Читать книгу Aufstieg der Schattendrachen - Liz Flanagan - Страница 7

1. Kapitel Sechs Monate früher

Оглавление

Jowan Thornsen träumte vom Fliegen. Seine Hände umklammerten einen purpurroten schuppigen Hals, der Wind zerrte an seinen Haaren, das Meer glitzerte unter ihm, während sein Drache durch die Lüfte sauste …

Als Jo aufwachte, lächelte er immer noch. Dann verblasste der Traum, und er setzte sich ruckartig auf, weil ihm klar wurde, welcher Tag heute war. Der Tag der Schlüpfzeremonie fiel mit seinem zwölften Geburtstag zusammen. Seine Freunde Amina und Conor waren überzeugt, dass es Glück bedeutete. Und jetzt träumte er auch noch von einem Drachen? Das musste ein gutes Omen sein. Heute war der Tag, an dem sich sein Leben für immer verändern würde. Womöglich war er heute Abend mit einem frisch geschlüpften Drachen verbunden. Er würde in die Drachenschule von Arcosi ziehen. Seine gepackte Tasche stand bereit. Er war aufgeregt und konnte nicht länger still im Bett liegen.

Er sprang auf und zog seine Hose und das zerknitterte Hemd vom Vortag an. Die bereitgelegten neuen weißen Kleider ließ er unangetastet liegen. Sie waren für die Zeremonie. Am liebsten wäre er laut singend und jubelnd losgelaufen, doch es war noch früh am Morgen, daher schlich er leise nach unten, vermied die knarrenden Dielenbretter und sprang die letzten drei Stufen auf einmal hinab. Aus dem Schlafzimmer seiner Eltern drang kein Laut.

Draußen kräuselte sich der Rauch aus dem Küchenschornstein in den mit rosa Wolken übersäten blauen Himmel. Jo spähte durch einen Spalt in die Küche. Matteo, der Koch, war nirgends zu sehen, allerdings stand ein großer Teller mit dampfenden Zimtschnecken auf dem Arbeitstisch. Die mochte Jo am liebsten. Leise schlich er hinein und schnappte sich zwei Schnecken, an denen er sich prompt die Finger verbrannte. Als er sie in die Hosentasche steckte, spürte er die Hitze durch den verschlissenen Leinenstoff. Dann huschte er durch die Hintertür hinaus, lief eilig durch den Garten und kletterte auf die hohe Steinmauer des Übungsplatzes, auf dem er viele Stunden an seinen Schwertkünsten gearbeitet hatte.

Dort hockte er wie eine Taube und schaute über die Dächer von Arcosi, während ihm der Wind ins Gesicht wehte und ihn wieder an seinen Traum erinnerte. Jo breitete die Arme aus, als wären es Flügel, und ihm wurde ganz leicht ums Herz. Sein Blick glitt über die Schiffe, die tief unter ihm im Hafen lagen, und hinaus auf das blasse Meer, das sich in sämtliche Himmelsrichtungen erstreckte. Heute hatte er zum ersten Mal die Chance, sich mit einem Drachen zu verbinden. Er schaute auf das Wasser und stellte sich vor, darüberzufliegen. Es war so nah, dass er es schmecken konnte. Es würde genauso sein wie in seinem Traum.

In diesem Moment verdunkelte sich der Himmel, und ein Drache mit saphirblauen Flügeln glitt tief über ihn hinweg. Die Erde knirschte, als der Drache mit dumpfem Flügelschlag auf dem Übungsplatz landete.

»Milla!« Jo sprang von der Mauer, um seine Cousine zu begrüßen. »Ich dachte, du wärst zu beschäftigt, um heute vorbeizukommen.«

»Für deinen Geburtstag bin ich nie zu beschäftigt, Jo!« Milla rutschte von ihrem Drachen, und Jo fiel ihr um den Hals. »Drachenzähne aber auch! Ich schwöre, du bist seit letzter Woche schon wieder gewachsen.«

Es stimmte. Jo wuchs so schnell, dass ihm jede Nacht die Beine wehtaten. Ständig stieß er sich irgendwo an, so ungewohnt war sein neuer Körper für ihn. Doch das war nicht das Einzige, was neu für ihn war: Seltsame, extreme Stimmungen erfassten ihn wie Sturmwinde. Sie verschwanden ebenso schnell, wie sie kamen, deshalb behielt er diese Stimmungsschwankungen für sich und hoffte, niemand würde etwas bemerken.

»Jetzt bist du so groß, dass du mich im Kreis herumschwingen kannst.« Milla löste sich aus seiner Umarmung. Ihre Augen leuchteten, die schwarze Locken umrahmten ihr Gesicht. »Wag ja nicht, das auszuprobieren, sonst hetze ich dir Iggie auf den Hals.«

Jo lachte über ihren scheinbar ernsten Ton. Sie mochte eine der ersten Drachenreiterinnen von Arcosi und inzwischen fast fünfundzwanzig sein, aber sie war immer noch jederzeit zu einem Schabernack aufgelegt, und dafür liebte er sie.

Er streckte die Hand nach ihrem riesigen blauen Drachen aus, der ihn mit einem von Funken begleiteten Knottern und heftigem Kopfnicken so begeistert begrüßte, dass er Jo fast umwarf. Iggie war mindestens doppelt so groß wie das größte Zugpferd auf der Insel, und seine Flügel waren gewaltig. Jo strich ihm über den schuppigen Hals. Vielleicht würde er bei Sonnenuntergang selbst einen Drachen besitzen und durfte einen echten, lebenden Drachen in den Armen halten. Was wäre das für ein Geburtstagsgeschenk!

»Dort habe ich früher auch immer gesessen«, sagte Milla und zeigte auf die Mauer. »Man hat den besten Blick über die Stadt. Wollen wir?«

Sie kletterten hinauf und setzten sich nebeneinander. Ein schemenhafter Vollmond machte der aufgehenden Sonne Platz, aber die Luft war immer noch kalt.

»Alles Gute zum Geburtstag, Jo. Das hier ist für dich.« Milla reichte ihm einen kleinen Lederbeutel.

»Vielen Dank«, sagte er und zog die Kordel auf. Als er den Beutel vorsichtig umdrehte, rutschte etwas Kleines, Glänzendes in seine Handfläche. Es sah aus wie eine Münze an einer dicken Silberkette.

»Es ist der gleiche Anhänger wie meiner«, sagte Milla und berührte die Schmuckmünze, die sie immer um den Hals trug.

Jo hob die silberne Münze in die Höhe und betrachtete die Gravur: ein Kreis, der den Vollmond darstellte, mit einem fliegenden Drachen darunter. Das Symbol ihrer Familie, der alten Drachenreiter von Arcosi.

»Oh, Milla.« Jo suchte nach Worten. »Das ist perfekt. Ich werde die Kette heute tragen, damit sie mir Glück bringt.«

»Ich helfe dir mit dem Verschluss.« Milla schob Jos gewellte braune Haare zur Seite und schloss die Kette in seinem Nacken. »So! Genau wie es sein soll.«

Er berührte den Anhänger, das kalte Metall schmiegte sich an seine Kehle. »Hier, ich habe auch etwas für dich: Frühstück!«, sagte er dann. Er gab Milla eine Zimtschnecke und zupfte seine auseinander.

»Ooh, noch warm und frisch aus dem Ofen. Matteos Zimtschnecken sind genauso gut wie Josis«, sagte Milla, als sie sich mit einem Nicken bedankte.

»Sag das lieber nicht zu laut.« Jo grinste sie an. Das Temperament seiner Mutter war ebenso legendär wie ihre Backkünste. Josi gehörte heutzutage zur besten Gesellschaft von Arcosi; jeder wusste, dass sie eine Nachfahrin der alten königlichen Familie war. Doch als Milla noch ein Kind gewesen war, hatte Josi als Köchin im Haus der Thornsens gelebt und ihre wahre Identität verborgen.

»Also«, sagte Milla bedächtig. »Heute ist dein großer Tag.«

»Hm-hm«, murmelte Jo, den Mund voller Gebäck.

»Bist du bereit?«, fragte sie.

»Ich fühle mich bereit.« Er zögerte und spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, als er beschloss, sich ihr anzuvertrauen. »Heute Morgen habe ich von einem Drachen geträumt. Einem purpurroten Drachen. Ist dir das mit Iggie auch so gegangen …?«

Milla lächelte, als sie sich zurückerinnerte. »Ja, ein paar Mal. Ich konnte ihn nicht genau erkennen. Aber ich wusste, dass er blau war und dass wir zusammen fliegen würden.«

»Ja, genau!«, sagte Jo erleichtert. »So hat es sich auch bei mir angefühlt.«

Und dann hielt er es plötzlich nicht mehr aus. »Gibt es denn ein purpurrotes Ei? Wie viele sind es? Du hast sie doch gesehen, nicht? Nun sag schon, Milla!«, bettelte er.

»Du weißt, dass ich das nicht kann.« Millas braune Augen hielten seinem Blick stand, sie leuchteten lebendig und verschmitzt.

Er wertete das als ein Ja. Es gab ein purpurrotes Ei! Er hatte es gewusst.

Milla gähnte ausgiebig, und zum ersten Mal fielen Jo die dunklen Ringe unter ihren Augen auf. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er.

»Hab letzte Nacht nicht viel geschlafen«, erwiderte sie. »Es gab Ärger in der Unterstadt. Tarya musste ein paar Drachenreiter losschicken, damit sie ihre Truppen unterstützen.«

»Ärger mit der Bruderschaft?«, mutmaßte Jo.

»Mit wem sonst?« Milla verzog das Gesicht.

Nachdem kurz vor Jos Geburt die Drachen nach Arcosi zurückgekehrt waren, hatte man die arcosische Armee halbiert. Auf der Insel wurden einfach nicht mehr so viele Soldaten gebraucht, seit die Drachen Arcosi beschützten. Also wurde die Hälfte der Soldaten ausbezahlt und entlassen. Einige von ihnen waren davon wenig begeistert, schlossen sich zusammen und nannten sich »die Bruderschaft«. Sie lungerten herum, stifteten Unruhe und pöbelten, aber niemand nahm sie richtig ernst.

»Tarya kann nichts dafür!«, nahm Jo seine Schwester in Schutz, die die oberste Heerführerin von Arcosi war. »Sie hat sich den entlassenen Soldaten gegenüber sehr großzügig verhalten.« Das hatte er seinen Vater viele Male sagen hören.

»Das tut sie immer noch, und genau da liegt das Problem.« Milla seufzte. »Ich verstehe, dass sie die Kerle nicht verbannen kann, weil es ihnen womöglich Sympathien einbringen würde, aber …« Sie brach ab.

»Aber?«, hakte Jo nach. Er hatte die Männer gesehen: Sie trugen immer noch ihre alten Uniformen, so zerlumpt und verblichen sie inzwischen auch waren. Sie hingen an Straßenecken herum, tranken am helllichten Tag und versuchten, die Leute von ihren Vorstellungen zu überzeugen. »Sie sind doch harmlos … oder?«

»Tut mir leid, Jo.« Milla legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich sollte dich nicht mit meinen Sorgen behelligen, nicht an deinem Geburtstag. Lass dir die Schlüpfzeremonie von mir nicht verderben. Wie fühlst du dich?«

Jo zögerte und dachte ernsthaft über die Frage nach. »Aufgeregt? Ein bisschen nervös.«

»Mach dir keine Gedanken – alle Drachen sind gesund.«

»Bist du sicher?«, fragte er besorgt.

Die jetzigen Eier waren erst das zweite Gelege seit dem Großen Drachensterben. Vor zwei Jahren hatte sich in den Drachenhallen von Arcosi eine schreckliche Krankheit ausgebreitet und mehr als die Hälfte der Drachen hinweggerafft. Jos Bruder Isak, der genau wie Milla einer der ersten Drachenreiter gewesen und nun der oberste Drachenwächter von Arcosi war, hatte vor Kummer über Nacht schlohweiße Haare bekommen.

»Isak hat sie nicht aus den Augen gelassen«, sagte Milla. »Er hat die Eier gehütet, als wären es seine eigenen.«

Heute musste auch für alle anderen ein aufregender Tag sein, begriff Jo plötzlich. Als das Große Drachensterben einsetzte, hatte niemand die Drachen retten können: weder Milla mit ihren Heilkünsten noch Isak mit seiner Klugheit, weder Tarya mit ihren kämpferischen Fertigkeiten noch Herzog Vigo mit all seiner Macht. Jo hatte die Gerüchte gehört. Die Leute flüsterten sich zu, es sei ein Zeichen, diese jungen Leute wüssten nicht, was sie tun, und besser jemand anders übernähme die Führung der Stadt. Daher waren sie alle darauf angewiesen, dass heute alles gut ging.

Allerdings nicht so sehr wie er.

Als Jo den Kopf senkte, bemerkte er, dass er seinen silbernen Anhänger fest umklammerte. Bitte lass mich heute an die Reihe kommen, wünschte er sich. Bitte lass mich kein Watschler sein!

Das war ein Schimpfwort für Leute, die sich nicht mit einem Drachen verbanden. Jemand, der auf der Erde bleiben musste: ein Watschler! Jemand, der nie auf dem Rücken eines Drachen fliegen würde. Die Kinder flüsterten es einander vor jeder Schlüpfzeremonie zu. Eigentlich durfte man das nicht sagen. Die meisten Menschen auf der Insel waren Watschler. Und nur wenige glückliche Drachenreiter. Aber das hielt die Kinder nicht davon ab, zu beten, zu träumen und sich zu wünschen, dass sie von einem Drachen erwählt wurden.

Seit die Drachen zurückgekehrt waren, hatten sich sämtliche Nachkommen in Jos Familie mit einem Drachen verbunden. »Ach, Milla, ich hoffe wirklich, dass alle Eier gesund sind. Egal, mit wem sie sich verbinden.«

»Ist schon gut, Jo!«, sagte Milla mit verständnisvollem Blick. »Was dir bestimmt ist, wird nicht an dir vorübergehen.«

Jo nickte beruhigt.

»Komm, lass uns aufbrechen. Es wird Zeit, dass wir uns fertig machen.« Sie rutschte ans Ende der Mauer, sprang herunter und landete geschickt auf beiden Füßen.

Jo folgte seiner Cousine. Er spürte, wie seine Anspannung wieder zunahm. Die Luft roch nach Salz und Holzfeuer, und in der Ferne hörte er die Rufe der Fischersleute im Hafen, es waren die Geräusche der zum Leben erwachenden Insel.

Iggie kletterte von dem Platz herauf, an dem er in den ersten Sonnenstrahlen gedöst hatte. Zu Jos Überraschung kam er zuerst zu ihm und legte ihm die riesige Stirn an die Brust.

»Er wünscht dir viel Glück«, erklärte Milla. »Von uns beiden …«

Dankbar kraulte Jo Iggie zwischen den Augen, schließlich wusste er, dass das Herz des Drachen ganz und gar seiner Cousine gehörte. »Danke, Ig«, flüsterte er so leise, dass nur der Drache es hören konnte. »Hoffen wir, dass du heute noch einen frisch geschlüpften purpurnen Drachen kennenlernen darfst.«

Iggie schloss die riesigen grünen Augen zur Hälfe und knurrte leise. Jos ganzer Körper vibrierte davon.

Er entspannte sich. Es würde alles gut gehen. Heute würde der beste Geburtstag seines Lebens werden.

Als Jo im Gelben Haus die Treppe hinaufstürmte, um sich umzuziehen, hörte er seine Eltern über ihn sprechen. Er hörte das Klock und Klack vom Gehstock seines Vaters, mit dem dieser auf und ab marschierte.

»Und warum ist er dann nicht hier?«, fragte sein Vater gerade. »Was könnte wichtiger sein?«

»Nestan, mein Lieber«, erwiderte die Mutter. »Reg dich nicht auf. Er wird nicht zu spät kommen. Er war so aufgeregt, dass er die Tage gezählt hat. Vielleicht ist er einfach –«

»Ich bin hier!« Jo stieß die Tür zum Schlafzimmer auf. »Tut mir leid, ich hab mich mit Milla unterhalten und die Zeit vergessen.«

Seine Mutter stürzte als Erste auf ihn zu. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Jo!« Sie zog ihn innig an sich und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange. Sie trug bereits ihre feierlichste Kleidung: ein blutrotes Kleid mit einem passenden Seidenschal über den schwarzen Haaren. »Hier ist dein Geschenk von uns.« Sie zeigte aufs Bett.

Neben seinen weißen Kleidern für die Zeremonie lag ein großes Paket.

Jo sauste hinüber, schnappte sich das Paket und riss es ungeduldig auf. Es enthielt eine pelzbesetzte Kappe und lange seidengefütterte Lederhandschuhe, die gleichermaßen bequem und warm waren. Beim Fliegen konnte einem kalt werden, hatte Milla oft gesagt. Sobald sein Drache groß genug war, um ihn zu tragen, würde er diese Sachen brauchen. Drachenreiter trugen immer die Farbe ihres Drachen. Und die Geschenke waren … purpurrot! Dieselbe Farbe wie in seinem Traum.

Woher wussten sie das?

»Danke«, flüsterte er voller Freude über diesen Beweis, dass sie an ihn glaubten.

»Du kannst die Sachen später anprobieren, hinterher …«, sagte Josi.

»Herzlichen Glückwunsch, Jo«, sagte sein Vater und zog ihn mit einem Arm an sich. »Da wäre noch das hier, jetzt, wo du zwölf bist.« Von seiner Schulter hing ein großer, zylinderförmiger Behälter an einer Lederschnur. Nestan schwang ihn nach vorn, packte die Schnur und reichte seinem Sohn den Behälter.

Jo nahm ihn entgegen. Sein Gewicht und die glatte Textur kamen ihm bekannt vor. Eine Erinnerung stieg in ihm auf, aus den Tagen, als er seinem Vater wie ein kleiner Schatten überallhin gefolgt war, ihm unendlich viele Fragen gestellt und von früh bis spät geduldige Antworten erhalten hatte.

Er stand im Arbeitszimmer seines Vaters und war noch so klein, dass er kaum über die Tischplatte schauen konnte.

»Was ist das?«, hatte Jo gefragt und auf einen glatten schwarzen Lederbehälter gedeutet.

»Das ist mein Überlebensset«, hatte Nestan ihm erklärt. »Es hat mir bei Schiffbrüchen schon dreimal das Leben gerettet.«

»Wie denn?«, fragte Jo, der kein Wort verstand.

»Wenn ein Schiff untergeht, bleibt dir nicht viel Zeit«, hatte sein Vater erklärt und nach dem zylinderförmigen Behälter gegriffen. »Drei Dinge haben mich gerettet: Glück, mein Schwimmvermögen und das hier.«

»Was ist da drin?«

»Feuerstein und Zunder, eine Klinge, Angelschnüre, Haken, eine Ölhaut, ein Kompass …« Nestan öffnete den Behälter und kippte den Inhalt auf den Schreibtisch. »Alles, was man zum Überleben braucht.«

Und nun hielt Jo sein eigenes Überlebensset in der Hand. »Boah, danke, Vater«, sagte er gerührt. Dann fügte er scherzhaft hinzu: »Gehst du davon aus, dass ich es brauchen werde?«

»Es ist eine Tradition. Wir sind ein Seefahrervolk«, sagte Nestan. Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, seine blauen Augen waren von Lachfältchen umgeben. »Früher erhielt jedes Norländerkind an seinem zwölften Geburtstag sein eigenes Überlebensset. Trag es immer bei dir und hoffe darauf, dass du es niemals brauchen wirst.«

»Na, heute zumindest nicht, oder?« Jo stellte den Behälter aufs Regal und wandte sich den weißen Kleidern zu, die er heute Vormittag tragen musste, als wäre er ein leeres Blatt weißes Pergament, bis sich sein purpurroter Drache mit ihm verband.

»Ich denke, da können wir sicher sein. Und wenn du dich schnell umziehst, schaffen wir es auch noch rechtzeitig.« Nestan fuhr sich über seinen kratzigen weißen Bart, während er sich mit der anderen Hand auf seinen Gehstock stützte. »Dein Bruder und deine Schwester warten schon auf dich.« Trotzdem rührte sich Jo noch nicht vom Fleck.

Jos Mutter schlang einen Arm um Nestans Taille. Seine Eltern standen da und betrachteten ihn mit merkwürdigem Blick, ihr Lächeln wirkte ein wenig wacklig und gerührt.

»Was?« Jo starrte sie an. »Haben wir es nun eilig oder nicht? Was ist los?«

»Oh, nichts ist los, Jo!«, sagte Josi. »Wir sind einfach nur so stolz auf dich.«

Das war ein neuer Gedanke für ihn. »Ich habe doch noch gar nichts getan.«

»Wir sind stolz auf dich«, wiederholte sein Vater, der heftig blinzelte und sich dann räusperte: »Ganz gleich, was heute geschieht.«

Jos Mutter wischte sich eine Träne von der Wange. »Seht mich nur an! Ich ruiniere noch den Stoff, dabei hat die Zeremonie noch nicht einmal angefangen.« Sie schniefte laut und wischte sich das Gesicht am Ärmel ihres Mannes ab.

»Geht schon mal vor, ich komme gleich runter. Wir werden uns nicht verspäten – versprochen!« Jo wandte sich ab, um sein Gesicht zu verstecken, weil ihm gerade etwas klar wurde: Wenn heute alles gut ging, würde er mit seinen Eltern nie wieder unter einem Dach leben. Er war in Gedanken so mit seinem Drachen beschäftigt gewesen, dass er diesen Teil völlig ausgeblendet hatte. Schlagartig wurde ihm klar, dass er für all das bereit war: bereit, erwachsen zu werden und sein Elternhaus zu verlassen; bereit, seine Eltern wirklich stolz zu machen; und mit Sicherheit bereit für seinen Drachen.

Aufstieg der Schattendrachen

Подняться наверх