm assistieren und die Tiere im Jutesack festhalten. Es sind Schreie und Bilder, die den Siebzigjährigen bis heute verfolgen, seinen Herzschlag beschleunigen, seine Hände zittrig werden lassen. Doch davon verrät er dem Fräulein aus Basel nichts, bezichtigt sich stattdessen selbst, er habe sich «blenden» lassen, habe Illusionen aufgebaut, hier Vater und Mutter zu finden, dass das Bauernpaar ihm aber fremd geblieben sei. Weiter erzählt er von den beengenden Entwürfen der Pflegeeltern zu seiner Zukunft, dass Frau Ammann enttäuscht sei, weil er weiterhin zur Schule wolle, dass der Pflegevater Robis Zukunft schon fest in seinem Kopf ausgelegt habe, erst die landwirtschaftliche Ausbildung, dann den militärischen Grad, den er abverdienen soll, und auch vom Heiraten sei bereits die Rede. Und weiter betont der Bericht Robis erstaunliche Reife, die sich auch darin zeige, dass der Junge trotz seiner erst 14 Jahre grosses Verständnis für den invaliden Pflegevater zeige, der an seiner Untätigkeit bestimmt leide und ihn wohl auch deshalb öfters anschreie. Auch der Leistungsabfall in der Schule lässt sich in den Gesprächen klären. Der Arbeitstag beginnt morgens um 6 Uhr mit Stallarbeiten, erzählt Robi seiner Fürsorgerin, Bettruhe sei gegen 23 Uhr, Hausaufgaben sind erst nach dem Nachtessen zu erledigen, Zeitfenster für Freundschaften bleiben kaum. Robis Sicht der Dinge wird von der Pflegefamilie sogar bestätigt, hält Fräulein Seliner in ihrem Bericht fest. Frau Ammann stimmt zu, dass er überbeansprucht werde, da es schwierig sei, für die Landwirtschaft Leute zu finden, zudem sei ihr Knecht mit dem Umbau der Scheune voll beschäftigt, zusammen mit der Bäuerin müsse Robi den ganzen Hof alleine bewirtschaften. Jedoch bestreiten die Ammanns den monierten Zeitmangel für Schularbeiten und zeigen sich wenig erfreut, ihren Pflegesohn in den Weihnachtsferien zu seiner Mutter zu entlassen. Sie fürchten, der städtische Einfluss zerstöre den Wunsch des Buben, Bauer zu werden.

Noch wissen sie nicht, dass der Pflegesohn diese Pläne längst begraben hat. Robi will auf keinen Fall auf Dauer bei Familie Ammann bleiben, zeigt sich aber bereit, noch ein halbes Jahr auszuhalten, um in Auwil die Schule abzuschliessen. Selbst die Tatsache, dass bei seiner Mutter kein Platz für eine Rücknahme sei – sie lebe mit ihrem neuen Freund zusammen und sei beruflich sehr belastet – und auch der Vater keine Kapazität habe, da er in seiner neuen Ehe und mit den zwei zusätzlichen Kindern ebenfalls in prekären Verhältnissen lebe, kann ihn nicht von seinem Wunsch nach einer Rückkehr nach Basel abbringen. Die Mutter möchte ihn erneut in einem Heim platzieren, das enttäuscht ihn zwar, aber alles ist besser, als zu bleiben, wo er ist. Immerhin unterstützt seine Mutter seine Pläne. Seine Klagen decken sich mit ihren Impressionen anlässlich eines eigenen Besuchs auf dem Hof, und sie zeigt sich fest entschlossen, den Knaben nach Basel ins Waisenhaus zu holen, will ihn dort weiter schulen und fördern lassen. Sie verspricht den Behörden, sich bei einer Umplatzierung nach Basel um ihren Sohn zu kümmern, wann immer sie frei hat, und dabei ihr Leben im damals noch anrüchigen Konkubinat vor dem Halbwüchsigen möglichst zu verbergen.

Der endgültige Abschied von Auwil ist wiederum ein unbegleiteter, nüchterner Akt, den Robi alleine zu leisten hat. Ein Händeschütteln mit der enttäuschten Bäuerin, die ihn nur ungern ziehen lässt, ein kleines Kleiderbündel am Rücken, ein grosser Packen Skrupel im Kopf und im Herzen, weil er die überforderten Bauern im Stich lässt – derart beladen macht sich Robi auf den Weg zum Bahnhof. Und macht sich wieder auf in eine neue Zukunft, diesmal nach Basel.

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