Читать книгу Zwillinge - Lotte Dalgaard - Страница 10
ОглавлениеKapitel 8
Die Polizei hatte eine Pressemitteilung über den Fund von Nannas Handy am Wegesrand herausgegeben. Man hatte keine Spuren gefunden, die helfen könnten, die Frage zu beantworten, wo sie oder ihre Schwester abgeblieben waren, aber das Telefon an sich war schon Beweis dafür, dass die Mädchen diesen Weg gegangen waren und das irgendetwas geschehen sein musste.
Line war unbehaglich zumute und sie konnte sich nicht überwinden, Helene Bech anzurufen, um sie um einen Kommentar zu bitten. Aber das musste sie, das war ihr Job. Leute anzurufen, bei denen man nicht vorher wusste, wie sie reagierten, war einer der Aspekte ihrer Arbeit, die sie nicht sonderlich mochte.
Sie wühlte in ihrer Tasche nach etwas Essbarem, während sie sich überlegte, wie sie das Gespräch mit Helene Bech beginnen sollte, deren Kinder nun anderthalb Tage vermisst wurden. Line fühlte mit ihr wie eine Mutter, gleichzeitig wollte sie gerne ein aussagekräftiges Statement von ihr über den Fund des Handys ihrer Tochter für die morgige Zeitung.
Es gab dabei keine gute Art es zu tun, sie konnte es genauso gut einfach hinter sich bringen. Außerdem konnte sie Lars Hansens abwartenden Blick spüren. Zum Teufel mit diesen offenen Büroräumen.
Line fand die Reste eines Schokoladenriegels, 70% Kakaoanteil. Das war ja nicht so ungesund, dachte sie, während sie Block und Kugelschreiber zurechtlegte, aufkaute und Helene Bechs Nummer eintippte.
„Hallo?“, die Stimme am anderen Ende klang angstvoll.
„Hej Helene, hier ist Line Lyng von der Regionalzeitung Nordseeland.“
„Oh, hallo.“
Line ging auf, dass Helene Bech sicher zusammenfuhr, wenn ihr Telefon klingelte, sowohl aus Angst vor als auch aus Hoffnung auf Neuigkeiten bezüglich ihrer Töchter. Damit wurde ihr Unwillen, sie anzurufen, nicht gerade kleiner, aber nun gab es auch keinen Weg mehr zurück.
„Die Polizei hat Nannas Handy gefunden. Was meinst du dazu?“
Es war still am anderen Ende der Leitung und Line bereitete sich darauf vor, dass Helene Bech sie fragte, was zur Hölle sie sich eigentlich einbildete. Aber dann konnte sie hören, dass Helene weinte und ihre Stimme nicht kontrollieren konnte.
„Sie waren auf dem Heimweg… Es lag genau an der Strecke, die sie sonst auch nehmen. Vielleicht ist es ihr aus der Tasche gefallen… Aber das hätte sie ja bemerkt. Und wenn ihnen nichts passiert wäre, hätten sie mittlerweile angerufen. Von Nikolines Telefon oder einem anderen. Sie wissen, was für Sorgen ich mir mache.“
Line weinte jetzt selbst, es war einfach nicht auszuhalten und sie konnte sich vollkommen in Helene Bechs Angst hineinversetzen. Bevor sie noch weitere Fragen stellen konnte, sagte Helene Bech:
„Jetzt will ich nur noch wissen, was da passiert ist. Diese Ungewissheit ist das Schlimmste. Ich kann nichts machen. Gar nichts. Ich sitze nur rum…“
Line beendete das Gespräch, nachdem sie mit Helene Bech abgemacht hatte, dass sie wieder anrufen dürfe, wenn es neue Entwicklungen gebe. Dann begann sie zu schreiben.
Mutter der vermissten Zwillinge: Die Ungewissheit ist das Schlimmste
Die Polizei hat Nanna Bech Tofts Handy gefunden. Die Mutter der verschwundenen 13-jährigen Mädchen ist sicher, dass ihren Töchtern etwas zugestoßen ist. Dennoch bewahrt sie die Hoffnung, dass Zwillinge am Leben sind.
„Die Ungewissheit ist das Schlimmste. Ich sitze nur hier herum und kann nichts tun“, sagt die unglückliche Mutter Helene Bech.
Line machte eine Pause und sah auf die Uhr. Es war bald 12.00. Sie musste noch den Onlineartikel fertigstellen, bevor sie zum Mittagessen in die Kantine ging. Danach musste sie noch einige Interviews für nächste Woche vorbereiten und dann einkaufen. Freitag. Wochenende. Was würden sie wohl unternehmen? Line seufzte und schaute sich ihren Text noch einmal an. Sie fügte noch einige Zitate ein und Fakten zum Fall. Dann loggte sie sich aus und ging in die Kantine.
Nach Wiener Schnitzel und dem Kuchen des Tages beschloss Line, dass das Abendessen leicht sein sollte. Um 15.00 Uhr ging sie aus der Redaktion und über den Parkplatz zu ihrem Auto. Sie steckte den Schlüssel in die Zündung, doch bevor sie den Wagen startete, rief sie bei Mikkel an.
„Hallo Mama. Ich bin bei Lucas.“
„Okay, Schatz. Ich hole dich da um halb sechs ab.“
„Warum?“
„Weil ich den Gedanken nicht mag, dass du abends allein auf der Straße unterwegs bist.“
„Also, ganz ehrlich, halb sechs ist doch noch nicht abends.“
„Solange wir nicht wissen, was mit den vermissten Zwillingen passiert ist und wer sie entführt hat, bin ich eben extra vorsichtig.“
„Ja, aber ich bin ja ein Junge.“
„Ja, Schatz, das ist mir nicht entgangen. Aber wir wissen ja nicht, ob der Entführer nicht auch auf die Idee kommt, Jungen zu entführen. Also musst du dich damit abfinden, dass deine Mama ein wenig mehr über dir kreist, als sie es sonst macht.“
„Wir haben heute in Dänisch darüber geredet. Und einige Mädchen aus der Klasse werden auch abgeholt, obwohl sie sonst mit dem Rad fahren.“
„Ja, siehste mal. Ich hole dich um halb sechs, Schatz. Bis dann.“
Mikkel seufzte. Er dachte sicher, dass er jetzt nicht auf dem Skateboard heimfahren konnte, aber er sagte „Okay, Mama“ und legte auf. Line dachte darüber nach, ob sie es übertrieb mit ihrer Vorsicht, sie wohnten ja ein gutes Stück von Fredensborg entfernt. Aber es konnte ja nicht schaden, ein wenig mehr aufzupassen, so lange nicht klar war, was da eigentlich passiert war. Allein der Gedanke daran, dass sie Mikkel nicht abholte und ihm etwas zustieß… Line verdrängte die Bilder aus ihrem Kopf, startete den Wagen, machte das Radio an und fokussierte ihre Gedanken auf das Abendessen.
Im Kvickly legte sie Lammhack in den Einkaufskorb und holte Zwiebeln und Tomaten aus der Gemüseabteilung. Im Kühlregal fand sie die dänische Variante von Feta sowie eine Packung griechischen Joghurt und bei den Gewürzen einen Beutel getrocknete Minze. Knoblauch hatte sie. Und Olivenöl zu den Tomaten. Dazu passten Oliven sehr gut, aber die konnte Jonas nicht leiden. Während sie dastand und überlegte, ob ihr noch etwas für griechische Frikadellen mit Tzatziki und Tomatensalat fehlte, rief Jonas an.
„Hey, BBW.“
„Hej“, sagte Line glücklich, trotz des Kosenamens, der Abkürzung für Big Beautiful Woman, bei der sie nicht genau wusste, ob es ein Kompliment war oder eher leicht herablassend. Aber Jonas klang glücklich und plötzlich freute sie sich auf das Wochenende. Vielleicht konnten sie alle gemeinsam etwas unternehmen, am Samstag oder Sonntag. Bowlen oder ins Experimentarium.
„Musst du noch einkaufen?“
„Ich bin im Kvickly und gleich fertig.“
„Was gibt’s heute?“
Auf diese Diskussion hatte Line jetzt keine Lust. Sie wusste, dass sie nicht gerade für Jonas Leibgericht eingekauft hatte, aber heute gab es das. Sie konnten schließlich nicht immer nur Schwein, Rind, Soße und Kartoffeln essen.
„Du wirst schon sehen.“
„Aha. Aber bring noch eben Wein mit, ja? Drei Flaschen weiß und drei rot. Dann haben wir erstmal.“
„Ja, für heute Abend“, erwiderte Line spitz.
„Bist du sauer?“
Nicht schon wieder, dachte sie, sagte nein und versprach, Wein zu kaufen. Auf dem Weg zum Auto, beladen mit zwei Einkaufstüten, gefüllt mit Weinflaschen und Lebensmitteln, legte sich die Müdigkeit um sie wie ein schwerer Mantel. Sie wollte einfach nur ihr altes Nachthemd, das sie so liebte, anziehen, sich auf dem Sofa unter die Decke kuscheln, fernsehen und Süßigkeiten essen. Sie hatte keine Kraft, gesellschaftlich zu sein, Wein zu trinken, Jonas zuzuhören oder der Musik, die er „für sie“ auf seinem iPhone abspielte. Sie wollte früh ins Bett und Sex haben. Nüchtern. Und dann schlafen.
Aber sie riss sich zusammen, wie schon so oft zuvor, fuhr heim und begann mit dem Abendessen. Stellte den Weißwein kalt, öffnete eine Flasche Rotwein, stellte neue Teelichter in die vielen kleinen Halter in der Stube und zündete sie an. Mikkel rief an und fragte, ob er noch bei Lucas essen dürfe. Das durfte er. Sie wollte eigentlich gern, dass er nach Hause kam, aber die Stimmung bei Tisch war nicht immer so gut, also wollte sie nicht darauf bestehen, wenn er bei seinem Freund bleiben wollte. Und sie hoffte noch immer auf ein gemütliches Wochenende, an dem sie alle drei etwas zusammen unternahmen. Sie legte sich auf das Sofa und schloss die Augen. Eine halbe Stunde später hörte sie den Schlüssel im Schloss und Jonas kam in die Stube.
Jonas war bester Laune. Er hatte einen super Tag bei der Arbeit gehabt, alles war gelaufen wie am Schnürchen und er war vom Chef gelobt worden. Während Mehmet daneben stand. Ha! Dafür hatte er sich ein Gläschen verdient, oder zwei. Und gutes Essen. Was Line wohl kochen wollte? Ein großes, saftiges Steak vielleicht. Mit Bernaise. Das war schon eine Weile her. Oder Sparerips mit Kartoffeln und brauner Soße. Sie konnte schon kochen, seine Line, der machte so schnell keiner was vor. Er kam in die Stube und da fand er sie, auf dem Sofa lümmelnd in irgendeinem hässlichen Jogginganzug, der nicht gerade ihren großen Hintern verbarg. Naja, immerhin war der schön weich und man konnte gut drauf liegen. Und ihn durchkneten. Der machte ihn einfach direkt geil. Aber schön war der nicht.
„Liegst du hier rum? Bist du müde? So alt bist du doch noch gar nicht!“
Jonas lachte lauthals über seine eigene Bemerkung und Line fragte sich zum Gott-weiß-wievielten Mal, ob sie so müde war, weil er in ihrem Leben war. Sie gab und gab, aber zurück bekam sie nicht viel. Wie war sie bloß in so einer Beziehung geendet? Warum hatte sie keine größeren Ansprüche an das Leben und den Menschen, mit dem sie es teilte? Wie immer fand sie keine Antwort. Und Jonas Aussagen ignorierte sie.
„Jetzt komm, BBW, und schenk deinem Mann ein Glas kalten Weißwein ein.“
Line stand auf und ging in die Küche. Die war ganz neu, mit hellem Laminat, grauen Arbeitsplatten und neuen Armaturen. Und es war ihr Bereich. Jonas kam hier nur rein, um eine neue Flasche Wein zu holen oder am Fenster zu rauchen.
Jonas hatte eine CD von Pearl Jam angemacht, saß auf dem Sofa mit einer Zigarette, die er noch nicht angezündet hatte, und sang Eddie Vedders Lied stumm mit. Er lächelte Line an, als sie mit dem Weinkühler und einem kalifornischen Chardonnay, den sie bereits geöffnet hatte, hereinkam. Line ging an den braungebeizten Barschrank und nahm zwei Weingläser heraus. Sie setzte sich ans andere Ende des Sofas und direkt legte ihr Jonas seine Füße in den Schoß.
„Aahh, magst du mir nicht die Socken ausziehen und ein wenig die Füße massieren, Schatz? Das ist genau das, was ich jetzt brauche.“
So saßen sie da, jeder in seiner Sofaecke mit einem Weinglas in Reichweite und wirkten wie ein glückliches Paar. Aber Line wusste, dass sie bald etwas Drastisches tun musste. Sie hatte schon viele Male versucht, mit ihm über eine Therapie zu reden, aber Jonas war in eine Verteidigungshaltung gegangen und wollte nichts davon hören, dass er ein Problem hatte.
Als die Flasche Weißwein leer war und er aufstand, um eine neue zu holen, war es noch nicht einmal 17.30 Uhr und Line musste mit dem Abendessen beginnen.
„Kannst du nicht ein wenig langsamer machen?“, fragte sie, wohlwissend, dass er genau das nicht konnte.
„Was geht dich das an?“, erwiderte er und sie ging in die Küche, ohne sich auf eine weitere Diskussion einzulassen.
Jonas rümpfte die Nase, als das Essen auf dem Tisch war. Er nahm eine Lammfrikadelle und einen Löffel Tomatensalat. Während er aß, widmete er seinem iPhone seine gesamte Aufmerksamkeit. Als er fertig war, nahm er sein Weinglas und ging in die Küche, um eine zu rauchen. Er schloss die Tür und rief höchstwahrscheinlich Per an, mit dem er es liebte, ein wenig zu schnacken, wenn er etwas getrunken hatte.
Er räumte seinen Teller nicht ab. Aber nein, er konnte ja auch nicht mehr tragen. Weinglas in der einen Hand, Telefon in der anderen. Line ließ die Teller und Schalen mit den Essensresten stehen. Sie griff sich noch eine Frikadelle und setzte sich auf das Sofa um den Rest der Nachrichten zu sehen.
„Lammfrikadellen und Kaninchenfraß! Sowas kann man doch einem Mann nicht servieren. Ich habe den ganzen Tag geschuftet und dann bekomme ich so‘n Weibergericht.“
Jonas teilte seinen Frust mit Per, der ihn am Telefon darin bestätigte, dass das von Line nun nicht sonderlich durchdacht war.
„Immerhin ist sie gut im Bett, eine richtige Milf“, sagte Jonas und warf seine Zigarette, anzüglich über diesen Kosenamen grinsend, aus dem Fenster. Er überlegte, ob er noch eine Flasche Weißwein öffnen oder zu Rotwein übergehen sollte. Es war noch eine Flasche Weißwein übrig, drei rot. Und er hatte keine Lust, dass er morgen keinen Weißwein mehr hatte, also machte er sich einen Roten auf.
„Ich mach´ mal eben den Lautsprecher an und leg dich auf den Tisch, während ich mir eine neue Flasche aufmache. Also halt dich die nächsten Minuten ein wenig zurück.“
Per lachte und Jonas Laune war deutlich besser, als vor einer halben Stunde. So ein bisschen Ruhe und ein Gespräch unter Männern war genau das Richtige. All diese Gefühlsduselei und das Gelaber über alles Mögliche waren so ermüdend. Nee, so ein Gespräch unter Gleichgesinnten, mit einem, der über seine Witze lachte und nicht nörgelte, war das, was er brauchte.
Als Jonas aufgelegt hatte und in die Stube kam, war beinahe eine Stunde vergangen. Jetzt hatte er Rotwein in seinem Glas und seine Augen waren leer. Wenn er nicht so verdammt gut aussähe, fände Line, er wäre bemitleidenswert.
„Du hast den Fernseher angemacht? Du kannst die Stimmung mal so richtig versauen.“
„Ja, oder vielleicht versaust du die gemütliche Stimmung mit deiner ewigen Sauferei und Telefonitis“, entgegnete Line.
„Wenn du jetzt so kommst, habe ich kein´ Bock hier zu sitzen.“
Line unternahm nicht mal den Versuch, ihn aufzuhalten. Sie wusste, wo er hinging. In seine Stammkneipe auf der Ecke, wo er Billard spielen und trinken konnte, ohne sich das Gerede von „meckernden Weibern“ anzuhören.
„Ja, dann hau doch ab“, sagte sie und wartete, dass er sich erhob. Aber das tat er zu ihrer Überraschung nicht.
„Nein, lass uns wieder lieb miteinander sein“, sagte er stattdessen. „Kannst du nicht ein wenig runterkommen, sodass wir einen gemütlichen Abend haben? Ich hatte einen harten Tag auf Arbeit.“
Here we go again, dachte Line und nahm das Glas Rotwein, das er ihr reichte, entgegen. Als Mikkel um 9.00 Uhr nach Hause kam, Lucas Mutter hatte ihn gefahren, war Jonas besoffen und Mikkel gegenüber überschwänglich. Während Line schon Zähne putzte, konnte sie Jonas hören, wie er Mikkel von seiner Trekkingtour mit Per und dessen großem Bruder durch Schweden erzählte. Sie ließ die beiden in der Küche sitzen, wohlwissend, dass Jonas in diesem Zustand nicht die beste Gesellschaft für ihren Sohn war, aber sie war einfach zu müde, Mikkel ins Bett zu schicken. Sie ging ins Schlafzimmer und fiel todmüde in den Schlaf.