Читать книгу Was sie nicht umbringt - Liza Cody - Страница 8

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Ich wachte ungefähr um zwei Uhr nachmittags auf. Sonnenlicht quetschte sich durch die orangeroten Vorhänge, und im Hänger sah es aus, als ob es brannte.

Die riesige Schrottpresse malmte und krachte, begleitet von der vertrauten Geräuschkulisse aus Geschepper, Gepolter und Männergeschrei.

Auf einem Schrottplatz ist es nie zu leise zum Schlafen.

Ich sprang auf und brachte rasch meine Dehnübungen hinter mich.

Ich wollte meine Ma besuchen, und ich musste vor drei Uhr bei ihr sein.

Das ist die beste Zeit, wenn du mit meiner Mutter reden willst, solange sie noch alle beisammen hat. Vor eins steht sie nicht auf, und ansprechbar ist sie erst, wenn sie den ersten Schnaps intus hat. Dann hat sie ein paar gute Stunden, aber danach geht es rapide bergab mit ihr, bis sie ungefähr um vier Uhr in der Früh wieder ins Bett geht.

Sie hat es im Leben nicht leicht gehabt, also kannst du dir deine Vorwürfe sparen.

Wenn man sagt, dass jemand es im Leben nicht leicht gehabt hat, stellt man sich doch einen alten Menschen vor, oder? Na los, du kannst es ruhig zugeben.

Dabei ist meine Ma noch nicht mal vierzig, und sie könnte auch noch ziemlich gut aussehen, wenn sie nur ein bisschen auf sich achten würde. Wenn sie abends ausgeht, aufgedonnert und aufgetakelt wie ein Christbaum, sieht sie richtig knackig aus – wenn ihr das Licht nicht gerade ins Gesicht strahlt. Du glaubst es kaum, dass sie stockbesoffen ist und dass ihr schon in ein paar Stunden das Make-up verschmiert am Kinn klebt.

Sie wohnt in einem Hochhaus, im zweiten Stock – was von Vorteil ist, weil nämlich der Aufzug nie funktioniert. Und wenn man bedenkt, in was für einem Zustand sie immer nach Hause kommt, würde sie die meisten Nächte auf der Treppe verbringen, wenn sie nur eine Etage höher wohnte.

Der Wind pfiff trotzdem durchs Treppenhaus, und ziemlich eklig sogar, auch weiter unten. Ich klopfte bei ihr an und wartete.

Als sie kam, öffnete sie die Tür nur einen Spalt und lugte hindurch wie ein verschrecktes Kaninchen. Jedes Mal, wenn sie die Tür aufmacht, sieht sie aus, als ob sie Angst hat, was mich bei ihrem Lebenswandel auch gar nicht wundert.

Als hinter mir ein paar Kids auf dem Skateboard vorbeizischten, zuckte sie zusammen.

»Komm lieber rein«, sagte sie und drehte sich um.

Als sie an der Schlafzimmertür vorbeikam, zog sie sie zu. Das bedeutete, dass sie letzte Nacht einen Kerl an Land gezogen hatte, der noch immer seinen Rausch ausschlief.

Wie schon gesagt, du darfst ihr keine Vorwürfe machen – irgendwie muss jeder zusehen, wie er das Geld für die Miete zusammenkriegt.

Wir gingen in die Küche durch.

Du denkst jetzt womöglich, dass es von allen Zimmern in diesem Loch, das meine Mutter ihr Zuhause nennt, in der Küche am schlimmsten aussieht. Falsch gedacht. Es sieht am besten aus. Und das erklärt sich ganz einfach dadurch, dass sie die Küche nie benutzt, höchstens mal, um sich eine Tasse Pulverkaffee aufzubrühen. Das Essen kommt in Mas Leben erst nach dem Trinken. Wenn sie Hunger hat, holt sie sich einen Hamburger.

In der Küche sagte sie als Allererstes zu mir: »Wenn er reinkommt, sagst du, du bist meine Schwester, ja?«

Ich lachte, und sie muss mir wohl irgendwas angemerkt haben, denn sie sagte: »Vergiss es – du bist eine Nachbarin.«

Ich sagte: »Wo wir gerade von Schwestern reden …«

»Fang bloß nicht wieder damit an«, fiel sie mir ins Wort. »Mir platzt der Kopf.«

Ich setzte schweigend den Kessel auf und machte uns zwei Tassen Pulverkaffee. Sie holte eine Flasche aus dem Schrank unter der Spüle und kippte sich einen Schuss in die Tasse.

»Nur damit es weggeht«, sagte sie. Sie kann das Lügen nicht lassen, meine Ma.

Ich gönnte ihr ungefähr eine Minute, dann sagte ich: »Es ist wichtig, Ma. Hast du was gehört?«

»Das ist der einzige Grund, warum du herkommst«, sagte sie. »Um mir wegen ihr Löcher in den Bauch zu fragen. Alles andere ist dir doch scheißegal, sogar deine arme, alte …«

»Mutter«, ergänzte ich. Sie kann sich nicht überwinden, das Wort in den Mund zu nehmen.

»Du sollst das nicht sagen«, fauchte sie und warf über die Schulter einen Blick auf die Tür. Sie trat sie zu. Sie hatte nackte, dreckige Füße, und ihre dicken Onkels waren schief, weil sie immer in zu spitze Schuhe gequetscht wurden.

»Was soll ich denn sonst zu dir sagen?«, fragte ich. Ich wurde langsam wütend.

»Ich habe schließlich einen Namen.«

»Und ich habe eine Schwester!«

»Jetzt halt endlich den Rand!«, schrie sie. »Sie will nichts mit dir zu schaffen haben. Guck dich doch an.«

»Woher willst du das wissen?«, schnauzte ich sie an. »Wir haben uns immer gut vertragen.«

»Das ist ewig her.«

»So lange auch wieder nicht.«

Dann hörten wir, trotz der Brüllerei, plötzlich die Klospülung.

Ma stand auf. Sie nahm ihre Tasse und den Kaffee, den ich mir gemacht hatte. Sie wollte ins Schlafzimmer.

»Die Tür findest du alleine«, sagte sie zum Abschied.

Am liebsten hätte ich was zerdeppert.

Aber frühes Training zahlt sich aus, und wenn wir als Kinder überhaupt eine Lektion gelernt haben, dann war es die, immer auf Zehenspitzen um Mas Männer rumzuschleichen. Wenn Ma einen Mann im Haus hatte, sind wir entweder schnell verduftet oder wir haben so getan, als wären wir nicht da. Ma war nie besonders wählerisch mit den Typen, die sie anschleppte.

Das war im Grunde ihr Unglück.

Ich ging ins Wohnzimmer. Mir kam der Gedanke, dass Ma eigentlich nie Kinder hätte haben dürfen. Aber sie hat sich welche angeschafft. Und eins davon war ich.

Das andere war Simone.

Das Wohnzimmer war die reinste Müllkippe. Alter, kalter Rauch hing dick in der Luft. Bierdosen und Aschenbecher waren vom Couchtisch auf den Fußboden gewandert. Irgendwer hatte am Fernseher eine Flasche zertrümmert, und ein angebissener Hamburger war in den Teppich getreten worden. Im Großen und Ganzen sah es aus wie auf einer von dieser Landstraßen, für die ich nichts übrighabe.

Hätte Ma mal einen Freund wie Harsh gehabt, dachte ich, wäre alles viel sauberer gewesen. Und Harsh wäre vielleicht mein …

Daran durfte ich nicht denken.

Das, wohinter ich her war, lag hinter dem Fernseher unter einem Stapel von Mas »Wahre Liebe«-Illustrierten. Sie liest den Schrott nicht mehr – sogar meine Ma lernt manchmal noch was dazu –, aber immer, wenn sie umzieht, schleppt sie den alten Plunder mit, ihre Bücher, wie sie dazu sagt.

Unter Mas Büchern lag ein altes Fotoalbum. Unsere Oma hat es Ma hinterlassen, als sie gestorben ist. In dem Album klebte ein Bild, das ich sehen wollte. Es war das letzte Foto, auf dem Simone und ich zusammen drauf waren.

Ich blätterte das Album rasch durch. Die Bilder von Ma als jungem Mädchen wollte ich nicht sehen. Davon kriege ich immer einen Kloß im Hals, weil sich Simone als Zehnjährige und meine Ma als Zehnjährige sehr ähnlich gesehen haben. Unheimlich ähnlich.

Ich fand die Seite. Da waren wir, bei unserer Oma im Wohnzimmer.

Ich weiß noch ganz genau, wann das Bild gemacht worden ist. An Simones zwölftem Geburtstag, zwei Tage, bevor sie in Pflege kam und weggeholt wurde. Also war es zwei Tage vor dem Tag, an dem ich sie zum letzten Mal gesehen habe.

Sonst waren wir immer zusammen weggeschickt worden. Und wenn wir zurückdurften oder abgehauen waren, haben wir uns bei Ma wiedergetroffen. Und wenn wir Ma nicht finden konnten, sind wir zu unserer Oma gegangen.

Aber damals haben sie uns getrennt. Und ungefähr ein Jahr später ist dann meine Oma gestorben.

Simone ist nie wieder nach Hause gekommen.

Ich habe später gehört, dass sie zu Pflegeeltern gekommen ist, und bei denen muss es ihr wohl gefallen haben, weil sie dageblieben ist. Oder, was eher wahrscheinlich ist, sie hat ihnen gefallen, und sie haben sie zum Dableiben überredet.

Es war schwer, Simone nicht zu mögen, aber ich muss dir sagen, dass sie kein charakterfester Mensch war. Sie ließ sich leicht überreden. Vor allem, wenn ich nicht bei ihr war und sie nicht daran erinnern konnte, wo wir hingehörten.

Ich starrte lange auf das Gesicht von früher. Sie war so hübsch. Kaum einer wusste, dass wir Schwestern waren. Ich war größer als sie, obwohl ich ein Jahr jünger bin. Und hübsch bin ich noch nie gewesen.

Am allerwichtigsten war es, ihr Gesicht nicht zu vergessen. Manchmal habe ich einen Alptraum. Ich gehe die Straße runter, und eine Bettlerin hält mir die Hand hin. Und ich gehe einfach vorbei. Ich erkenne Simone erst, als sie mich ruft. »Eva«, sagt sie. »Ich hätte dich überall wiedererkannt. Aber du hast mich vergessen.«

Aber ich habe sie nicht vergessen. Und eines Tages finde ich sie. Es muss einfach so kommen, weil schließlich jeder sagt, dass Blut dicker ist als Wasser. Und deshalb weiß ich auch, dass Simone nach mir sucht. Sie sucht mich bestimmt. Und sie kann mich nur finden, wenn sie zuerst Ma findet, weil ich viel erlebt habe, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.

Ma hat auch viel erlebt, aber wenigstens ist sie im selben Stadtviertel geblieben. Und darauf setze ich. Darum gehe ich Ma alle paar Monate besuchen. Darum und natürlich auch, weil Blut nun mal dicker ist als Wasser, und das gilt sogar für Ma.

Irgendeiner muss schließlich die Familie zusammenhalten.

Was sie nicht umbringt

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