Читать книгу Der Sorgenzerstäuber - Louise Kringelbach - Страница 6

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Eine adrett gekleidete Frau in den Dreißigern erhob sich. Mit der linken Hand fuhr sie dreimal über ihr Kleid, während sie mit der rechten ihre Frisur richtete. Drei Wespen summten träge um ihren Kopf. Glücklich lächelnd begrüßte sie Thor mit einem festen Händedruck, während sie sein Büro mit der Panoramasicht auf den großen Park der Stadt betrat. Wie gewöhnlich nahm sie im rechten Sessel Platz und machte es sich bequem. Thor betrachtete sie mit einem interessierten Blick und setzte sich in den linken Sessel.

»Seit wie vielen Jahren kommst du schon zu mir?«

Heiter antwortete Jane: »Zu viele Jahre, als dass ich die Zahl laut aufsagen mag. Aber ich bin doch eine deiner ältesten und treuesten Patientinnen.«

Warm lächelten sie einander an, bis Jane Bruun ihre Neuigkeiten nicht länger geheim halten konnte:

»Es läuft gut. Es läuft richtig, richtig, richtig gut. Ich erwarte Zwillinge - zwei Mädchen!« Ihr Gesicht strahlte so wie die Spätsommersonne draußen.

»Was für großartige Neuigkeiten! Du hast erzählt, dass ihr seit längerer Zeit daran arbeitet.«

Eifrig nickte Jane, aber dann zuckte es in ihrem Mundwinkel. Sie lehnte sich vor und sagte: »Ich möchte dich bitten, dafür zu sorgen, dass die Wespen mich während der Schwangerschaft nicht stechen und vor allem, dass sie meinen Sohn und die Zwillinge, wenn sie da sind, in Ruhe lassen. Ich möchte, dass du die Wespen zerstäubst, damit sie nicht stechen können.«

»Jane, darüber haben wir bereits gesprochen.« Thor setzte sich auf dem Stuhl zurecht. »Du weißt genau, dass du mehr von mir erwartest, als ich in Wirklichkeit zu tun im Stande bin. Ich kann versuchen, sie zu zerstäuben oder ihre Form zu ändern, aber ich kann und darf nicht versuchen, sie zu kontrollieren.«

»Aber du bist der beste Sorgenzerstäuber, Thor. Jeder weiß das. Letzte Woche habe ich mit meiner Schwägerin geredet, die mehrere Monate auf der Warteliste stand, um von dir behandelt zu werden. Ein Bekannter legt Geld von seinem Haushaltsbudget auf die Seite, für nur eine einzige Sitzung bei dir. Wenn du das nicht kannst, dann schafft es niemand. Ich bin es doch, die dich um den Versuch bittet - eine alte und sehr treue Patientin - was könnte also falsch daran sein, es zu versuchen?!« Sie ließ den Kopf hängen.

Thor blieb still.

Sie faltete ihre Hände zusammen und sagte: »Von allen Menschen müsstest du am besten wissen, wie schwer mein Dasein gewesen ist. Die ganze Geschichte mit meiner Schwester fällt mir immer noch schwer... Mir gefiel es, ein Teil der Glücklichen Drei zu sein, aber das ist Vergangenheit.«

Jane Bruun war in einer gutbürgerlichen Familie mit zwei Geschwistern aufgewachsen. Die zwei Schwestern und ihr Bruder hatten sich gern die Glücklichen Drei genannt.

Thor antwortete: »Auf deinen Schultern lastet eine gewaltsame Geschichte. Trauer erfordert Zeit.«

»Denk daran, dass ein einziger Tag alles verändern kann. Denk daran, dass es mein Geburtstag sein sollte, der alles verändert hat.« Ihre Stimme war ausdruckslos.

An ihrem neunzehnten Geburtstag wollten ihr Bruder, ihre Schwester und sie in einem Naturschutzgebiet feiern. Die ganze Familie bestand aus begeisterten Naturmenschen. Sie bewegten sich wie selbstverständlich in Flora und Fauna und konnten sich ohne Probleme eine Woche lang nur von deren Gaben ernähren. In der Gegend, in der ihre Familie jahrelang ihr Lager aufgeschlagen hatte, hatten sie ein Zelt aufstellen wollen. Am Morgen hatte Jane sich ein Stück eines Zahnes abgebrochen und sollte daher zuerst zum Zahnarzt. Der Zahn wurde gerichtet und vier Stunden später machten Jane und ihr Bruder sich auf zum Lager.

Mit derselben tonlosen Stimme fuhr Jane fort: »Alle betonten, wie tapfer ich mit dem Schock umgegangen sei.«

Vor dem Zelt hatten sie ihre leblose Schwester gefunden, die mit einem Schläger zu Tode geprügelt worden war. Um ihren Kopf schwirrten Insekten. Die Ermittlungen der Polizei hatten ergeben, dass ein geistig verwirrter Mann einfach Amok gelaufen war. Der erste und bis dahin einzige Mord in der Gegend.

»Das bist du auch.« Anerkennend nickte Thor ihr zu.

»Wirklich? Warum verschwinden die drei Wespen dann nicht? Warum komme ich seit so vielen Jahren zu dir?« Eine Ader zeichnete sich an ihrem Hals ab.

Als Jane Bruun zum ersten Mal zu Thor gekommen war, hatte sie bereits zwei andere Sorgenzerstäuber besucht. Dass sie sich nach verhältnismäßig kurzer Zeit wieder dem Leben in die Arme geworfen hatte, war für alle beeindruckend gewesen. Mit dem Leben an der frischen Luft hatte sie abgeschlossen und stattdessen eine kaufmännische Büroausbildung begonnen, die sie vor der Regelzeit abschloss. Mit der Zahl Drei hatte sie jedoch eine Zwangsvorstellung entwickelt. So konnte sie nur in Häusern leben, deren Nummern durch drei teilbar waren. Als sie ihren fünften Partner heiratete, nahm Thor dies als Zeichen der Genesung. Wenig überraschend waren drei Wespen ihre Sorgentiere, die sich meistens ruhig verhielten, aber plötzlich, wie aus heiterem Himmel, sie zu stechen anfingen. Zudem waren sie äußerst resistent. Nie hatte Thor sie endgültig zerstäuben können. Stattdessen war es immer wie ein Schritt vor und zwei Schritte zurück.

»Vielleicht könntest du auch einen Psychologen aufsuchen?« schlug Thor vorsichtig vor.

Sie wandte sich im Stuhl: »Das will ich nicht und das weißt du auch. Möglicherweise habe ich Sorgen, aber kein psychisches Leiden. Meine Sorgentiere sind einfach unglaublich widerspenstig... Du bist der einzige, der mir zumindest ein wenig helfen konnte.« All die geballte Energie, die sie vorher von sich gegeben hatte, war verschwunden. Nun hingen ein paar Strähnen aus ihrem ansonsten so schön frisiertem Haar. Die Locken flogen in alle Richtungen und ihr Gesichtsausdruck war suchend. Diese Seite kannten nur die wenigsten Menschen an Jane Bruun, aber Thor hatte sie einige Male während der Behandlung gesehen.

Er lehnte sich zu ihr und sagte beruhigend: »Es wird schon werden. Ich werde dir immer gerne helfen. Aber denk daran, dass ich nur die Fähigkeit habe, dir beizustehen. Du musst dir bewusst sein, was du willst. Also frage ich dich nochmal: Was möchtest du erreichen?«

»Ich will einfach nur dafür sorgen, dass nichts, nichts, überhaupt nichts schief gehen kann. Dass meine Zwillingsmädchen und mein Junge die neuen Glücklichen Drei werden können. Kann das so schwer sein?« Mit einem scharfen Klang in der Stimme lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück.

»Das kann ich gut verstehen, aber du musst daran denken, dass ich dir als einziges den Versuch anbieten kann, deine Sorgentiere zu zerstäuben. Ich habe keine Kontrolle darüber, was dann passieren wird und in was sie sich entwickeln werden.« Diese Diskussion führten sie nicht zum ersten Mal.

»Also tu es!«

Thor schloss die Augen und begann, sich auf ihre Sorgen einzustimmen. Langsam konnte er sie aus Jane heraussaugen, sodass sie wie eine zitternde Wolke zwischen ihnen hingen. Als er versuchte, sie so gut wie möglich zu zerstäuben, konnte er sie nicht vollständig greifen. Jahrelang lief es schon so. Die Sorgen bargen einen Sumpf aus Missmut und Angst in sich, den er nicht durchdringen konnte und sie waren nur schwer zu erreichen, wenn der Patient entweder zweifelte, wohin er mit den Sorgen wollte, er abhängig von ihnen geworden war oder vielleicht gar nicht wünschte, dass Thor sie erreichte.

Später, nachdem Jane gegangen war, erhielt Thor unerwartet ein wenig Zeit für sich. Der nächste Patient, Mortimer Prais, einer seiner Lieblingspatienten mit einem Babyelefanten als Sorgentier, war nicht gekommen. Dass gerade Mortimer Prais eine Sitzung versäumte, war ungewöhnlich. Aber Thor nahm es gelassen und nutze die freie Zeit, um sich bei den Zeitungen und Illustrierten im Wartezimmer auf den neuesten Stand zu bringen. Gründlich durchsuchte er einen Stapel von den neuesten Ausgaben, um die Zeitung mit dem kurzen Artikel über das Sorgentier zu finden, das von der Polizei in einem Mordfall verdächtigt wurde - doch ohne Glück.

Später an diesem Tag hatte er ein Interview mit einer Journalistin des monatlichen Magazins Karriere und Erfolg, die einen Sonderbeitrag über Thor Moslav schreiben wollte und wie er im Alter von dreiundvierzig zum erfolgreichsten Sorgenzerstäuber des Landes geworden war. Er wurde darum gebeten, seine zehn besten Ratschläge zum Managen der eigenen Karriere zu geben. Viele Male hatte er schon über dieses Thema sprechen müssen. Seine Anleitung für Erfolg hatte sich seit vielen Jahren nicht geändert und war nichts Neues unter der Sonne.

Während die Farben im Park hinter ihm funkelten, nahm er Platz in seinem gemütlichen Sessel.

Der Sorgenzerstäuber

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