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Juni 2002, Santa Barbara

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Ich bin es leid, in der Wohnung meines Bruders an die Zimmerdecke zu starren, und drehe mich auf die Seite. Auf der Küchenuhr ist es 13.30 Uhr, und ich liege immer noch herum. Ich bin jetzt seit einem knappen Monat zurück in den USA, nachdem ich im Dezember als Crewmitglied der Tamara losgesegelt war. Die Besitzer der Megayacht hatten sich sehr zu meinem Entsetzen als eine Art Kommune entpuppt, und das zweiundsiebzigjährige Oberhaupt der gut fünfzig Kopf starken Truppe hatte wohl gehofft, dass ich Teil seines Bord-Harems aus sieben schwangeren »Ehefrauen« würde. In der Bucht von Acapulco heuerte ich ab und war froh, mich stattdessen einem befreundeten Einhandsegler auf seiner Vierunddreißig-Fuß-Yacht anschließen zu können. Vier Monate lang segelten Rick und ich auf der Suche nach Surfspots und Abenteuern südwärts (und wir fanden so einige), nur dass er mich bei jedem Handgriff, den ich an Bord tat, zurückpfiff und lieber wollte, dass ich kochte oder putzte. Mein Selbstvertrauen verkümmerte so sehr, dass ich bei meiner Rückkehr überzeugt davon war, meinen eigenen Langstreckentörn im Leben nicht in die Tat umsetzen zu können.

Mein Traum ist geplatzt. Mir rollt eine Träne über die Wange. Ich verspüre nur noch Aussichtslosigkeit. Meine Freunde treten allmählich ihre ersten festen Stellen an – aber allein bei der Vorstellung werde ich trübsinnig. Seit George W. Bushs Wahl zum US-Präsidenten bin ich überdies zusehends enttäuscht von der Richtung, die dieses Land einschlägt. Ich meine – das Kyoto-Protokoll nicht zu ratifizieren? Den Endangered Species Act, das wichtigste Gesetz zum Schutz gefährdeter Tierarten, auseinanderzunehmen? Den Clean Air (Gesetz zur Luftreinhaltung) sowie den Clean Water Act (Schutz von Oberflächengewässern) auszuhöhlen? Ich mag nicht mehr und will aussteigen. Nur wie? Ich bin pleite.

Trotz meines jämmerlichen Zustands war James, mein Bruder, so großzügig, mich bei sich aufzunehmen. Meine Klamotten liegen im Kofferraum meines Wagens, damit sie in seiner kleinen Wohnung nicht stören. Immer wenn er morgens zur Arbeit aufbricht, tätschelt er mir aufmunternd den Kopf, während ich auf seiner Couch liegen bleibe und mit leerem Blick an die dick beigefarben verspachtelte Gipskartondecke starre.

»Warum gehst du heute nicht an den Strand, Lizzy?«

»Weil die Wellen Mist sind.«

»Weißt du, es ist auch gar nicht so schlimm, sich einen Job zu suchen. Man kann auch trotz Arbeit leben.«

Ich bringe nicht mal eine Antwort hervor. Stumme Tränen laufen mir übers Gesicht, ich drücke fest seine Hand und hoffe nur, dass er ahnt, wie sehr ich seine Unterstützung zu schätzen weiß. Ein Handkuss, und er ist weg.

Ein düsterer Monat zieht ins Land, bis ich eines Tages anlässlich einer Party zum Nationalfeiertag zusammen mit ein paar Freunden die Lobby des Santa Barbara Yacht Club betrete. Dr. Barry Schuyler und Ehefrau Jean stehen festlich gekleidet im Eingangsbereich.

»Lizzy! Wie schön, Sie wiederzusehen, meine Liebe!« Er lächelt mich an und trägt dann ganz beiläufig etwas an mich heran: »Ich suche jemanden, der mein Boot einmal um die Welt segelt. Interessiert?«

Ich hab ein flaues Gefühl im Bauch, und für einen Augenblick herrscht Stille. Ich wünschte mir, ich könnte rufen: »Ja! Natürlich!«, aber meine Unsicherheit hält mich zurück.

»Danke, Dr. Schuyler, aber … ich bin mir nicht sicher, ob … ich das kann.« Fast bleiben mir die Worte im Hals stecken.

»Kommen Sie doch einfach mal vorbei. Mein Boot liegt hier in der Marina, Liegeplatz I-23. Eine kleine Slup namens Freya.«

Ein paar Tage später, zurück auf der Couch meines Bruders, bin ich nur noch mit dem Angebot des Professors beschäftigt. Hat er das ernst gemeint? Will er mir wirklich sein Boot überlassen? Da muss doch ein Haken dran seinund den muss ich finden! Ich gebe mir einen Ruck und fahre zum Hafen. Als ich dort ankomme, steht Dr. Schuyler am Dock neben seinem Boot. Es ist derselbe Bootstyp, mit dem auch die Heldin meiner Kindheit, Tania Aebi, mit achtzehn Jahren um die Welt gesegelt ist. Ich bin sofort Feuer und Flamme.

»Hallo, junge Dame«, sagt er freundlich. »Haben Sie sich mein Angebot durch den Kopf gehen lassen?«

»Hallo, Dr. Schuyler. Und ja, tatsächlich.«

»Sagen wir doch Du. Komm an Bord, setz dich, und wir unterhalten uns ein bisschen.«

Der Rundgang über die Freya ist schnell gemacht, weil sie so klein ist. Aber sie ist gut in Schuss, gemütlich und gut ausgestattet. Wir sitzen im Cockpit, als er mir erzählt, was ihm vorschwebt. Er erklärt mir, dass er und Jean sich für allerhand hiesige Wohltätigkeitsorganisationen und nationale NGOs engagieren; trotzdem habe er – mit fast achtzig! – das Gefühl, dass ihn sein Lebenstraum, der Langstreckentörn, immer noch nicht losgelassen hat. Er will ihn stellvertretend durch das Segelabenteuer von jemand anderem miterleben. Wenn er seinen Traum schon nicht selbst verwirklichen kann, dann will er zumindest jemand anderem helfen, ihn zu verwirklichen.

Es kommt mir vor, als wäre dies alles zu gut, um wahr zu sein. Ich muss es versuchen!

Nachdem sich Barry auch mit meinem Vater beratschlagt hat, gibt der grünes Licht, und wir fangen an, Pläne zu schmieden. Barry listet auf, was alles erst noch erledigt werden muss – völlig vernünftige Dinge wie Kurse bei einem Segelmacher, einem Rigger und einem Bootsmechaniker und das Studium der wichtigsten Meeresströmungen und Windmuster. Seinem Wunsch, mich regelmäßig aus den Häfen rund um die Welt bei ihm zu melden, will ich nur zu gern nachkommen. Er hilft mir finanziell, das Boot für die Ozeanüberfahrt flottzumachen, danach muss ich selbst sehen, wie ich die Reise finanziere.

Meine depressive Stimmung ist jetzt, da mein alter Traum wieder Aufwind bekommt, augenblicklich verflogen. Barry und Jean bieten mir sogar an, bei ihnen einzuziehen, bis ich wieder auf eigenen Beinen stehe. Im Handumdrehen habe ich einen Job als Barkeeperin in einem Hafenrestaurant an Land gezogen und verbringe jeden freien Tag beim Segeln oder Werkeln an Bord der Freya. Barry und ich belegen einen Amateurfunk-Kurs, damit wir über Funk in Verbindung bleiben können, sobald ich losgereist bin. Ich segle die Freya an der Küste auf und ab, um auf den kürzeren Trips neues Selbstvertrauen zu gewinnen. Von meiner Größe und Körperkraft her passen das Boot und ich gut zusammen, und im Nu bin ich, was mein Kapitäninnenpotenzial angeht, wesentlich optimistischer.

Dann erwischt mich im Spätsommer auf dem Weg von Cojo Point nach San Miguel Island vor dem berüchtigten Point Conception eine Welle über dem Heck, das Cockpit überschwemmt, und panisch schöpfe ich Wasser aus der Kajüte. Und weil mir das allein schon in mittelschwerem Wasser passiert ist, bin ich schlagartig nervös, wenn ich an die Ozeanpassage mit der Freya denke. Sie ist winzig – ich kann in der kleinen Kajüte nicht mal aufrecht stehen. Mein Surfbrett oder einen Freund unterzubringen wird womöglich schwierig, und irgendwie habe ich mir meinen Traum anders vorgestellt.

Als ich Barry von meinen Bedenken erzähle, versteht er mich sofort – und eine Woche später trägt er einen neuen Vorschlag an mich heran: Wenn ich ein größeres Boot und eine Handvoll Sponsoren finde, stockt er die Summe auf, damit ich mir das Boot kaufen kann.

Mein Vater, der gerade einen größeren Geschäftsabschluss getätigt hat, will ebenfalls Geld zuschießen, und bald finden wir ein neues Boot – nur ein paar Reihen von der Freya entfernt: eine CAL 40, Baujahr 1966, wie Barry schon mal eine hatte, von der er begeistert war und weiß, dass sie ozeantauglich ist. Er versichert mir überdies, dass ein Rigger sie an meine Statur von knapp fünfzig Kilo auf gut eins sechzig anpassen kann. Als ich das Boot erstmals sehe, bin ich wie vom Donner gerührt: Darüber wölbt sich ein Regenbogen.

Am 14. Februar 2003 unterschreibt Barry die Unterlagen, die mich zur überglücklichen Bootsbesitzerin machen. Jetzt sind der emeritierte Professor und die junge Träumerin so weit, einander zum Traum von der großen Reise zum Horizont zu verhelfen.

Der Wind aus Nordwest fegt konstant und kalt über das Achterdeck der Swell. Die Nachtwache um drei Uhr ist eine eisige Angelegenheit. Es ist unsere letzte Nacht auf See, bevor wir Cabo San Lucas anlaufen. Ich ziehe mir die Mütze tief in die Stirn und danke dem beißenden Rückenwind, in dem sich unsere Geschwindigkeit zwischen sechs und acht Knoten einpendelt. Ich lehne am Plichtsüll aus Teakholz und atme die Umgebung in mich ein.

Hoch über mir steht der fast volle Mond und erhellt die bergigen Konturen der südlichen Baja in Richtung Hafen. Das ausgebaumte Großsegel und die weißen Deckkanten leuchten im silbrigen Licht. Das leise Pfeifen des Windes und das Rauschen des Wassers entlang des Rumpfs klingen wie Musik im Vergleich zum Dröhnen des Dieselmotors. Noch 60 Meilen, bis wir das Kap erreichen.

Allein habe ich Zeit, nachzudenken. Es fühlt sich immer noch surreal an, dass ich tatsächlich hier an Bord meines eigenen kleinen Bootes stehe. Das alles wirkt so undenkbar – viel zu speziell, als dass es bloß ein glücklicher Zufall gewesen sein kann. In der Rückschau sehe ich allerdings, wie ich nur durch eine Serie aus Widrigkeiten genau hier habe landen können: Ich habe den enttäuschenden Job auf der Tamara lange verflucht, doch nur dank eines Abends, an dem ich Drinks auf dem Achterdeck servierte, durfte ich Barry kennenlernen; und trotz des entmutigenden Törns mit Rick hat mich die Erfahrung genau das gelehrt, was ich wissen musste, um die Swell für meine begrenzte Körperkraft und Größe ausstatten zu können. Ich weiß immer noch nicht, wie ich klarkommen soll, sobald meine Ersparnisse aufgebraucht sind. Ehrlich gesagt hatte ich noch keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen.

Die Wellenreiterin

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