Читать книгу Die Wellenreiterin - Liz Clark - Страница 23

Meeresschwingen

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Die Genua der Swell flappt lautstark und hat Schwierigkeiten, die leichte Brise einzufangen.

»Heute ist der Tag aller Tage, Snaggs«, sage ich zu Shannon. »Heute versuchen wir, den Spinnakerbaum zu setzen.« Mit immer neuen Wellen und Crewmitgliedern sind wir südwärts durch verschmutzte Häfen und die hübschen Buchten Zentralmexikos gesegelt. Wir befinden uns inzwischen auf halber Höhe des Landes und haben Kurs auf den berühmten Surfspot in Puerto Escondido gesetzt: die Playa Zicatela.

»Du meinst diese dicke Stange neben dem Mast?«

»Ja.« Vor unserer Abreise hat Rigger Marty mir erklärt, wie es geht, allerdings war ich bisher nicht mutig genug. Den langen Baum lotrecht zum Mast zu errichten und die Genua daran zu befestigen soll dazu dienen, dass sie besser im Wind steht. Wir müssen schneller werden, wenn wir Puerto Escondido bis Sonnenuntergang erreichen wollen.

Ich schleppe die nötigen Leinen nach draußen und gehe die Schritte im Kopf noch mal durch. Ich weiß noch, wie Marty so was wie »mit drei Leinen triangulieren« gesagt hat, »damit dieses Monster von einem Baum nicht außer Kontrolle gerät«, sprich: Eine Leine muss nach vorn, eine nach achtern gelegt und eine als Fall eingesetzt werden, um den Baum oben zu halten.

Erst nach mehreren Anläufen habe ich die Leinen richtig sortiert. Doch die Fallen verheddern sich, und ich lege die Leinen nach vorn und hinten falsch aus. Shannon stemmt sich gegen das Kajütdach und stabilisiert den Baum, während ich um sie herumspringe und versuche, die Leinen richtig anzuschlagen.

Als ich zu guter Letzt an der Winsch kurbele, hebt sich der Baum an die korrekte Stelle; Shannon hält die Leinen und zügelt sie zu beiden Richtungen. Wir befestigen sie, sobald der Baum steht, und ziehen die Genua wieder hoch. Der Baum hält das Segel perfekt, und mit dem vollen Großsegel backbords spreizt die Swell ihre Schwingen.

»Geschafft!«, jubelt Shannon.

»Ja – und wir sind direkt fast zwei Knoten schneller!«

Snaggs geht nach unten, um Sandwiches zu machen, während ich das bedeutsame Ereignis im Logbuch festhalte. Nach dem Mittagessen übernimmt Shannon die Wache, damit ich mich bester Laune hinlegen kann.

Mit jedem Tag lerne ich die Swell besser beherrschen. Ich blättere immer noch ständig in meinen Handbüchern, weiß aber endlich, wie ich den SSB-Funk einsetzen kann, um den Wetterbericht zu empfangen. Zwischen Planung und Vorbereitung der jeweils nächsten Etappe gehen wir surfen, besuchen hiesige Lokale und schließen neue Freundschaften. Zwei jungen Frauen wird einige Aufmerksamkeit entgegengebracht – und zumeist positive: Wir werden zu Abendessen eingeladen, auf Ausflüge mitgenommen und mit neugierigen Fragen gelöchert, sowohl von Einheimischen als auch von den anderen Seglern an den Ankerplätzen.

Für gewöhnlich werden Leute, die längere Zeit an Bord kleinerer Boote leben und reisen, »Cruiser« genannt. Einige haben sich vorübergehend ein Sabbatical von der Arbeit genommen, andere führen dieses Leben dauerhaft. Oft treffen wir ein und dieselben Leute gleich mehrmals, weil die meisten gen Süden unterwegs sind und dasselbe Zeitfenster nutzen wie wir, um Hurrikan-sicher ihr Ziel anzusteuern. Die meisten Cruiser sind wesentlich älter als Shannon und ich, wohl weil ein gewisser Kontostand erforderlich ist, um sich ein Boot und die Instandhaltung zu leisten. Hier und da gibt es »In-Betweeners«: Leute in den Dreißigern und Vierzigern, oftmals mit Kindern an Bord, und den einen oder anderen Einhandsegler. Aber die große Mehrheit sind Rentner, Pärchen, die nicht vorhaben, je wieder an Land zu gehen, und denen, was das Cruisen angeht, niemand mehr etwas vormachen muss: Leute, die Hühnereier mit Vaseline einschmieren, damit sie länger frisch bleiben, die elektronische Seekarten illegal downloaden und ganz genau wissen, welche Wäscheklammern die trocknende Wäsche an den Relingsleinen am besten festhalten. Der männliche Part weiß in Sachen Reparaturen immer guten Rat, während die Frau Vorhänge und Kissenbezüge nähen und aus wenigen einfachen Zutaten ein Festmahl zaubern kann.

Leute werden aus den unterschiedlichsten Gründen zu Cruisern. Einige genießen einfach nur die tagtägliche Happy Hour, die an den Anlegestellen in den Häfen gegen fünf Uhr nachmittags eingeläutet wird. Oft sind andere Segler an Bord herzlich willkommen, solange man nur seine eigenen Getränke mitbringt. Andere – Sporttaucher, Muschelsucher oder Surfer, wie wir es sind – gehen ihrem Sport oder Hobby nach. Viele lieben einfach nur das Segeln auf offenem Meer, die Freiheit und Abkehr von der Gesellschaft. Sie alle haben ihre ureigenen Geschichten, die sie erzählen – und manche tun es lauter als andere. Beinahe in jeder Bucht organisiert eine der Cruiser-Frauen – die froh ist, auch mal mit anderen zu sprechen als nur mit dem eigenen Ehemann – ein spontanes Abendessen, bei dem jeder etwas mitbringt. Die Einladung wird über UKW-Funk ausgesprochen. Ganz gleich, ob diese Abendessen am Strand oder auf einem der Boote stattfinden – derlei bunte Zusammenkünfte sind der soziale Klebstoff im Cruiser-Leben. So unterschiedlich sie alle sein mögen: Hilfsbereit, einander wohlgesinnt und bescheiden sind alle. Und es gibt eine goldene Regel: Wenn ein Cruiser Probleme hat, hilf ihm, so gut du kannst. Es wird irgendwann zwangsläufig der Moment kommen, da auch du selbst Hilfe brauchst.

Ich bin froh, dass ich Shannon an Bord habe. Sie ist geradeheraus, zu allen Schandtaten bereit – und sie lacht über meine Witze. In Begleitung zu segeln bedeutet, für vierundzwanzig Stunden am Tag aufeinanderzuhocken, und das ohne allzu viel Komfort oder Ablenkung. Man lernt die Eigenheiten des jeweils anderen wohl oder übel ziemlich schnell kennen und muss unterschiedliche Wünsche und Bedürfnisse durch Kompromisse ausbalancieren. Auf einem Boot gibt es keinerlei Privatsphäre; Probleme, Macken und Schwächen werden sofort offenkundig. Der sprichwörtliche »Elefant im Raum« kann den Untergang bedeuten. Es gibt keinen Fernseher, kein Internet, kein Take-away-Essen, wenn der Magen anfängt zu knurren. Shannon und ich kommen unter diesen Umständen hervorragend miteinander aus. Wir haben eine Vorderkajüte mit v-förmig angeordneten Kojen, das kleine Vorschiff mit der Pumptoilette, die zentrale Kajüte mit schmaler Pritsche, Kartentisch und Pantry sowie achtern zwei weitere Kojen – die kleinere dient als Lagerraum, in der größeren übernachtet Shannon. Zu dritt oder zu viert an Bord ist es durchaus mal ganz lustig, aber zu zweit haben wir dann doch ein bisschen mehr Luft zum Atmen.

Mit einem schlichten Nicken wechseln wir uns unterwegs mit der Wache ab. Während der Wachschicht müssen wir auf den weiteren Schiffsverkehr achten, auf Wetterumschwünge, Tonnen, Ausrüstungsprobleme. Wer immer gerade nicht Wache schiebt, liest, hört Musik, hält Ausschau nach Meeresgetier, döst in der Koje, kocht Essen, repariert Dinge oder schießt Fotos. Shannon steht am Steuerrad der Swell, während ich den Anker lichte oder hinunterlasse, und hilft mir, die Segel zusammenzulegen, wenn wir in einen Hafen einlaufen. Abends lesen wir einander Rachel Carsons Geheimnisse des Meeres vor und debattieren über verschmutzte Strände, Fabriken entlang der Küste und andere Umweltsünden, die wir unterwegs zu Gesicht bekommen.

In der kleinen Pantry der Swell werden morgens Tee und Porridge gekocht und am Abend Reis und Fisch, ein Curry oder Quesadillas. Gegenüber von Ofen und Spüle dient der rechteckige Deckel der Kühltruhe gleichzeitig als Arbeitsplatte – und wie oft entgleitet uns ein halb fertiges Sandwich oder klauben wir geschnippeltes Gemüse vom Boden auf. Obwohl man meinen sollte, dass auf beengtem Raum doch alles in Reichweite sein müsste, sind mitunter Verrenkungen und eine Menge Geduld nötig. Jeder Schrank, jede Unterbringung ist ein Universum für sich, und eine simple Sache herauszunehmen – ein Werkzeug, eine Pfanne –, heißt unter Umständen, erst alles andere herauszuräumen.

Auch wenn unser kleiner Wasseraufbereiter wieder wunderbar funktioniert, ist der Verbrauch von Trinkwasser strikt limitiert. Der Einsatz erfordert andauernde Filterwechsel und Reinigung – und Energie. Also spülen wir Geschirr mit Salzwasser, das wir per Pedal in die Pantryspüle pumpen. Wenn wir uns waschen, springen wir von Bord der Swell, seifen uns im Dingi ein und hüpfen ins Meer, anschließend spülen wir uns das Salz unter dem Duschkopf im Achterdeck ab.

Über Satellit zu telefonieren, kostet ein Vermögen. Wenn es sich nicht gerade um einen Notruf handelt, begnügen wir uns mittels SSB-Funk mit kurzen Textnachrichten nach Hause. Kommunikation geschieht hauptsächlich, wenn wir einen Hafen anlaufen. Dort verbringen wir Stunden in Internetcafés, verschicken E-Mails und Fotos und versuchen, die Fotos oder Artikel über unsere Netzwerke zu Geld zu machen. Barry und ich schreiben einander hauptsächlich E-Mails, weil sein Amateurfunkgerät zu Hause Probleme macht. Er musste sich seinen ersten Computer zulegen, und das trotz seiner »unheilbaren Allergie gegen alle Arten von Elektrogeräten«. Mir macht es Spaß, ihm etwa alle zwei Monate ausführlich von unseren Erlebnissen zu berichten. Anschließend überarbeite und kürze ich die Mails und update damit meine Website, und ich bin begeistert, wie viele Leute sie lesen. Eine Seite mit Surf-Vorhersagen repostet sie sogar! Außerdem will Patagonia – Bekleidungsmarke und Outdoorausrüster – mich sponsern!

Wann immer wir in einem Hafen ankommen, müssen wir uns erst bei den örtlichen Behörden anmelden. Anschließend füllen wir üblicherweise unseren Proviant, Sprit und das Propangas wieder auf, das wir fürs Kochen brauchen, und erledigen anstehende Reparaturen. Sofern die Möglichkeit besteht, waschen wir Wäsche: Wenn wir Glück haben, im Haus eines Bekannten oder in einem Waschsalon, häufiger jedoch schrubben wir unsere Klamotten in eimerweise Frischwasser, das an Land leichter verfügbar ist. Insofern ist »schmutzig«, was unsere Kleidung betrifft, inzwischen ein relativer Begriff, und was unseren »Style« angeht, ist stylish nicht annähernd so wichtig wie praktisch. Wir tragen Sachen, bis wir sie nicht mehr riechen und ertragen können.

Mitunter erweisen sich neue Surfspots, Sprachbarrieren oder die örtliche Bürokratie als einschüchternd, doch mit den Einwohnern an sich, mit diesen großherzigen Mexikanern, machen wir ausschließlich positive Erfahrungen. Sie bieten uns Mitfahrgelegenheiten an, frischen Fisch und Hilfe, wann immer sie können. Das allgegenwärtige Mañana bedeutet auch, dass die Bevölkerung es nicht eilig hat: Man begleitet uns ein Stück, stellt sicher, dass wir wissen, wo wir als Nächstes hinmüssen, und wiederholt alles so langsam, dass wir es auch garantiert verstehen. Obgleich für uns die Schere zwischen Arm und Reich augenfällig ist, scheint man hier enge Familienbande zu pflegen und einander nach Kräften zu unterstützen. Bereitwillig hilft man uns bei unseren Gringo-Bedürfnissen, selbst wenn kein Geld im Spiel ist.

Kurz vor Puerto Escondido holen Shannon und ich den Spinnakerbaum wieder ein und befestigen ihn in der Halterung. Sobald wir vor Anker liegen, beschließen wir, dass wir uns jetzt ein Eis verdient haben. Zum Glück ist es in der Bucht ruhig, sodass wir das Dingi nehmen können. Das ist nicht immer der Fall. Unsere abendlichen Ausflüge hängen davon ab, ob wir das Dingi vor der Küste ankern und durch die Brandung an Land schwimmen können. Dann erscheinen wir tropfnass und sandig und mit unseren wasserdichten Taschen im Schlepp zu Essenseinladungen oder in der Discoteca.

Um uns die Beine zu vertreten, machen wir einen Spaziergang durch die Stadt, schlendern an Verkaufsständen vorüber, an denen Zuckermais vom Grill, Tacos, traditionelle Webstoffe, allerhand klappernder Plastik-Tinnef, Porträtzeichnungen und kleine Holzschnitzereien angepriesen werden. Als wir einen Eisladen entdecken, stürzen wir hinein. Snaggs und ich sind mit wenig zufrieden: mit einem Eis, ein paar Wellen, einer Handvoll netter Jungs, mit denen wir flirten können, und mit einem halbwegs ruhigen Ankerplatz – und zwar in dieser Reihenfolge.

Draußen auf dem Gehweg genießen wir die schmelzende Köstlichkeit. Ein paar Kinder spielen in der Nähe auf der Straße ein Ballspiel. Eine Pelota fliegt in unsere Richtung, und ein zuckersüßes, pummeliges Mädchen rennt ihrem Ball hinterher. Dann bleibt sie wie angewurzelt stehen, starrt Shannons Eistüte an und bedeutet ihr, dass sie mal probieren will. Shannon gibt nach und drückt ihr das Eis in die Hand.

Die kleine Gordita, das »Pummelchen«, wie wir sie nennen, hat das restliche Eis kaum verputzt, als ein breit grinsender Junge angerannt kommt und ein leicht schiefes Rad schlägt. Ich drücke ihm mein Eis in die Hand, stehe auf und schlage ebenfalls ein Rad. Dann wirft das Mädchen Shannon den Ball zu, und Shannon wirft ihn weiter zu mir. Im Handumdrehen schwirrt die ganze Straße nur so von umherfliegenden Pelotas, fuchtelnden braunen Armen, freundlichen Remplern, Zwischenspurts, Tanzschritten und ungebändigten Schreien. Es ist, als wäre die Pausenklingel ertönt und als wären Shannon und ich auf den Schulhof zurückkatapultiert worden.

Nach einem guten Stündchen, in dem wir Touristen ausgewichen sind, Kinder herumgewirbelt und Pelotas geworfen haben, erhasche ich einen Blick auf Shannon, die in einem unförmigen Kreis von Kindern tanzt und begeistert ein Lied singt. Ich bin mir nicht sicher, wer gerade mehr Spaß hat – wir oder sie? Doch im Gegensatz zu ihnen geht uns allmählich die Puste aus. Wir brauchen einen Fluchtplan.

»Eis für alle?«, schlage ich vor – mit Barrys Großzügigkeit und der meines Vaters im Hinterkopf –, und Shannon nickt.

Auch die Mütter, die in der Nähe sitzen, ihre Handarbeiten verkaufen und das Spektakel verfolgt haben, geben ihren Segen. Wir scheuchen die Kinder in den Eisladen, und im Handumdrehen verdoppelt sich ihre Zahl, weil noch andere entlang der Straße mitbekommen haben, was hier gleich passiert. Selbst Juanito Chiquito – der sicher keine zwei Jahre alt ist – wird von seiner Schwester hochgehoben, damit er sich eine Eissorte aussuchen kann. Einer nach dem anderen paradiert mit seiner kalten Leckerei wieder nach draußen. Snaggs und ich gönnen uns eine zweite Portion und setzen uns wieder auf den Gehweg, wo alles angefangen hat und um uns herum eine Horde neuer Freunde, die an ihrem Eis schlecken, lachen und auf- und abspringen. Gordita sitzt eng zu meiner Linken und taucht ihr Löffelchen mal in ihre eigene, mal in meine Eiskugel.

Die Wellenreiterin

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