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2. Kapitel

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Die Insel Arcosi war in heller Aufregung. Es ging zu wie auf einem riesigen Ameisenhügel. Glockengeläut hallte bergauf und bergab durch die steilen, gewundenen Straßen und rief alle zur Schlüpfzeremonie auf den Marktplatz in der Nähe des Hafens.

Jo und die anderen Anwärter versammelten sich in der schattigen Straße oberhalb des Marktplatzes und warteten darauf, dass man sie rief. Unter den wachsamen Blicken von vier Drachenwächtern verabschiedeten sie sich von ihren Eltern.

»Viel Glück, Jo«, raunte seine Mutter ihm ins Ohr, als sie ihn umarmte. Dann trat sie zurück und strich ihm die Haare glatt, die ihm, wie immer, über der Stirn vom Kopf abstanden.

Er sah ihr an, dass sie noch mehr sagen wollte, aber er wandte sich seinem Vater zu, der in der Menge nach Isak und Tarya Ausschau hielt. Mit einem Anflug von Besorgnis bemerkte er, wie alt sein Vater aussah, als er dort auf seinem Gehstock lehnte, seine Haare leuchteten im Sonnenlicht schlohweiß.

»Wiedersehen, Vater.« Jo kam Nestan mit einer hastigen Umarmung zuvor. »Geht lieber runter, damit eure Plätze nicht weg sind.«

Nestan nickte. »Wir finden dich schon, hinterher

Hinterher. Wenn er, ganz vielleicht, einen Drachen im Arm halten würde! Jo versuchte, es sich vorzustellen: ein zappelndes purpurrotes Drachenjunges in seinen Armen. Seine Aufregung wurde immer größer.

Jo sah seinen Eltern hinterher, als sie auf dem heißen, überfüllten Marktplatz ihre Plätze suchten. Heute gab es dort keine Buden. Stattdessen saßen die Menschen in steil angeordneten Sitzreihen, als wären sie in einem Theater und warteten auf den Beginn der Vorstellung. Festliche Flaggen mit den Symbolen von Arcosi und Sartola wehten im Wind. Und genau in der Mitte lag, wie eine Bühne, ein sonnenbeschienener, kreisrunder Platz und wartete auf die Ankunft der Drachen und der Eier. Jos Magen verknotete sich vor Anspannung.

»Jo!«

Als er sich umdrehte, sah er seine Freunde, Amina und Conor, auf sich zustürmen, die ebenfalls in Weiß gekleidet waren. Sie mussten vor ihm angekommen sein. Er war froh, dass er mit ihnen zusammen Anwärter war.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!« Das war Amina, die vor Energie nur so sprühte und sich zu ihm durchdrängte. Um den Kopf trug sie ein neues weißes Tuch, das zu ihrem weißen Gewand passte.

»Amina!« Plötzlich kam Jo der Tag noch heller vor.

Conor folgte etwas langsamer und versetzte ihm einen leichten Stoß. »Nur weil du Geburtstag hast, bekommst du noch lange nicht den ersten Drachen, klar?«

»Natürlich nicht!« Jo grinste Conor an. »Aber wer weiß?«

»Anwärter!«, rief ein Drachenwächter, um sie auf sich aufmerksam zu machen. »Die Eier werden bald ankommen. Es dauert nicht mehr lange: Habt Geduld und nehmt eure Plätze ein.«

»Ha, der Teil dauert immer länger, als man denkt«, sagte Amina, die ungeduldig auf den Zehenspitzen wippte. »Das weiß ich noch von der letzten Zeremonie. Sie trauen sich nicht, die Kutsche schneller fahren zu lassen, damit die Eier nicht zu stark erschüttert werden. Wir haben also noch Zeit, dir deine Geschenke zu geben!«

»Jetzt?«, fragte Jo. »Aber sie werden uns gleich aufrufen.« Alles andere wurde zweitrangig.

»Nein, letztes Mal haben sie ewig gebraucht«, sagte Conor. »Alles Gute zum Geburtstag, Jo.« Er zog ein Päckchen aus der Tasche und gab es ihm. »Vorsichtig. Schneid dir nicht den Daumen ab. Ich weiß, wie ungeschickt du dich manchmal anstellst, Kumpel.«

Jo wickelte einen weichen Lederbeutel aus. Er öffnete ihn und holte ein kleines Messer mit einem Griff aus Elfenbein heraus, in den ein Flammen speiender Drachenkopf geschnitzt war.

»Vater und ich haben es letzten Winter auf einer Handelsreise gefunden«, sagte Conor. »Ich habe es für dich aufgehoben.«

»Boah!« Jo testete die Klinge an seinem Daumen. »Autsch. Ist die scharf!« Ein roter Blutstropfen bildete sich.

»Ich hab dich gewarnt, Dummi«, sagte Conor.

»He.« Jo steckte die Klinge in die Scheide und stieß Conor mit dem Ellbogen an.

»Er meint Danke«, sagte Amina.

»Danke, Conor. Im Ernst.« Jo verstaute das Messer vorsichtig in der Innentasche seiner weißen Jacke.

»Ich bin dran!«, sagte Amina, holte ein winziges Päckchen heraus, das in purpurrote Seide gewickelt war, und überreichte es Jo. Ihre Augen funkelten im Sonnenlicht wie Bernstein, und der blasse Schal betonte ihre braune Haut. Sie strahlte ihn mit ihren weißen Zähnen an, umarmte ihn hastig und sagte: »Das habe ich für dich gemacht.«

»Danke.« Jo war gerührt. Beim Öffnen des Päckchens leuchtete ihm eine schillernde Farbenpracht entgegen. Auf einem kleinen Stoffstück war auf tiefblauem Hintergrund ein purpurroter Drache eingewebt; aneinandergereihte bunte Sechsecke bildeten den Saum.

Schon wieder ein purpurner Drache! Wenn das kein Zeichen ist. »Das ist unglaublich«, sagte er. »Wirklich!«

»Wann bist du so gut geworden, Amina?«, fragte Conor vornübergebeugt. Er klang beeindruckt.

»Ich habe abends daran gearbeitet, wenn ich mit meinem Tagwerk fertig war.«

»Das muss ewig gedauert haben!«, sagte Jo.

Amina bekam rosige Wangen. »Das Blau habe ich mit Indigo von den Seideninseln hergestellt.« Amina kam aus einer Weberfamilie, die von dort stammte und sich einige Generationen zuvor auf Arcosi niedergelassen hatte. »Und das Rot habe ich aus Krappwurzel selbst angemischt …«

Jo faltete das Stoffstück sorgfältig zusammen und steckte es in die Hosentasche. Der Tag wurde immer mehr zu etwas ganz Besonderem. Er wollte gern sagen, wie glücklich er war. Wie wunderbar es sich anfühlte, Freunde zu haben, die ihn so gut kannten. »Ihr beide! Es ist … ich bin … versteht ihr?« Er fand keine Worte, stand einfach nur da und grinste sie an. »Vielen Dank.«

»Gern geschehen«, sagte Conor und grinste zurück.

»Noch fünf Minuten!«, rief der Drachenwächter ihnen zu. »Stellt euch bitte auf!«

Alle starrten schweigend zum Ende der Straße. Sie hatten diesen Moment geprobt. Sie wussten, wie es ablaufen würde, dennoch war das Ganze Ehrfurcht erregend.

Sämtliche Köpfe wandten sich um und sahen der Prozession der Drachen und der Eier-Kutsche entgegen. Sie rollte langsam die breite Hauptstraße entlang, die sich wie eine Schlange um die Insel wand.

Jo erhaschte einen Blick auf die Drachenmutter Ravenna. Sie schritt vor den Drachenwächtern her, die das Gefährt zogen. Als sie das Ende der Straße passierte, füllte sie den Durchlass vollständig aus. Jo sah ihre schwarzen gefalteten Flügel und den langen geschuppten Rücken, ihre Krallen glänzten auf dem Kopfsteinpflaster. Als spürte sie seinen Blick, wandte Ravenna den riesigen Kopf, starrte ihn aus gelben Augen an und fauchte.

Jo schnappte nach Luft. Er hatte zwar vom Beschützerinstinkt der Drachenmütter gehört, aber es war etwas völlig anderes, wenn dieser sich gegen einen persönlich richtete.

Doch ihm blieb keine Zeit: Die Anwärter setzten sich ebenfalls in Bewegung und folgten der Prozession die Hauptstraße hinab. Jo schaute über die Köpfe der anderen und stellte fest, dass er der Größte von allen war.

Conor ging vor ihm, seine rotbraunen Locken zerzausten beim Gehen immer mehr. Hinter ihm kam Amina, die vor Ungeduld ganz zappelig wirkte.

Jetzt entdeckte Jo mitten auf dem Marktplatz seinen Bruder und seine Schwester. Eigentlich waren sie seine Halbgeschwister, aber in Jos Augen gab es diesbezüglich keine halben Sachen. Er liebte beide abgöttisch.

Sein Bruder, der oberste Drachenwächter von Arcosi, war berühmt dafür, jedes Buch in der städtischen Bibliothek gelesen zu haben. Groß und ruhig, mit weißen Haaren und schwarz umrandeten Augengläsern, stand Isak jetzt vor der Drachenmutter und ihrem abgedeckten Gelege. Sämtliche erwachsenen Drachen von Arcosi bildeten einen Kreis um sie – ein Dutzend insgesamt.

Als Nächstes fiel Jos Blick auf seine Schwester Tarya, die neben ihrem Ehemann, Herzog Vigo, stand. Tarya war die Befehlshaberin der Armee von Arcosi. Sie hatte die Truppen in der Revolution zum Sieg geführt, in der Vigo vor dreizehn Jahren zum Herzog wurde.

Jo fiel auf, wie müde seine Schwester aussah. Taryas wilde blonde Locken waren nach Art der Drachenreiterinnen fest an den Kopf geflochten. Sie hatte ihr Schwert umgeschnallt und trug ihre Prunkrüstung samt Armschützern. Sie war immer seine leidenschaftliche, patente Schwester gewesen, aber jetzt wirkte ihr Gesicht gräulich. Alle kannten den Grund dafür: Vor Kurzem hatte sie bekannt gegeben, dass sie ein Kind erwartete. Sie biss sich auf die Lippen, als würde sie gegen Übelkeit ankämpfen. Josi hatte ihr erklärt, dass es normal sei und sie sich bald wieder kräftiger fühlen würde. Hoffentlich musste Tarya sich nicht an Ort und Stelle übergeben – das wäre schrecklich für sie.

Neben Tarya stand ihre Stellvertreterin und alte Freundin Rosa, zusammen mit Rosas riesigem orangefarbenem Drachen Ando. Alle gingen davon aus, dass Rosa die Heerführerin vertreten würde, während sie sich um ihr Neugeborenes kümmerte. Einige waren überrascht, dass das noch nicht geschehen war.

»Halt!«, rief der Drachenwächter, der den Anwärtern vorausging.

Jo und die anderen blieben direkt vor dem Marktplatz stehen. Der Herzog würde die Zeremonie jeden Moment eröffnen, und dann sollten sie hintereinander auf den Platz ziehen, um ihre Positionen einzunehmen.

Er spürte, wie er vor Aufregung und Ungeduld am ganzen Leib zitterte.

In diesem Moment schob sich jemand zwischen Jo und Amina, beugte sich vor und murmelte über Jos Schulter: »Du glaubst wohl, heute wäre dein Glückstag, was, Geburtstagskind?«

Es war Noah aus Jos Gruppe in der städtischen Schule, die alle Kinder von Arcosi zumindest einige Jahre lang besuchten. Er war klein und drahtig, hatte ein schmales, sommersprossiges Gesicht und hellbraune Haare, die ihm ständig über die Augen fielen. Auch er trug die weiße Kleidung eines Anwärters.

»Was machst du hier?« Jo wurde das Herz schwer. »Ich dachte, du hasst den Herzog und meine Schwester.«

Noahs Vater war einer der Soldaten gewesen, die wegen der Drachen nicht mehr gebraucht wurden. Er war im letzten Jahr bei einer Straßenschlägerei getötet worden, und Noah gab Vigo und Tarya die Schuld dafür, dass sein Vater seine Arbeit, seinen Stolz und sein Leben verloren hatte.

Jo und seine Freunde hatten sich bemüht, freundlich zu Noah zu sein, während dieser trauerte, aber er hatte es ihnen nicht leicht gemacht.

»Na und?« Noah kniff die Augen zusammen und starrte zum Herzog hinüber. »Warum soll ich mir einen Drachen durch die Lappen gehen lassen?«

Conor und Amina wechselten einen besorgten Blick.

»Also gut, Noah.« Conor wandte sich an den Jüngeren und sagte freundlich: »Jetzt ist es an den Drachen. Sie werden wählen, wen sie wollen.«

»Ich bin ein echter Norländer, kein Halbling wie Jo oder zugereist wie ihr beide. Natürlich wird mich ein Drache auswählen.«

Vor der Revolution, unter der Herrschaft des alten Herzogs, waren auf der Insel Menschen norländischer Abstammung privilegierter und wohlhabender gewesen als alle anderen.

»Ach, das interessiert doch niemanden mehr«, sagte Jo, der sich eine schärfere Erwiderung verkniff. Er hatte die blauen Augen seines Vaters und die schwarzen Haare seiner Mutter geerbt, während seine Haut hellbraun war. Manchmal irrten sich die Leute bezüglich seiner Herkunft. Aber er war noch nie so beleidigt worden, zumindest nicht von Angesicht zu Angesicht. »Halbling?«, wiederholte er und versuchte es mit einem Lachen abzutun. »Hast du dir das ausgedacht?« Der Begriff klang lächerlich.

»Das glaubst auch nur du!«, sagte Noah. »Aber wart’s nur ab –«

Einer der Drachenwächter kam mit finsterer Miene auf sie zu. Sie verstummten. Keiner von ihnen wollte ausgeschlossen werden. Schon gar nicht jetzt, im allerletzten Moment.

»Worauf warten die noch? Ruft uns endlich auf den Platz!«, murmelte Noah, als der Drachenwächter weitergegangen war.

Jo schaute nach vorn, um zu sehen, was los war.

Isak sprach mit der Mutter der Eier, dem wilden schwarzen Drachenweibchen Ravenna, das sich mit Lanys verbunden hatte. Früher hatte Lanys im Gelben Haus als Dienstmädchen gearbeitet und Isak bedient. Mit Milla hatte sie im ständigen Konkurrenzkampf gestanden. Jetzt stand die junge Frau steif und mit hochgezogenen Schultern da und starrte alle finster an.

Gab es ein Problem? Jo musterte Lanys: Ihr sommersprossiges Gesicht war bleich vor Sorge, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen. Ihr rotbraunes Haar war straff nach hinten geflochten, jeder Muskel in ihrem Körper angespannt. Jo konnte nur erahnen, wie schwer es sein musste, seinem eigenen Drachen bei der Brut zuzusehen, ohne helfen oder sich ihm nähern zu können. Brütende Drachenmütter waren gefährlich, das wussten alle. Ihr Beschützerinstinkt war so mächtig, dass sie jeden verletzen oder töten würden, der ihren Eiern zu nahe kam.

Es gab ein Gerücht, dass jemand kurz nach der Rückkehr der Drachen ein Ei zerstört hatte. Die Drachenmutter hatte reagiert und die Person getötet, ehe irgendjemand sie aufhalten konnte. Jo sah Ravenna an und begriff bestürzt, dass die anderen Drachen vor Ort waren, um die Anwärter zu schützen, nicht die Eier.

Lass uns durch, dachte er, als er Lanys ansah. Lass einfach zu, dass wir uns mit den Drachenjungen verbinden, dann bekommst du deine Ravenna zurück.

Als hätte sie ihn gehört, drehte sich Lanys um und starrte die wartenden Anwärter noch finsterer an als alle anderen.

Schließlich wandte sich Isak von Ravenna ab. Er richtete sich auf und sagte mit lauter Stimme: »Willkommen zur sechsten Schlüpfzeremonie in der Regierungszeit von Herzog Vigo …«

Applaus brandete auf, und der Jubel hallte auf dem Marktplatz wider.

Dann war er da, der Moment, auf den Jo sein Leben lang gewartet hatte.

Aufstieg der Schattendrachen

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