Читать книгу Zwillinge - Lotte Dalgaard - Страница 5
ОглавлениеKapitel 3
Es war 16.00 Uhr und Line verabschiedete sich von einer der zwei Rezeptionistinnen, die sich den Job in der Vorhalle der Redaktion teilten. Die kühle Luft fühlte sich gut an, wie üblich merkte sie, wenn sie rauskam, wie schlecht die Luft in der Redaktion war.
Line ging quer über den Parkplatz zu ihrem ramponierten blauen Opel Corsa, den sie so liebte, setzte sich rein, drehte den Schlüssel um und sang Amy Winehouses Rehab mit, das ihr laut aus den Lautsprechern entgegen hämmerte. Amy war genauso stur wie Jonas, dachte Line. Wollte Jonas auch jung sterben? Oder würde ihr Verhältnis noch vorher sterben? Eigentlich war schon eine ganze Menge wie abgestorben. Lines Vertrauen in ihn, ihr Respekt ihm gegenüber in vielen Belangen, die Hoffnung auf eine glücklichere, gemeinsame Zukunft. Eine Schande, dass ihr Sexleben so unglaublich lebendig war.
Lines Gedanken wanderten zu den Ausschweifungen der letzten Nacht und zwischen ihren Beinen begann es zu vibrieren. Auf dem Heimweg musste sie einkaufen, Rippchen mit Kartoffelbrei und brauner Sauce sollte es geben, wenn sie Rippchen bekam. Sonst Wiener Schnitzel mit Pommes und Bernaise aus der Tüte. Letzteres war natürlich viel leichter und vielleicht sollte sie einfach mal an sich denken und die Rippchen erst am Wochenende machen. Wein würde es diesen Abend auf jeden Fall geben, das war unvermeidlich, denn Jonas hatte bereits gestern nichts getrunken und dann brauchte er heute etwas. Das war sein Muster. Niemals Alkohol auf Arbeit, fast immer zwei Bier auf dem Heimweg im Auto, zwischendurch einzelne Abende ohne Alkohol und sonst zwischen acht und zehn Gläschen werktags und gerne das Doppelte am Wochenende. Meistens Bier oder Wein. Doch, mittlerweile kannte sie seine Gewohnheiten. Seine Trinkerei war genauso vorhersehbar, wie seine Laune und sein Benehmen es gerade nicht waren.
Wenn er doch nur nicht so heiß, so schön, so verdammt sexy wäre, so gut darin, ihr das Gefühl zu geben begehrt zu sein. Sie wusste eigentlich ziemlich gut, dass sie etwas Anderes verdiente. Mehr als Jonas mit dem kleinen strammen Hintern, dem großen, harten Schwanz und dem sinnlichen Mund, aus dem all diese verruchten Worte kamen. Aber sie konnte sich nicht losreißen. Noch nicht.
Sie parkte vor dem SuperBrugsen und nahm einen Korb am Eingang. Keine Rippchen, keine Kalbsschnitzel, also entschied sie sich für Frikadellen, Tiefkühlpommes, eine Tüte Tiefkühlbohnen, ein Paket Thiese-Butter und ein Liter Milch von derselben Molkerei. Eine Packung Knorr-Bernaisepulver hatte sie noch daheim im Schrank. Sollte sie sich noch eine Tafel von dieser ökologischen Schokolade mit 80% Kakao und Orangengeschmack gönnen? Das wäre doch gesund. Sie hatte mal irgendwo gelesen, dass Frauen Schokolade geradezu brauchten, dass sie dem Hormonhaushalt half und Depressionen entgegenwirkte. Die Tafel landete im Korb und Line ging zur Kasse.
Auf dem Heimweg fuhr sie einen kleinen Umweg und bog auf die Statoil-Tankstelle ein. Die Q8 lag zwar besser, aber sie wollte ihr Geld lieber den Norwegern in den Rachen schmeißen, als den Arabern aus Kuwait.
Sie wusste, dass ihre Freundinnen meinten, sie war ein wenig schrullig mit ihren ganzen Ökoeinkäufen und ihrer Haltung zu Benzinkäufen, ihrer Bevorzugung dänischer Waren vor ausländischen, ihrem Widerwillen bei Aldi oder Netto einzukaufen und ihrer Ablehnung gegenüber Cremes voll Parabene. Aber so war das nun mal. Ihr gefiel es, Stellung damit zu beziehen, wo sie ihr Geld ließ, ob man Qualität der Quantität vorzog und was man in oder an seinen Körper ließ. Ihr Problem war vielmehr, dass sie zu viel in ihren Körper steckte, was wiederum überwiegend von guter Qualität war.
Line parkte vor dem Garagentor der Mietvilla in Bagsværd. Die Garage beherbergte Werkzeug, Fahrräder, halbfertige Möbelprojekte und leere Bierdosen, also war für ihr Auto nur in der Einfahrt Platz. In einer halben Stunde würde Jonas von seinem Arbeitskollegen abgesetzt werden, der in der Nachbarschaft wohnte.
Sie fühlte sich auf einmal unendlich müde, als sie die Tür zum Rücksitz öffnete und die Einkaufstüte herauszog. Im Haus war es vollkommen still, also rief sie Mikkel an, um zu hören, wo er war.
„Hej Mutti“, sagte er fröhlich. Ihr hübscher, lustiger, kluger, geliebter Junge, auf den sie so stolz war und dem sie ein so schlechtes Gewissen gegenüber empfand. Er wurde bald elf. Wie lange würde er noch ihr kleiner Junge bleiben? Wann war er so groß, dass er lieber mit seinen Freunden zusammen war, eine Freundin hätte und von zu Hause auszog? Die Zeit verging so schnell und sie hatte das Gefühl, dass sie im Augenblick wertvolle Zeit verschwendete, anstatt mit ihren Sohn zu genießen und mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Sie hatte einen Kloß im Hals, als sie fragte, wo er war.
„Ich bin drüben bei Lucas. Stimmt was nicht, Mama?“
„Nein, ich bin nur etwas müde, Schatz. Bis später, wir essen um sechs.“
Line legte auf, schmiss sich aufs Bett und ließ ihren Tränen freien Lauf. In letzter Zeit war sie sehr nah am Wasser gebaut. Sie fühlte sich, als wäre sie einem Zusammenbruch nah, den sie nicht ausleben durfte. Sie riss sich immer zusammen und hatte ein Bild im Kopf von einer Maschine, die einfach immer fährt, ohne einmal überprüft und an den richtigen Stellen geölt zu werden. So erging es ihr. Eine große Maschine, von der alle annahmen, dass sie einfach weitermachte, immer weiter. Sie wusste nur zu gut, dass es ihre eigene Verantwortung war, sich auch mal rauszunehmen, aber noch war es nicht so weit.
Jonas setzte die Tuborg-Flasche an und leerte sie, als sein Kollege in den Villenweg einbog. Man konnte genau zwei Bier auf dem Heimweg von der Arbeit kippen und ein Mann konnte sich wohl ein Feierabendbierchen genehmigen. Line wäre total angepisst, wenn sie wüsste, dass er jeden Tag zwei Bier auf dem Weg nach Hause trank, egal ob er selbst fuhr oder beim Kollegen einstieg. Von zwei Bierchen wurde man schließlich nicht voll. Aber heute hatte er auch Lust auf Wein zum Essen. Wenn Line bloß nicht rummaulte. Es konnte so schön mit ihr sein, wenn sie wollte. Ab und zu wurde sie vom Teufel geritten und meckerte über seinen Alkoholkonsum. Aber das ging sie einen Dreck an. Er war ein erwachsener Mann und brauchte keine Frau, die ihm sagte, was er trinken durfte und was nicht. Er hielt sich an Wein und Bier, das war ja kein harter Alk. Und er trank niemals am Morgen. Und wer gönnte sich nicht einen kleinen Absacker nach einem langen Arbeitstag, an dem man mit einem Idioten nach dem anderen zu tun hatte? Das war einfach normal. Es war eher unnormal, es nicht zu tun. Doch, auf ein Gläschen freute er sich.
Er hatte Line tagsüber einige Male angerufen. Nur um ihre Stimme zu hören und die Stimmung auszuloten. Sie hatten gut gelaunt geklungen, also würde sie vielleicht ein paar Glas mittrinken. Ficken würden sie eh, da machte sie zum Glück immer mit. Obwohl es manchmal ein wenig Überzeugungsarbeit brauchte, wenn sie richtig sauer war. Er konnte Line im Küchenfenster sehen und hoffte, dass der Junge gerade nicht da war. Nicht, dass er grundsätzlich etwas gegen Mikkel hatte, aber Mikkel hatte etwas an sich, das ihn nervte. Er wurde sicher nie ein richtiger Mann, wenn seine Mutter ihn weiter so verhätschelte. Es war ganz einfach nicht gesund für einen Jungen, alleine mit seiner Mutter zu sein, darum war es reines Glück für Mikkel, dass Jonas in sein Leben und das seiner Mutter getreten war. Ihn würde er noch in Ordnung bringen, auch wenn seine Mutter nicht mit seinen Methoden übereinstimmte. Eine harte Hand hatte noch keinem geschadet, auch ihm selbst nicht. Jonas bedankte sich beim Fahrer und stieg aus dem Auto. Er steckte den Schlüssel in die Tür und rüstete sich für einen Abend im Schoße der Familie.
Line wischte die Tränen weg und stand auf, ging ins Badezimmer, putzte sich die Nase und wusch ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Danach betrachtete sie sich im Spiegel. Eigentlich ganz hübsch, nur schade, dass sie so dick geworden war. Sie musste zusehen, dass sie endlich mit Sport anfing, viel mehr Gemüse aß und mit all dem Brot aufhörte. Käsestullen, Wurststullen, Kartoffelstullen, aber gab es was Besseres? Line ging in die Küche und sortierte den Einkauf. Kurz danach hörte sie eine Autotür zuknallen, dann wurde die Tür geöffnet und Jonas kam zu ihr in die Küche.
„Hej. Was essen wir heute?“
„Buletten mit…“
„Mmmh, da brauchen wir aber eine Flasche kalten Weißwein, während wir warten. Und einen roten zum Essen. Oder haben wir noch Martini? Magst du nicht zwei machen? Du bist so gut darin.“
Jonas kniff ihr mit der einen Hand in die linke Pobacke und mit der anderen in die rechte Brust.
„Stimmt was nicht? Du bist nicht sauer, oder? Ich hab keinen Bock auf alte, nörgelige Ziegen. Jetzt machen wir es uns gemütlich, ich hatte einen anstrengenden Tag.“
„Ich bin nicht sauer“, sagte Line zum Gott-weiß-wievielten Mal in ihrer dreijährigen Beziehung, was irgendwie auch der Wahrheit entsprach. Sie war viel mehr traurig. Und müde. Aber danach würde er nie fragen. Das erforderte schließlich Fürsorge und Umsicht gegenüber anderen, und die besaß Jonas nicht. Während er weiter über seinen Tag auf der Arbeit schwadronierte, anstrengende Kunden und den offenbar lächerlichen Chef, schenkte er zwei Martini Bianco in dafür vorgesehene Gläser, die sie einmal mit dem Kauf einer Flasche erhalten hatten. Zwei Eiswürfel in jedes und je eine halbe Scheibe Zitrone.
Sie wusste durchaus, dass es einer Doppelmoral gleichkam, mit ihm zu trinken, wenn sie doch so gern wollte, dass er aufhörte. Aber sonst würde er alleine trinken, wie all die anderen Abende, an denen sie keine Lust hatte. Und heute hatte sie Lust auf ein paar Gläser. Das war das ewige Dilemma, wenn man mit einem Alkoholiker zusammenwohnte, dachte sie. Mit ihm zu trinken und damit zu signalisieren, dass es in Ordnung war. Oder es selbst ganz sein zu lassen, obwohl sie kein Problem hatte und damit die eigenen Bedürfnisse unterdrücken. Sie wusste keine Lösung und gerade war es ihr auch vollkommen egal. Sie wollte einfach nur einen gemütlichen Abend verbringen.
Line setzte sich Jonas am Esstisch gegenüber, der zwischen Küche und Wohnzimmer stand. Durch das Fenster konnte sie den Garten und die Straße sehen. Sie war kein Gartenmensch und sie hatte auch keine Lust zu versuchen, es zu werden, denn das Haus in Bagsværd hatten sie nur für zwei Jahre gemietet und es machte keinen Sinn, da viel Energie und Geld zu investieren.
Aber jetzt sollte sie sich besser darauf konzentrieren, was Jonas ihr erzählte, nachfragen und interessiert wirken. Nicht, dass sie nicht an seinem Arbeitsleben interessiert war, aber es wurde ihr so klar, dass es nie um ihres ging. Denn danach fragte Jonas nie. Als wenn es in einer Zimmerei spannender zuging als in einer Nachrichtenredaktion, auch wenn es nur eine Regionalzeitung war.
„Heute sollten wir einige Fensterrahmen zurechtschneiden und Mehmet, dieser Idiot, er hat sie verkehrtherum gedreht, obwohl der Chef es uns gerade erst gezeigt hatte. Manchmal scheint er überhaupt nicht anwesend zu sein“, sagte Jonas, der es liebte, seinen türkischen Kollegen abwechselnd in den Himmel zu loben oder über ihn herzuziehen.
Nach einem Martini und drei Glas Wein war Jonas entspannt und hatte gute Laune. Er flachste mit Mikkel, der immer mit weit aufgerissenen Augen zuhörte, wenn Jonas den großen Geschichtenerzähler gab. Das passierte manchmal, aber immer nur, wenn er getrunken hatte. Wenn er keinen Alkohol getrunken hatte, war er introvertiert, griesgrämig und abweisend. Besonders Mikkel gegenüber.
Line wünschte sich, dass er manchmal auch ein ernsthafter Elternteil sein könnte, aber lustig war in jedem Fall besser als die gedrückte Stimmung, die über dem Haus lag, wenn Jonas einen alkoholfreien Abend verbrachte.
„Kommst du mit raus, wenn ich eine rauche?“, fragte er Mikkel, der einen schnellen Blick zu seiner Mutter hinüberwarf. Sie wankte zwischen ihren Gefühlen. Einerseits war es eine schlechte Idee, mit einem rauchenden, trinkenden, Räubergeschichten erzählenden Mann zusammen zu sitzen. Andererseits könnte sie entspannen und es einfach genießen, dass ihre „Jungs“ ein wenig gemeinsam abhingen und es sich gut gehen ließen.
„Mama macht Klarschiff, wir führen ein Gespräch von Mann zu Mann“, sagte Jonas und legte Mikkel den Arm um die Schultern. Line schüttelte nachsichtig den Kopf und lächelte Mikkel an, wie um zu sagen, es sei okay und begann die Teller zu stapeln.
Als Line aufgeräumt hatte, kamen Mikkel und Jonas wieder in die Küche. Jonas schenkte sich noch mehr Wein ein und Line ging in die Stube, wo sie sich aufs Sofa setzte und den Fernseher einschaltete. Jonas und Mikkel blieben in der Küche und redeten, bis Line Mikkel regelrecht zwingen musste ins Bett zu gehen.
Jonas schmollte erstmal, als er sein aufmerksames Publikum verlor, aber als Line Mikkel ins Bett brachte, hörte sie Jonas telefonieren. Gut, dann hatte er neues Publikum gefunden und sie hatte heute Abend frei.
Nachdem Jonas mit Per die Probleme der Welt gelöst hatte, legte er auf. Sie kannten einander seit der Schule und Per war der einzige, mit dem Jonas von damals noch redete. Die Leute wurden mit der Zeit auch einfach merkwürdig. Mit den anderen Idioten aus seiner alten Klasse wollte er auf jeden Fall nichts mehr zu tun haben. Er leerte sein Glas und rauchte eine letzte Zigarette, während er hinaus in die Nacht schaute. Es war ein guter Abend gewesen. Er hatte eine Familie, eine Freundin, die total auf ihn stand und ihm sein Leibgericht machte, und einen Steifsohn, der meinte, er, Jonas, sei der Coolste. Und das war er ganz sicher. Er hatte alles unter Kontrolle, auch auf Arbeit, er wusste, dass er sein Handwerk beherrschte. Das Leben war gar nicht mal so übel, dachte Jonas und ging ins Schlafzimmer.
Als Line die Spätnachrichten geschaut hatte, ging sie ins Bett. Später krabbelte Jonas zu ihr und sie ließ ihn ran; wie immer. Denn hier im Bett, da fanden sie zueinander. Hier blühten ihre Gefühle für ihn auf. Hier fühlte sie sich verliebt, geliebt, begehrt, glücklich. Sie schlief ein, wie schon so oft. Mit seinen Armen um sich und der Hoffnung, dass alles gut würde, wenn er nur in Behandlung ging.