Читать книгу Aufstieg der Schattendrachen - Liz Flanagan - Страница 13

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6. Kapitel

Jo hatte keine Ahnung, wohin er lief. Angetrieben von Wut und Schuldgefühlen, rannte er einfach immer weiter und weiter durch die Hafenanlagen von Arcosi, die in der brütenden Hitze verlassen dalagen. Er hatte die Stadt noch nie so still erlebt. Das einzige Geräusch waren seine lauten Schritte, die durch die schmalen, gewundenen Gassen hallten.

Er erreichte den Stadtrand, wo die Häuser und Geschäfte den Lagerhallen Platz machten, von denen aus man den Hafen überblickte. Einige von ihnen gehörten immer noch seinem Vater. An ihn durfte Jo im Augenblick nicht denken. Er rannte weiter, Richtung Westen, dorthin, wo keine Gebäude mehr standen. Er überquerte den flachen Strand, an dem er schwimmen gelernt hatte. Durch den weichen, goldenen Sand wurden seine schweren Füße noch langsamer. Mit diesem Ort verband er nur gute Erinnerungen – er hatte in der Brandung gespielt; war im klaren blauen Wasser Schwärmen von kleinen silbernen Fischen nachgejagt und bis zu den alten, verwitterten Felsen hinausgeschwommen, die den Strand säumten. Die zerklüfteten Steinbögen sahen aus wie eine sich windende Schlange. Heute jedoch quälte ihn die Schönheit dieses Ortes. Sie gehörte zu seinem alten Leben, und das gab es nicht mehr.

Er wandte sich ab und begann, die felsige Landzunge hinaufzuklettern, bis er vom Strand aus nicht mehr zu sehen war. Er hielt erst an, als er weit in den unbewohnten Teil der Insel vorgedrungen war. Dort, hoch oben auf dem steilen Hang, blieb er schließlich stehen. Seine Wut war verpufft. Er war am Ende.

Bis auf die fernen Schreie der Möwen war es still. Er sah nur Meer und Himmel, fühlte nichts als das frühlingszarte Gras und die Felsen. Er rollte sich zu einer Kugel zusammen und bedeckte den Kopf mit seinen verletzten Händen. Seine Haut brannte wie Feuer, aber das schien ihm eine gerechte Strafe. Seine Hoffnungen waren zerstört. Seine Zukunft verloren. Er wusste nicht einmal mehr, wer er war. Jemand, der sich von seinen Freunden abgewandt hatte. Der sich nicht für sie freuen konnte. Der um ein Haar ein Drachenjunges getötet hätte und unschuldigen Menschen Schaden zugefügt hatte. Er konnte die Blicke nicht vergessen, mit denen sie in panischer Angst vor ihm davongelaufen waren.

Stundenlang lag Jo so da, bis sich der Himmel grau-violett verdüsterte und sich ein Sturm ankündigte.

Schließlich fand er die Kraft, sich aufzusetzen. Er kam sich vor wie eine vom Meer ausgewaschene Muschel: so leer, dass fast nichts mehr von ihm übrig war. Er schluckte mühsam. Sein Hals tat weh. Seine Lippen waren ausgetrocknet und rissig. Er war hungrig und fast am Verdursten. Er tastete seine Taschen ab, hatte aber nichts Essbares bei sich.

Als er sich umsah, entdeckte er ein Stück entfernt einige niedrige Büsche. Er kroch hinüber und war erleichtert, als er die orangefarbenen Sanddornfrüchte sah, die sich an den knorrigen Zweigen drängten. Er riss sie ab – die bittere Säure explodierte in seinem Mund – und aß, bis er Bauchschmerzen bekam und seine Finger von den Dornen bluteten. Nachdem er gegessen hatte, konnte er etwas klarer denken, es reichte gerade, um sich den nächsten Schritt zu überlegen. Wenn er überleben wollte – und ein kleiner, störrischer Teil von ihm bestand darauf –, musste er für die Nacht einen Unterschlupf finden.

Über ihm befand sich ein felsiger Überhang, unter dem sich ein dunkles Loch auftat. War dort eine Höhle? Noch während er hinschaute, löste sich etwas aus dem Schatten und flog eine wilde, schwirrende Schleife über den dunkelblauen Himmel. Eine Fledermaus! Dann musste dort eine Höhle sein. Trocken und sicher.

Jo kletterte auf den dunklen Höhleneingang zu. Das letzte Stück war sehr steil. Er schaute lieber nicht nach unten. Mit brennenden Armen und wackligen Beinen zog er sich hinauf, bis das Gras unter seinen Fingern in Kiesel und schließlich in Felsen überging. Der Eingang war größer, als er vermutet hatte, also stand er auf und ging hinein. Trotz seiner weit aufgerissenen Augen sah er nicht das Geringste. Es war, als wäre er blind geworden. Aber die Höhle war trocken und kühl und der Boden sandig. Jo machte noch ein paar Schritte, blieb dann stehen und lauschte. Der Raum fühlte sich jetzt anders an. Luft strich über sein Gesicht. Diese Höhle musste riesig sein.

»Aaah!« Etwas streifte seine Haare. Sein Herz klopfte so laut, dass er kaum noch klar denken konnte. Das ist eine Fledermaus, sagte er sich. Bloß eine Fledermaus. Als sich sein Puls wieder beruhigt hatte, hörte er die Tiere weiter rechts. Es war ein wuseliges Geräusch, das nicht aus unmittelbarer Nähe kam: tausend schrille Rufe. Hier drinnen musste es eine ganze Kolonie geben. Aber das machte ihm nichts aus. Er mochte Tiere und war mit ihnen schon immer besser zurechtgekommen als mit Menschen.

Da Jo kein Licht bei sich hatte und sich nicht verirren wollte, ging er nicht allzu tief in die Höhle. Der Raum weitete sich, und links von ihm befand sich eine sandige Kuhle. Er kniete sich hin und tastete sich um den Felsen. Der Platz war gerade groß genug für ihn. Ein schmales Bett für die Nacht. Er legte sich hinein. Endlich war dieser schreckliche Tag zu Ende.

Als Jo erwachte, strahlte das Mondlicht durch den Höhleneingang. Er stöhnte, war ganz steif und kalt, und die Verbrennungen in seinem Nacken und an den Händen brannten immer noch höllisch. Er zwang sich, nach draußen zu kriechen. Dort stand er auf und schüttelte sich und seine verkrampften Beine, bis er wach war. Durch das Licht des Vollmonds, das sich schimmernd im tintenschwarzen Meer spiegelte, war es fast taghell. Das war die perfekte Gelegenheit, begriff er benommen. Jetzt konnte er ungesehen nach Hause gelangen.

Als er durch die leeren Straßen huschte, kam er sich vor wie ein Geist. Er sah nur eine Katze und einmal aus den Augenwinkeln einen huschenden Schatten, der aber schon verschwunden war, als er sich umdrehte. Jo mied das Haupttor des Gelben Hauses und kletterte über die rückseitige Gartenmauer. Am Küchenbrunnen fiel er auf die Knie. Er tauchte die Hände in das klare, kalte Wasser und ließ sie dort, bis das Brennen endlich aufhörte. Dann füllte er einen Eimer und trank gierig, bis sein Magen rebellierte. Dass das Wasser dabei an ihm herunterlief, störte ihn nicht. Anschließend stand er auf und sah sich um.

Er hörte das leise Gemurmel des Nachtwächters, der am Haupttor mit jemandem sprach.

Im Haus war es still, die Lichter gelöscht. Alle schienen zu schlafen.

Sollte er zu seinen Eltern gehen und sie um Verzeihung bitten?

Doch dann fiel ihm wieder ein, was er getan hatte.

Und was er fast getan hätte.

Nein. Er rührte sich nicht von der Stelle.

Er hatte sie stolz machen wollen. Stattdessen hatte er Schande über sie und über seine Geschwister gebracht.

Nach diesem Tag war seine Familie ohne ihn besser dran.

Er gehörte nicht mehr dazu. Seine Eltern hatten Tarya, die Heerführerin der Insel, und Isak, den obersten Drachenwächter. Sie hatten Milla, die Nachfahrin des ältesten Geschlechts von Arcosi, die die Revolution geplant hatte, durch die Herzog Vigo an die Macht gekommen war. Sie brauchten keinen Schandfleck wie Jo, ein verzogenes, wütendes Kind. Nein. Solange er nicht etwas Sinnvolles vollbracht hatte, etwas, um den heutigen Tag wiedergutzumachen, musste er sich fernhalten.

Er schob die Küchentür auf und schlich in die Vorratskammer. Dort schnappte er sich ein Brötchen, stopfte es sich in den Mund und verschlang es so hastig, dass er fast daran erstickte. Dann nahm er einen weichen Lederrucksack und packte Essen hinein: Käse, getrocknetes Fleisch, Rosinen. Er fand eine leere Feldflasche und füllte sie mit Brunnenwasser. Er nahm eine der Sturmlaternen und zusätzliches Öl.

Was brauchte er noch? Das Überlebensset. Er riskierte es und schlüpfte durch den Vordereingang ins Haus. Das sanfte Mondlicht wies ihm den Weg zu seinem Zimmer.

Wo hatte er es hingelegt? Jo suchte im schwachen Licht, bis seine Hände den Lederzylinder ertasteten. Er schlang sich die Schnur um die Schulter und wollte los.

Da fiel sein Blick auf die purpurne Kappe und die Drachenreiterhandschuhe, die dort für ihn bereitlagen und auf ein Leben warteten, das niemals kommen würde. Er hatte von einer Zukunft geträumt, die nicht die seine war. Er verdiente sie ebenso wenig wie seine weißen Kleider. Er zerrte sich die zerrissene Jacke herunter, schleuderte sie fort und zog seine ältesten und wärmsten Sachen an. Die Geschenke von Conor und Amina fielen zu Boden, fast hätte er sie liegen gelassen. Erst im letzten Moment stopfte er sie in die Tasche und ging dann zur Tür.

Etwas hielt ihn zurück.

Er sollte sie wenigstens wissen lassen, dass er am Leben war. Aber wie?

Jo griff nach der Kette mit dem kleinen Silberanhänger an seinem Hals, Millas Geburtstagsgeschenk. Er nahm sie ab.

Vielleicht würde er sie sich eines Tages verdienen. Bis dahin stand es ihm nicht zu, sie zu tragen. Er war eine Schande für seine Familie. Das schwarze Schaf, der Watschler, das Monster.

Er legte die Kette auf die purpurnen Handschuhe und ging, das Überlebensset fest an die Brust gepresst.

Mit gespitzten Ohren schlich er die Treppe hinunter. Das Haus knarrte auf altvertraute Weise und verriet ihm, dass es leer war. Wo steckten seine Eltern? Aus dem Garten drangen Stimmen. Er schlüpfte zum Vordereingang hinaus und versteckte sich in einer dunklen Ecke, um im richtigen Moment über die steile Mauer hinter dem Übungsplatz zu klettern.

»Was hat er gesagt?«, fragte eine Stimme. Das war Matteo, der Koch.

Warum war Matteo noch wach, wenn er doch vor Tagesanbruch schon wieder aufstehen musste? Das sah ihm gar nicht ähnlich. Er würde morgen vor Müdigkeit nicht kochen können.

»Na, sie suchen immer noch – sie werden die ganze Nacht unterwegs sein.« Das war Gabriel, der jede Nacht am Haupttor Wache hielt. Nestan konnte von alten Gewohnheiten nicht lassen und behielt ihn weiter im Dienst, obwohl die Insel jetzt friedlich und sicher war.

Nach wem suchten sie? Nach ihm? Jos Herz schlug schneller. Er konnte die beiden kaum verstehen, so sehr rauschte das Blut in seinen Ohren. Er hasste den Gedanken, dass sein Vater, müde und enttäuscht, auf der Suche nach seinem missratenen Sohn immer noch dort draußen war.

»Eine schlimme Geschichte«, zischte Gabriel durch die Zähne.

»Ich war zwar nicht dabei, aber Jo ist ein guter Junge. Er hat es nicht böse gemeint«, verteidigte ihn Matteo.

»Ts.« Gabriel schnalzte mit der Zunge. »Ob böse oder nicht, er war der Auslöser. Es gab viele Verletzte heute. Die Heilkundigen wissen nicht, ob der halb totgetrampelte Junge es schaffen wird. Nein, dafür wird sich der Bursche verantworten müssen.«

»Ich habe gehört, die Bruderschaft hätte die Situation zu ihren Gunsten ausgenutzt.«

»Stimmt, und das sollten sie vielleicht auch. Vielleicht haben sie nicht ganz unrecht.«

»Das bedeutet nichts Gutes für seine Schwester und den Herzog.« Die Männer entfernten sich, und ihre Stimmen wurden leiser.

Jo wäre am liebsten im Erdboden versunken. Hatte er womöglich den Tod eines Kindes verschuldet? Der Gedanke war unerträglich. Bestimmt hasste ihn jetzt die ganze Insel, und wer sollte das den Leuten verdenken?

Was die davongehenden Männer als Nächstes murmelten, konnte Jo nicht verstehen, den letzten Teil aber sehr wohl.

»Ohne Lady Milla wäre er jetzt tot. Für seine Leute wäre es wahrscheinlich sogar besser so.« Gabriel sprach Jos größte Befürchtung laut aus.

Es verschlug ihm den Atem.

War es das, was die Leute dachten?

Innerhalb eines einzigen Tages war sein ganzes Leben zerstört, und zurück blieben nichts als Trümmer und Enttäuschung. Ohne sich darum zu kümmern, wer ihn sah, floh Jo von seinem Zuhause, wohl wissend, dass er niemals zurückkehren konnte.

Aufstieg der Schattendrachen

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