Читать книгу Der Sorgenzerstäuber - Louise Kringelbach - Страница 4

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»Ich komme wegen...«, mit einer diskreten Kopfbewegung wies die ältere Dame auf einen ergrauten Wolf, der mit hungrigem Blick neben ihr auf dem Boden saß. Der Mann, der ihr gegenüber auf einem gepolsterten Lehnstuhl saß, war ruhig und entspannt und nickte nur freundlich und verständnisvoll. »Immer ist er so furchtbar hungrig - er zehrt an mir und ich weiß weder ein noch aus.« Die Frau saß auf der äußersten Kante ihres Stuhles. Ihre Stimme, die von Anfang an dünn war, wurde immer schwächer, während sie ihre Lage schilderte. Das letzte Wort war nur mehr ein Flüstern, kaum hörbar. Ruhig und aufmerksam betrachtete Dr. Thor Moslav, der Mann im Lehnstuhl, seine Patientin. Die Dame war ungefähr siebzig Jahre alt, 165 Zentimeter groß und wog nicht mehr als fünfzig Kilogramm. Auf dem Kopf trug sie einen braunen Filzhut, unter dem einige glatte und schneeweiße Haare hervorlugten. Ihr Gesicht und ihre Hände hatten dieselbe Farbe. Gekleidet war sie in ein beiges Kostüm, das maßgeschneidert aussah, jedoch für eine größere Person als sie. An ihrer Seite saß ein mittelgroßer Wolf mit blutunterlaufenen Augen. Wachsam und wütend blickte er Dr. Moslav an. Nach langer Stille übernahm Thor das Wort:

»Frau Violet Vedl, ich kann gut verstehen, dass das für Sie nicht einfach ist«, er pausierte kurz, »versuchen Sie mir von dem Moment zu erzählen, als der Wolf das erste Mal in Ihr Leben kam«. Bei dem Wort Wolf zuckte Frau Vedl kurz zusammen. Zum ersten Mal betrachtete sie den jüngeren Mann gründlich, der vor ihr saß. Sie schätzte, dass er dasselbe Alter wie ihr ältester Sohn haben müsste, also Mitte Vierzig. In ihrem Umgangskreis beschriebe man ihn als einen adretten Mann, mit seiner feinen Kleidung und der sorgfältigen Frisur. Aber augenfällig an ihm war seine Wachsamkeit. Die alte Dame hatte so etwas noch nie erlebt. Sein gesamtes Wesen war vollkommen auf sie gerichtet, als hielte er sie für den einnehmendsten Menschen auf der Welt. Gleichzeitig war er nicht anmaßend. Viele zeigten ihr Mitleid oder ignorierten sie, sobald sie das Tier an ihrer Seite bemerkten. Doch nicht Dr. Thor Moslav. Sein Interesse schien aufrichtig zu sein. Auf der anderen Seite musste es das auch sein, da er einer der berühmtesten, um nicht zu sagen bestbezahlten Sorgenzerstäuber in Dänemark war. Frau Vedl schloss die Augen, holte tief Luft und begann zu erzählen:

»Verstehen Sie, vor etwas weniger als einem halben Jahr verstarb mein Mann völlig unerwartet. Für mich war es zumindest so. Siebenundvierzig Jahre waren wir verheiratet gewesen und ich mit meiner schwachen Gesundheit hatte immer geglaubt, dass ich zuerst ins Grab gehen würde. Mein Begräbnis hatten wir schon viele Jahre geplant - mitsamt der Grabstätte, Psalmen, möglichen Sargträgern, französischen Lilien und mehr. Über die Bestattung meines Mannes hatten wir noch nicht einmal nachgedacht. Wo er doch so vieles hatte, das er noch erreichen wollte. Aber letztes Jahr wurde bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert - dem Oberarzt Erik Vedl, der er nie geraucht hat. Ganz wahr ist das nicht. Eine Zigarre rauchte er zu Neujahr und zur Geburt unserer Kinder und Enkel, ansonsten nie. Die Proben der Ärzte zeigten, dass der Krebs sich in die inneren Organe ausgebreitet hatte und dass seine Tage gezählt waren. Wie viel Zeit ihm noch blieb, wollten oder konnten die Ärzte nicht sagen, aber das war im Grunde genommen eins. Als Oberarzt konnte mein Mann die Resultate selbst überprüfen.

Als wir nach den letzten Untersuchungen vom Krankenhaus nach Hause kamen, schoss mein Mann sich noch in derselben Nacht eine Kugel in den Kopf. Erik war ein bestrebter Anhänger des Heimatschutzes und besaß ein ganzes Waffenarsenal. Die meisten waren ausgesuchte, zum Teil antike Stücke mit schönen Ornamenten. Es wundert mich nicht, dass er ein doppelläufiges Gewehr wählte, wo Erik einer der wenigen war, die eine spezielle Zulassung für eine solche Waffe hatten. Alle Umstände miteinbezogen hat er sehr umsichtig gehandelt. Ich meine damit, dass er eine furchtbare Unordnung angerichtet hätte, wenn er eine normale Flinte genommen hätte. Tage hätten wir gebraucht, um alles zu entfernen und das wäre ein Alptraum gewesen.«

Einen Moment lang verlor Frau Vedl sich in Gedanken, bevor sie weiter redete: »Der Tag, den er als seinen letzten wählte, war der sechste April. Bei dem Knall des Schusses bin ich in unserem Schlafzimmer im ersten Stock aufgewacht. Wie im Schock blieb ich kurze Zeit liegen, bevor ich raus in den Garten ging und Erik, bekleidet mit seinem hübschen grauen Anzug, unter unserem Kirschbaum liegen sah, der gerade erst anfing zu blühen. In seinem Arbeitszimmer lag seine Krankenakte aus dem Krankenhaus. Auf die Vorderseite hatte er geschrieben:

'Entschuldigt, aber das Leben eines unheilbaren Krebspatienten ist meiner nicht würdig'. Ich las die Worte, doch ich konnte sie nicht verstehen. Gedanken schossen mir durch den Kopf: Was ist mit mir? Was dachte Erik, sollte mit mir passieren? Wie konnte er als Oberarzt diese Wahl treffen? Welches Leben erwartete mich als Witwe eines Krebspatienten, der Selbstmord begangen hat? Diese Behauptung ist wahnsinnig, dass Selbstmord würdiger sei als das Leben als Patient. Ich verstand nichts, und dann entdeckte ich das Tier an meiner Seite.« Mit einer diskreten Kopfbewegung wies Frau Vedl auf den Wolf an ihrer Seite, der nun zu knurren begonnen hatte und die Augen zusammenkniff. Ihre Stimme wurde schwächer:

»Nun sind einige Monate seit Eriks Tod vergangen, aber ich konnte mich bisher um nichts kümmern - weder mein Heim, noch meine Kinder, Familie, Bekannte oder den Gartenverein. Das Tier zapft mir alle Kräfte ab. Immer ist es so furchtbar hungrig. Sie müssen verstehen... Ich weiß weder ein noch aus. Ein Oberarztkollege meines Mannes empfahl mir, Sie aufzusuchen, da sie der renommierteste Sorgenzerstäuber sind und Ihr ist Ruf einwandfrei.« Das letzte Wort flüsterte sie eindringlich:

»Dr. Moslav, können Sie mir überhaupt helfen?« Thor lehnte sich zu ihr. Ruhig sah er ihr in die Augen und sagte: «Es wird vielleicht einige Zeit in Anspruch nehmen, weil das Tier so groß ist, aber ich verspreche Ihnen, dass ich mein Bestes tun werde. Das Leben ist zu kurz, um ein Sorgentier für längere Zeit an der Seite haben zu müssen. Danach lehnte er sich zurück in seinen Stuhl, faltete die Hände zusammen und sagte: »Lassen Sie uns anfangen.«

Violet Vedl war eine typische Sorgenpatientin in der Praxis von Sorgenzerstäuber Thor Moslav. Ihre Sorgen waren so groß und kompliziert geworden, dass sie sich als Sorgentier an ihrer Seite materialisiert hatten. Dies war völlig normal. Vielen Menschen widerfuhr es zu einem oder mehreren Zeitpunkten in ihrem Leben, dass sie ein Sorgentier bekamen.

Während manche empfänglich dafür waren, offen darüber mit anderen Menschen redeten oder eine Behandlung aufsuchten, um ihre Sorgen zu lindern, versuchten andere Menschen ihre Tiere zu verstecken. Oft hatten sie die meisten Schwierigkeiten, sich mit ihren Sorgen zu befassen.

Ein Sorgentier gab es in allen Ausformungen, von Wurm oder Schwein bis zu Tiger oder Spinne. Meistens konnten andere Menschen das Sorgentier des Betroffenen sehen, doch zuweilen war es schwer zu erkennen, ob es sich um ein Haustier oder doch ein Sorgentier handelte. Außerdem war das Verhalten der Tiere selten gleich und hing von den Betroffenen und deren Sorgen ab. Sogar Sorgentiere wie zwei Wespen, die ansonsten identisch waren, konnten sich äußerst unterschiedlich verhalten. Die eine stach vielleicht den Betroffenen die ganze Zeit, während die andere summend Nektar von den Blumen des Sorgengeplagten sammelte.

Auch die Betroffenen selbst verhielten sich zu ihren Sorgentieren so unterschiedlich, wie sie mit ihren jeweiligen Sorgen umgingen. Für viele war ein Sorgentier ein hartes und beinahe unerträgliches Erlebnis, während das Tier für andere zum Lebensinhalt werden konnte. Für manche bedeutete es einen Neubeginn. Ein Sorgentier zu haben stellte demnach nicht notwendigerweise etwas Unbehagliches oder Negatives dar. Einzelne sahen in ihrem Sorgentier sogar ein gutes Zeichen. Sorgen zu haben brachte nicht unweigerlich ein Sorgentier hervor. Ein Mensch kann ein traumatisches Erlebnis verarbeiten, wie ein Kind oder einen Angehörigen zu verlieren, und dabei eine schwere Trauerperiode durchleben, aber am Ende durchkommen, ohne dass sich dieses Erlebnis als Sorgentier manifestiert hätte. Gleichzeitig konnte ein Mensch ein Sorgentier bekommen, ohne dass der Betroffene sich notwendigerweise traurig fühlte. Die Sorgenzerstäubung war die häufigste, wenn auch nicht einzige Methode, sich eines Sorgentiers zu entledigen. Manche Sorgengeplagten bevorzugten es, mit Ärzten, Psychologen oder Sorgengruppen zu reden. Dann gab es natürlich auch mehr alternative Methoden wie Kristallheilung oder Tanztherapie. Solche Methoden waren nicht wissenschaftlich fundiert, aber gaben den Patienten ein gutes Gefühl.

Thor Moslav war ein vom Staat autorisierter Sorgenzerstäuber. Dies bedeutete, dass er mit Geduld und wiederholten Behandlungen ein Sorgentier zum Verschwinden oder zu einer Verwandlung bringen konnte. Zuweilen resultierten seine Behandlungen darin, dass das Tier seine Form änderte - und damit auch sein Verhalten. Ein bissiger Tiger konnte ein scheuer Luchs werden, der zu einem verschmusten Iltis wird, von dem der Sorgentragende sich nur ungern trennt. Oder ein großer, mürrischer Elefant wurde zu einem verspielten Elefantenjungen. Das Studium der Sorgenzerstäubung war in gleicher Weise anspruchsvoll wie vergleichbare Ausbildungen als Arzt oder Psychologe. Da Thor Moslav sein Studium in der Regelzeit abschloss, erhielt er die höchste Auszeichnung und als Begründung schrieb ein Professor: »Nicht nur war Thor Moslav ein vorbildlich hart arbeitender Student, der klug und enthusiastisch zur Freude von Dozenten und Kommilitonen vollen Herzens am Studium teilgenommen hat. Auch besitzt er eine bemerkenswerte Anteilnahme und Verständnis für die Patienten, was bedeutet, dass er mit Sicherheit die richtigen Vorgangsweisen anwendet. Persönlich erwarte ich mir viel von Thor Moslav.«

Als Frau Vedl ihre Geschichte zu Ende erzählt hatte, wusste Thor, weswegen sie gekommen war und was sie von ihm erwartete. Damit war er bereit, den Sorgenzerstäubungsprozess zu beginnen.

Frau Vedl beobachtete, wie Dr. Moslav die Augen schloss. Langsam entspannte sich sein Gesicht, bis es zuletzt vollkommene Ruhe ausstrahlte. Dann öffnete er die Augen. Sein Blick hatte sich verändert und war nun ungeheuer intensiv und dunkel. Der Blick saugte Frau Vedls Sorgen in den Raum zwischen ihnen. So etwas hatte sie noch nie erlebt. Als hingen ihre Sorgen wie eine zitternde Wolke aus Luft zwischen ihnen, schien es ihr. Die eigenen Sorgen so außerhalb von sich zu sehen war seltsam. Danach legte Dr. Moslav seinen Kopf unter die Sorgen und blies sie vorsichtig nach oben. Die Sorgen stiegen langsam auf und der oberste Teil der Wolke zerstäubte. Dann schloss Dr. Moslav die Augen und mit einem Mal endete der Kontakt. Frau Vedl konnte merken, wie die Sorgen sich zurück in ihre Brust schlichen. Immer noch nahmen sie viel von ihr ein, doch sie fühlten sich anders an. Es schien nun leichter zu sein, Luft zu holen. Als sie den Kopf zum Tier wandte, sah sie überrascht, dass es erheblich in seiner Größe geschrumpft war. Das Fell war weicher geworden, die Augen nicht länger blutunterlaufen und der für gewöhnlich hungrige Ausdruck war verschwunden. Jetzt sah es bloß noch aufgebracht aus und glich mehr einem großen Hund denn einem gierigen Wolf.

Thor öffnete die Augen und betrachtete die Veränderungen an Frau Vedl und ihrem Sorgentier. Der Verlauf der Behandlung war äußerst unterschiedlich und es war schwer vorauszusehen, wie das Tier auf die Behandlung reagieren würde. Bei manchen konnten die Sorgen sofort zerstäubt werden, aber in den meisten Fällen bedurfte es mehrerer Behandlungen.

»Wie geht es Ihnen?« fragte Thor.

»Besser«, antwortete sie verwundert. Die Stimme der älteren Dame klang kraftvoller.

»Meiner Erfahrung nach ist es ein gutes Zeichen, dass das Tier sich bereits jetzt so stark verändert hat. Sie sollten sich bewusst sein darüber, dass die Sorgen in Schüben kommen. An manchen Tagen läuft es besser als an anderen. Also erschrecken Sie sich nicht, sollte der Wolf plötzlich wieder etwas größer werden. Wir werden ihn schon zerstäubt kriegen.«

Frau Vedl stand auf, blickte direkt herunter auf das Tier und sagte mit fester Stimme: »Das werden wir.«

Thor folgte ihr und dem Tier hinaus zu seiner Sekretärin Anna Hansen in das Vorzimmer, um einen neuen Termin zu vereinbaren. Sein Blick fiel auf einen kurzen Bericht auf der Vorderseite der Zeitung: »Sorgentier in Mordfall verdächtigt«. Doch er hatte keine Zeit mehr, den Artikel zu lesen, da die Sekretärin ihm im selben Moment eine neue Krankenakte in die Hand drückte und ihm erklärte, dass ein Patient wartete und er im Übrigen hinter dem Zeitplan lag. Mit der Schlagzeile im Hinterkopf ging er weiter ins Wartezimmer und wandte sich an Jane Bruun.

Der Sorgenzerstäuber

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