Читать книгу Die Wellenreiterin - Liz Clark - Страница 16
Dezember 1989, Baja California
Оглавление»Es ist so weit, Schätzchen«, flüstert Dad und streichelt mir über den Rücken. Ich rolle von meiner Pritsche und folge ihm am Maschinenraum vorbei in die Kajüte unseres Segelboots. Es ist drei Uhr nachts.
Er breitet die Karte von Baja aus und legt sie auf den Kartentisch.
»Wir sind jetzt hier«, sagt er leise und zeigt auf ein kleines Bleistift-X. »Und da wollen wir hin.«
Er tippt auf ein Inselchen vor der Küste. Ich blinzele mir den Schlaf aus den Augen.
»Jetzt messen wir erst mal die Entfernung.« Er reicht mir den Kartenzirkel.
Ich ziehe die Bronzespitzen auseinander, halte sie an den Kartenrand und stelle sie so ein, dass sie exakt fünfundzwanzig Seemeilen messen, genau wie Dad es mir beigebracht hat. Dann legt er das Kurslineal an. Ganz vorsichtig, damit die Einstellung nicht verrutscht, setze ich die Spitzen um.
»Eins … zwei … drei … vier und ein bisschen«, zähle ich leise mit.
»Okay, und was ist vier mal fünfundzwanzig?«
Auf einem Blatt Schmierpapier rechne ich es aus. Übertrage die Zwei. Ich mag Mathe.
»Einhundert?«
»Sehr gut, Liebling«, flüstert Dad. »Ungefähr einhundert Seemeilen.«
Ich lege das Loch in der Kompassrose über das X, das unsere Position auf der Karte markiert, und richte den drehbaren Zeiger aus, um den Kurs einzustellen.
»265 Grad?«
»Super, Lizzy. Dann mal los!« Er lächelt mich stolz an.
Er zieht mir Rettungsweste und Haltegurt über, schnallt alles fest und gibt mir ein Küsschen auf die Stirn, bevor wir die Niedergangstreppe hochsteigen. Draußen ist es genauso finster wie zu Hause in unserem gruseligen Flur. Die Sitze sind vom Nieselregen nass. Trotzdem habe ich kein bisschen Angst. Mit Dad bin ich in Sicherheit. Die Zündung knistert, als er den Motor anwirft.
Dad verschwindet in der Dunkelheit, und ich höre, wie das Großsegel am Mast hochfährt. Auf sein Kommando lege ich den Vorwärtsgang ein, während er den Anker einholt.
Nur Minuten später kommt er mit einer Taschenlampe zwischen den Zähnen zurück und verstaut den Ruckdämpfer.
»Bereit für deine erste Nachtwache?«
Meine Hände prickeln. Ich bin nervös, fühle mich aber auch wichtig. Der kalte Wind und hin und wieder ein Regenschwall fahren unter das Segeltuch-Bimini. Dad zieht mir die Kapuze über.
»Bereit, Dad.«
Ich bin neuneinhalb Jahre alt und segle, seit ich ein Baby war, auch nachts mit der Familie nach Catalina. Vor zwei Wochen sind wir in San Diego losgefahren, um in den kommenden sechs Monaten in Mexiko zu segeln.
»Denk dran, du schnallst weder den Lifebelt ab noch verlässt du das Cockpit, egal, was passiert. Wenn du aufs Klo musst, dann weck mich, okay?«
Er stellt den Autopiloten ein, dann hebt er mich auf den Sitz am Steuer und umarmt mich.
»Immer in alle Richtungen den Horizont absuchen«, fährt er fort. »Wenn du irgendwo Licht siehst oder etwas, was dir komisch vorkommt, weck mich einfach auf. Ich bin gleich hier, Schätzchen.«
»Okay, mach ich, Daddy.«
Er legt sich auf die Cockpit-Pritsche. Ich halte nach vorn und in alle Richtungen Ausschau. Für den Moment ist bis zum Horizont nichts zu sehen. Ich berühre meinen BFF-Kettenanhänger, ein halbes Herz, und denke an zu Hause. An Mattie und Trim, unsere Golden Retriever, und an mein Turntraining. An Orangen, die ich mit meiner kleinen Schwester Kathleen draußen im Wäldchen gegessen habe. Und an Flusskrebse, die ich mit meinem großen Bruder James im Canyon gefangen habe.
Der kalte Wind peitscht mir um die Ohren. Verirrte Regentropfen klatschen auf das Segeltuch-Bimini. Beschwingt spähe ich in die Nacht.
Wir sind schon eine Woche an der Küste von Baja unterwegs. Frühmorgens kippt Schwell aus Nord mich und die Crew aus den Betten. In der Kälte und im Dämmerlicht holen Mark und Shannon den Heckanker ein, während ich das Boot steuere. Bald weist der Kompass wieder nach Süden. Der Dieselmotor tuckert vor sich hin, während das Großsegel Probleme hat, auch nur einen Hauch Brise einzufangen. Sobald die Sonne den Frühnebel vertreibt, glitzert sie triumphierend auf der ruhigen See an Backbord. Trotz des groben Weckrufs sind wir gut gelaunt.
Shannon hatte ich unmittelbar vor meiner Reise kennengelernt. Sie war mir sofort sympathisch. Die Blondine ist eine Frau der leisen Töne, top ausgebildet, verfügt über eine fast verbissene Entschlossenheit und ein bildschönes Lächeln. Sie sieht mir aufmerksam zu, als ich ihr zeige, wie man das Fall am Topp des Großsegels befestigt, um das Segel am Mast aufzuheißen, und wie man die Fockschoten richtig um die Winschen wickelt. Uns einen die Liebe zum Meer und die Abenteuerlust, außerdem haben wir beide an der University of California in Santa Barbara Umweltwissenschaften studiert. Weil sie außerdem gern fotografiert, hoffe ich, dass ich ihre Fotos zusammen mit meinen Artikeln irgendwo unterbringen und vielleicht noch ein paar Sponsoren finden kann. Ich bin fest entschlossen, genug Geld zu verdienen, um nicht heimfliegen zu müssen, wenn irgendwann meine Ersparnisse aufgebraucht sind.
Ich bin froh, dass auch mein Mitbewohner vom College, Mark, mit an Bord ist. Seine unerschütterliche Freundschaft und sein Humor haben mich durch drei Jahre voller Klausuren und Lebensprüfungen getragen. Als er andeutete, dass er uns gern auf der ersten Etappe begleiten würde, hab ich freudig Ja gesagt. Wann immer ich gestresst bin oder mich selbst infrage stelle, sorgt Mark mit seinen Sprüchen wieder für gute Laune.
»Hoffentlich sinken wir nicht. Du weißt, Liz, dass ich nicht schwimmen kann«, neckt er mich, während ich nervös die Segelstellung der Swell studiere.
Ein paar Delfine springen in Richtung Boot, um in unserer sanften Bugwelle zu spielen. Wir sehen ihnen vom Vorderdeck zu, wie sie wellenreiten und herumtollen und mich an die unzähligen Stunden erinnern, die ich als Kind im Bugspriet unseres Familienboots vor den Küsten Kaliforniens und Mexikos verbracht habe: mit über die Teakplanken baumelnden Beinen und dem unendlichen Horizont vor Augen – und genau dort fing ich auch an, darüber nachzudenken, eines Tages meinen eigenen Langstreckentörn zu unternehmen.
Ich sah natürlich auch Abfall herumschwimmen, Meerestiere, die sich in den zerrissenen Netzen der Fischtrawler verfangen hatten und die meine Sorge um Umwelt und Natur entfachten. Auch wenn meine Familie nach unserer Rückkehr aus Mexiko erst mal ziemlich klamm war, sah meine Mutter mich mein hart verdientes Schülerjobgeld an Greenpeace spenden. Sie schenkte mir ein »Save Our Seas«-Poster und eine Weltkarte, die ich in meinem Kinderzimmer aufhängte und in die ich Pfeile einzeichnete, die meine zukünftige Reiseroute markieren sollten. Sowohl die Weltkarte als auch das Poster zogen bei jedem Ortswechsel mit um – also ziemlich häufig. Beide zogen immer wieder meinen Blick an: während der Hausaufgaben für die Junior High, nach dem Turntraining oder zwischen all dem Unfug, den ich in meiner Highschool-Zeit trieb. Sogar nachdem eine Freundin mich mit fünfzehn zum Surfen gebracht hatte und das Wellenreiten eine schier fanatische neue Leidenschaft für mich wurde, behielt ich den Traum vom großen Törn und mein Umweltengagement bei.
Als die Delfine in Richtung Westen weitertollen, danke ich ihnen für den Besuch und kehre für ein Update des Logbuchs ins Cockpit zurück. An diesem Nachmittag, an dem uns noch ein bisschen Tageslicht bleibt, nähern wir uns einer Reihe geschichteter Klippen, an deren Innenseiten kleine Wellen entlangrollen. Einhellig beschließen wir zu ankern und tauschen in aller Eile unsere Winterjacken und warmen Stiefel gegen Wetsuits und Neoprenschuhe ein. Sobald der Anker sitzt, stürzen Shannon und Mark zum Vorderdeck, um ihre Boards loszubinden, und paddeln ins Line-up.
Sie sind schon auf halbem Weg in Richtung Ufer, bis ich die Decks in Ordnung gebracht habe und ebenfalls über Bord springe. Das eisige Wasser spült meine angestauten Ängste davon. In meinem Vier-Millimeter-Wetsuit und auf meinem Lieblings-Shortboard bin ich in meinem Element. Braunalgen winken mir aus der aufsteigenden Welle. Grinsend paddle ich auf den Break zu.
Der Wellengang ist nicht überwältigend, trotzdem fühlt sich jeder Glide wie ein Triumph an. Das Surfen – mein Trost, meine Numero uno – hat während der dreijährigen Vorbereitungen auf diese Reise zurückstehen müssen. Fischer in einer Panga winken uns zu, während sie auf ein paar Strandhütten zuhalten, die in der unendlich beige-gelben Baja-Landschaft quietschbunt hervorstechen. Als die Sonne untergeht und der Abend kühl wird, catchen wir noch eine letzte Welle und paddeln dann den langen Weg zurück.
Nach knapp hundert Metern sehe ich hoch. Die Swell wiegt sich brav an ihrem Anker, und die schnittigen, kraftvollen Konturen des Bootskörpers glühen im Abendlicht. Für einen Augenblick verschlägt mir der schöne Anblick den Atem. Ich kann es nicht fassen. Die Swell verschwimmt, als mir Tränen in die Augen steigen.
»Ich bin hier!«, rufe ich in den Himmel. »Das hier ist echt! Daaaaaaanke!« Ich bin mir nicht einmal sicher, an wen der Dank gerichtet ist. Ich glaube nicht an Gott, aber das hier fühlt sich überirdisch an. Ich habe Salz auf den Lippen und einen Sonnenbrand auf den Schultern. Ich paddle noch ein Stück raus statt zurück. Das hier ist mein Traum – und ich bin hellwach!
Die Sonne scheint, und der Wind ist genau richtig für unsere nächste Etappe in Richtung Süden. Ich genieße die frische Nachmittagsluft, als wir unter vollen Segeln in die breite Bucht vor San Quintín einfahren. Mark steht in der Pantry und macht für uns Marmeladenbrote, während Shannon neben mir im Cockpit sitzt und Fotos schießt von den Farbabstufungen im Sand und den flachen, grasbewachsenen Dünen abseits des Hafens. Mit einem Mal entdecke ich keine fünfzig Meter vor dem Bug weiße Gischt, wo Wellen über eine nicht verzeichnete Sandbank rollen. Das Echolot springt von 45 Metern auf sechs, fünf und schließlich dreieinhalb, und ich reiße das Boot nach Steuerbord. Mir schlägt das Herz bis zum Hals, doch zum Glück bringt uns der neue Kurs zurück in tiefes Wasser.
Mark reckt den Kopf aus dem Niedergang – auf seinem Shirt ein lila Schmierer. »Himmel, Liz, du hättest auch einfach nach extra Marmelade fragen können.«
Ich werfe einen Blick zurück zu der Stelle, wo ich die Gischt entdeckt habe, doch inzwischen ist das trüb grüne Wasser dort vollkommen ruhig und die Sandbank nicht mehr zu erahnen. Während wir auf das südliche Ufer der Bucht zusteuern und ich – noch immer mit Herzrasen – von meinem Brot abbeiße, bin ich einfach nur dankbar für das glückliche Timing: Wenn diese Welle auch nur ein paar Sekunden später über die Sandbank geschwappt wäre, wäre die Swell wahrscheinlich auf Grund gelaufen. Zufall? Pures Glück? Schicksal?