Читать книгу Barro, der Braunbär - Lothar Streblow - Страница 11
Hungriger Wolf
ОглавлениеEin heller Morgen wölbte sich über dem Tal. Hoch oben in durchsichtiger Bläue trieben zwei Kolkraben ihre kreisenden Spiele. Der Wiesenhang leuchtete blütenbunt. Schmetterlinge gaukelten zwischen Kratzdisteln und Eisenhut. Insekten summten aufdringlich. Und irgendwo am dichtbewachsenen Bachufer quakte ein verspäteter Frosch.
Die Bärin zog mit ihren Kindern bachabwärts. Aber sie ließ sich Zeit, stopfte sich den Bauch voll mit schmackhaften Gräsern und Kräutern. Und die Kleinen tobten spielend zwischen Dickicht und Uferrand.
Hier am Unterlauf weitete sich die Talsohle, übersät mit angespültem Geröll. Vom Hochwasser zerzaustes Weidengebüsch wucherte bis dicht ans Wasser. Dahinter am Berghang begann der Fichtenwald. Das Gelände war unübersichtlich, verbarg die zurückgebliebene Bärin.
Barro kümmerte sich nicht darum. Er hörte Burri hinter sich, das genügte ihm. Am Boden zwischen dem Grün entdeckte er eine Spur: eine frische Spur. Und die roch fremdartig. Das machte ihn neugierig. Unbefangen tappte er der Spur nach, streifte geräuschvoll durchs Gestrüpp.
Mit einemmal stutzte er. Etwas kleines Pelziges flitzte vor ihm durchs Gras und verschwand hinter einem moosbedeckten Fels. Und das reizte Barro. Zwar war er noch ein Milchkind und wollte nicht jagen, aber er wollte spielen. So sauste er mit drolligen Sprüngen hinterher. Doch das kleine Pelztier bekam er nicht. Der Waldlemming war schneller als er.
Dafür stand Barro hinter dem Fels plötzlich etwas viel Größerem gegenüber. Und das roch genau wie die Spur: ein grauhaariges, hochbeiniges Tier. Es war ein Wolf, ein alter einsamer Wolf, den sein Rudel ausgestoßen hatte und der hier im wärmeren Süden unterhalb des Polarkreises allein zurückgeblieben war. Für den altersschwachen Wolf blieb nur noch die Jagd auf kleinere Beute. Schon von weitem hatte er die Bärenkinder gewittert. Geifer troff von seinen Lefzen. Und aus seiner Kehle drang ein tiefes Knurren.
Vor Schreck wagte Barro kein Glied zu rühren. Er stand wie gelähmt, starrte auf die gefährlich spitzen Reißzähne des Wolfes. Da raschelte es vernehmlich hinter dem Felsblock. Der Wolf horchte auf, abgelenkt durch das Geräusch, und blickte in die andere Richtung.
Diesen Moment nutzte Barro. Wie gehetzt rannte er seitlich ins Gebüsch. Zweige und Äste peitschten sein Fell. Und einer traf seine Nase. Doch er achtete nicht darauf, stieß um ein Haar gegen den Stamm einer Birke. Und hinter sich hörte er das Hecheln des Wolfes.
Instinktiv umkrallte Barro den Baumstamm, zog sich nach oben. Doch so schnell er auch kletterte, der Wolf war fast im gleichen Augenblick heran. Mit einem gewaltigen Satz sprang er am Stamm hoch. Seine Kiefer schlugen zusammen, gerade als Barro seine rechte Hintertatze nachzog.
Aber Barro hatte Glück. Nur ein Fetzen von seinem Fell blieb zwischen den Wolfszähnen. Und Klettern konnte der Wolf nicht. Dann war Barro außer Reichweite. Von einem Seitenast blickte er angstvoll nach unten.
Der Wolf verharrte unschlüssig. Barro sah sein gesträubtes Fell, seine hochgezogenen Lefzen. Und er sah noch etwas anderes. Burri hatte ihren Bruder oben auf dem Seitenast im Wipfel der Birke entdeckt. Und nichtsahnend kam sie direkt auf den Wolf zu, den sie durch das wuchernde Gestrüpp am Boden nicht erkennen konnte.
Jetzt witterte der Wolf die neue Beute, hörte den tapsigen Bärentrott der kleinen Burri. Und ein lauernder Ausdruck glimmte in seinen Augen.
In diesem Augenblick übertönte ein anderes Geräusch Burris Tappen. Gar nicht weit entfernt brach ein mächtiger Körper durchs Gebüsch, Äste krachten, Steine polterten. Und es wurde lauter, kam näher. Dazwischen erklang ein tiefes Brummen, untermischt mit wütendem Fauchen.
Sekundenlang zögerte der Wolf, dann schoß er auf Burri los, deren pelziger Kopf eben zwischen niedrigem Gezweig auftauchte. Und schon war der Wolf mit einem Sprung über ihr. Doch er kam nicht zum Zubeißen.
Die Bärin hatte den Wolf gewittert, mit ihrem scharfen Gehör seine Stimme erkannt. Und sie hatte Barros Flucht auf den Birkenwipfel gesehen. Dröhnend preschte sie heran.
Der Wolf fuhr herum. Doch bevor er ausweichen konnte, traf ihn ein gewaltiger Prankenschlag der Bärin. Meterweit flog er durch die Luft, krachte dicht bei einem Baumstumpf zu Boden und blieb regungslos liegen.
Burri flüchtete erschrocken zu ihrer Mutter. Liebevoll leckte die Bärin ihrem verängstigten Kind übers Gesicht, immer wieder. Und es dauerte noch eine ganze Weile, bis Barro sich von seinem Baumwipfel herunterwagte.