Читать книгу Aufstieg der Schattendrachen - Liz Flanagan - Страница 14

Оглавление

7. Kapitel

Jo war sich nie ganz sicher, was als Nächstes geschah. Bei der Zeremonie hatte er vor Wut gekocht, während er nun wie betäubt und starr vor Schreck durch einen Albtraum taumelte. Der stürmische Wind trieb heftige Regenschauer heran. Später war sein Körper von blauen Flecken und Kratzern übersät, und seine schlammigen, durchweichten Kleider waren zerrissen, also musste er gerannt, geklettert und gefallen sein. Er erinnerte sich vage an seine mörderische Runde durch den Hafen. Im strömenden Regen hatte er einen Kapitän nach dem anderen angefleht, ihn mitzunehmen, Hauptsache, fort von der Insel. Zwei Dinge machten das unmöglich: Er hatte kein Geld. Und jeder Seemann erkannte in ihm auf den ersten Blick Nestans Sohn. Er solle nach Hause gehen und seinen Eltern sagen, dass ihm nichts passiert sei, rieten sie ihm. Sie klangen nicht böse, aber ihre Augen sprachen eine andere Sprache: Verschlossen und enttäuscht wirkten sie, sie wollten nichts mit ihm zu tun haben.

Als die Morgendämmerung anbrach, war es, als würde er aus einem bösen Traum erwachen. Er stand allein auf einem grasbewachsenen Felsvorsprung oben auf den Klippen im Nordwesten von Arcosi.

Der Wind wehte böig und spritzte ihm Regen ins Gesicht, fast als täte er das mit Absicht. Der Himmel war fleckig grau und verhieß weitere Niederschläge. Jo sah nach unten: Weit, weit unter ihm wichen die gezackten Felsen dem tosenden Meer. Von hier oben wirkte es schwarzblau und sehr kalt.

Während er unentwegt in die Tiefe starrte, sah Jo plötzlich einen Ausweg. Seine Schande war so groß, dass es ihm verlockend erschien, sich davon zu befreien, selbst auf diese Weise.

Er zitterte. Nein! Er wollte nicht wirklich sterben – er wollte einfach nur von vorn anfangen, jemand anders sein. Jemand Besseres.

Er war so müde.

Er schloss die Augen und sammelte sich.

In diesem Moment schob sich die Sonne durch einen schmalen Wolkenspalt am Horizont. Jo spürte die Veränderung des Lichts. Hinter seinen geschlossenen Augenlidern wurde die Welt purpurrot, wie das Purpur in seinen Träumen.

Das Purpur des Drachen, den er nicht hatte.

Es tat nicht weh. Es war beruhigend.

Zitternd stand Jo mit geschlossenen Augen da und badete im purpurnen Glanz. Und er spürte einen ersten winzigen Hoffnungsschimmer. Irgendetwas wartete dort draußen auf ihn.

Er konnte noch einmal von vorn anfangen, aber das würde ein harter Weg werden. Wenn er ein besserer Mensch werden wollte, lag das in seiner Hand. Und wenn er jetzt damit anfing, könnte er eines Tages vielleicht wieder erhobenen Hauptes dastehen.

Vielleicht könnte er eines Tages sogar nach Hause zurückkehren.

Langsam, ganz langsam öffnete er die von Salz und Tränen verklebten Augen. Er fiel auf die Knie, spürte das nasse Gras, das seine versengten Fingerkuppen kühlte. Er wandte sich vom Klippenrand ab und gestattete sich endlich zu weinen. Sein ganzer Körper wurde von tiefen Schluchzern geschüttelt, während er lang ausgestreckt auf der Erde lag.

Er weinte über den fremden, gefährlichen Menschen, der er gestern gewesen war.

Er weinte, bis keine Wut und Enttäuschung mehr in ihm waren.

Er weinte, bis keine Eifersucht und Arroganz mehr in ihm waren.

Er weinte, bis keine Scham und kein Kummer mehr in ihm waren.

Er weinte, bis nichts mehr übrig war.

Er fühlte sich wie ein leeres Blatt Pergament, und das war eine Erleichterung. Es war Zeit, neu anzufangen.

Dann taumelte er zurück zu seinem Versteck in der Höhle. Sein Überlebensset und die Laterne trug er immer noch um die Schulter geschlungen, den Rucksack mit Essen hatte er verloren.

Am Höhleneingang nahm er sich einen Moment Zeit, um die Sturmlaterne anzuzünden, und bemerkte dabei vage, dass seine verbrannten Hände bebten. Ohne weiter darauf zu achten, hob er die Laterne über den Kopf. In dem zitternden goldenen Lichtkreis konnte er den Eingangsbereich der Höhle mit der kleinen Biegung an der Seite, wo er letzte Nacht geschlafen hatte, nun klar erkennen. Zu seiner Rechten lag tatsächlich eine größere Kammer, die voller Fledermäuse war. Der kräftige, unverwechselbare Geruch stach ihm in die Nase. Einige Schritte weiter befand sich eine Art Durchgang. Er lief hindurch und entdeckte eine breite Treppe mit ausgetretenen Stufen.

Stufen?

Stufen waren menschengemacht. Stufen führten irgendwohin.

Hatte er sich nicht einen neuen Weg gewünscht? Nun, hier war er. Wohin er führte, war Jo gleichgültig, daher hob er die Sturmlaterne und ging die steinernen Stufen hinab. Die Dunkelheit machte ihm keine Angst. Mit einer Hand berührte er die Wand: Sie war kühl und rau. Die Luft roch nach Salz, Feuchtigkeit und Staub. Von dem gelben Lichtkreis sicher geleitet, stieg er immer tiefer und tiefer hinab.

Jo erreichte die unterste Stufe. Der Gang verlor sich im Dunkeln. Er war breit genug, um mit ausgestreckten Armen hindurchzugehen, und hoch genug, um sich nicht den Kopf zu stoßen. Die Wände waren leicht gewölbt, als hätten Wind und Regen sie geformt, aber hier unten war es für beides zu tief. Der Tunnel knickte ab, und Jo ging langsam und gleichmäßig weiter. Er stieg aufwärts und bog ab, ließ eine Kehre nach der anderen hinter sich und folgte dem Verlauf des Tunnels wie eine Ratte.

Als er um eine weitere Biegung kam, blieb er verblüfft stehen.

Er stand in einem gewaltigen Raum, der sich zu allen Seiten ausdehnte und größer war als der große Festsaal im Palast. Jo konnte nicht einmal die Decke erkennen, doch sie musste irgendwo weit über ihm ein Loch haben, denn ein Lichtstrahl fiel herein und durchbrach die Dunkelheit. Außerdem hörte er Wasser rauschen. Ein Bachlauf wand sich durch die riesige Höhlenkammer, floss an ihrem Ende in eine Art Becken und entschwand dann dem Blick. Jo ging hin und tauchte einen Finger ins Wasser. Er schnüffelte und leckte daran. Es schmeckte leicht schwefelig, ansonsten aber sauber, und es hatte einen metallischen Geruch. Er tauchte die Hand hinein und trank einen Schluck. Das Wasser war so kalt, dass es an den Zähnen wehtat.

Jo ließ sich Zeit bei seinem Erkundungsgang. Die Höhlenkammer erwies sich als trocken und geräumig, außerdem sickerte von hoch oben Tageslicht herein. Sie war wie eine unterirdische Drachenhalle, wurde Jo schmerzhaft klar. Er atmete zittrig ein, akzeptierte, was er verloren hatte – und was er gerade gefunden hatte. Dieser geheime Ort würde ihm allein gehören. Ein Heim für ein Monster. Ein unter Arcosi verborgenes Königreich. Hier konnte er bleiben, während er sein Leben neu aufbaute. Hier konnte er für immer bleiben.

Aufstieg der Schattendrachen

Подняться наверх