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Camilla Nielsen lag ganz still, mucksmäuschenstill, da, doch ihre Augen waren weit geöffnet. Mit einem Fuß fest auf dem Boden lag sie auf ihrem Bett. Auf diese Weise verbunden mit der Erde starrte sie hinauf in die Luft, während sie darauf wartete, dass die Übelkeit verschwand. Selbst die kleinste Bewegung löste Vibrationen in ihrem Körper aus, die in kleinen Wellen aus Übelkeit aufstiegen. Wenn sie sich fest auf den dunklen Schatten an der Decke konzentrierte, der einem Kaninchen ähnelte, war der Brechreiz nicht so übermächtig und ertragbarer. Andererseits machte das sonst alles überschattende Leiden auf diese Weise Raum dafür, an die andere Sache zu denken. Diese unterschied sich einerseits bedeutend vom Brechreiz und war auf ihre eigene Weise doch genau so bedrohlich, alles überschattend und gewaltig, vielleicht sogar noch mehr.

Wenn sie auf ihr Leben zurückblickte, konnte sie nicht einen Moment finden, der sie als außergewöhnlich definiert hätte. Ihr Leben war ein gänzlich vernünftiges und durchschnittliches gewesen. Auf einer Skala befände es sich brav auf der oberen Mitte, ohne etwas Besonderes aufzuweisen. Ohne Vorwarnung war sie an einem Wendepunkt angelangt, an dem sich dies ändern sollte und eine Intuition sagte ihr leise, dass sie irgendwann die Orientierung verloren hatte. Wie oder warum konnte sie sich nicht erklären.

Bis dahin hatte sie nichts zu beklagen gehabt. Ihre Kindheit war sorglos und gut gewesen und sie hatte immer noch ein tolles Verhältnis zu ihren Eltern. Mit ihren Geschwistern verstand sie sich sogar großartig, auch wenn sie sich selten sahen. Die Schule war in Ordnung gewesen, ohne nennenswerte Ereignisse. Die Zwanziger dann waren in einem rauschhaften, schnellen Tanz aus Reisen, Männern, Erlebnissen sowie wechselnden Studien und Jobs verloren gegangen. Das meiste war unterhaltsam gewesen und es gab nur wenige Erlebnisse, die sie gerne ausgelassen hätte. Alles lief geradezu großartig und sie hatte sich gefühlt, als sei sie auf der richtigen Spur. Dann eines Tages hatte sie entdeckt, dass sie die Orientierung verloren hatte. Ohne es bemerkt zu haben, fand sie sich an einem Platz wieder, an dem sie nicht sein wollte und kein Weg konnte sie zurückführen.

Ihr Gesicht verzog sich und selbst diese kleinste Bewegung ließ eine neue Welle aufsteigen. Einen Augenblick dachte sie, dass sie zur Toilette laufen müsste, um sich zu übergeben. Aber sie kämpfte dagegen an. Der Gedanke, hockend vor der Toilette zu sitzen und auf den Boden zu starren, war zu erniedrigend. Stattdessen sammelte sie all ihre verbleibende Kraft, um sich fest auf die dunkle Wolke in der Luft zu konzentrieren. Langsam löste das Gefühl sich auf und sie konnte ihre Gedanken wieder schweifen lassen.

Mit rasendem Tempo näherte sie sich der Mitte dreißig und in Wahrheit gab es niemanden, mit dem sie gern zusammen sein würde. Wo war der schöne, reiche Mann, der sie anbetete, die zwei wohlerzogenen Kinder, das weiße Einfamilienhaus mit Garten und der inspirierende Teilzeitjob?

Eines Tages war es ihr aufgegangen, wonach sie sich eigentlich sehnte und wie weit der Traum außer Reichweite war. Kurz darauf, in den Nächten, die sie allein verbrachte, hatte ein gutmütiger und meistens nasser Schäferhund begonnen, sie zu besuchen. Scheinbar hielt er sich für einen Wolf, denn Nacht für Nacht heulte er jammervoll den Mond an. Sein Geheule traf einen wunden Punkt in ihr und ein wundersames Wohlgefallen überkam sie in den Nächten mit dem Hund, in denen sie zusammen im Chor heulten. Tatsächlich schienen diese gemeinsamen Stunden ihr mehr zu geben als die Gesellschaft anderer Menschen.

Nachdem sie lange Zeit daran verzweifelt war, dass alle guten Männer vergeben waren, versuchte sie, ihr jetziges Dasein einfach zu akzeptieren. Auf jeden Fall konnte der Hund sie glücklicher machen und ihr treuer sein als die meisten Männer. Eines Tages würden die guten Männer bereit sein für eine neue Ehefrau, ein neues Paar Kinder und ein weißes Einfamilienhaus und dann wäre sie an der Reihe. Doch dann drang die Übelkeit in ihren Körper und verdrängte den sorgenvollen Schäferhund.

Neun Wochen zuvor hatte begonnen, physisch zu leiden, mit wiederkehrendem Brechreiz, Spannungsgefühl in den Brüsten und ausbleibender Menstruation. Zunächst nahm sie dies als Zeichen für ihre neue Situation oder einen trägen Eierstock hin. Frauen konnten schließlich in seltenen Fällen eine Menstruation überspringen, wenn die Eierstöcke in diesem Monat kein Ei produziert hatten. Als ihre Tage auch im nächsten Monat ausblieben, machte sie einen Schwangerschaftstest, der ihr zwei leuchtend rote Striche anzeigte. Also ging sie zur Apotheke und kaufte weitere fünf Tests von verschiedenen Marken. Dann suchte sie unangemeldet einen Gynäkologen auf und drängte ihn, sie zu untersuchen. Seine Antwort stimmte mit den Testresultaten überein: ein klares Ja. Sein Bescheid hüllte alles in einen dichten Nebel. Sie hatte keine Erinnerung mehr, wie sie an diesem Tag nach Haus gekommen war. Erst als sie auf dem Bett lag, kamen ihre Sinne zurück und auch nur, weil der qualvolle Brechreiz wieder einsetzte, der ihren Körper schon mehrere Wochen lang durchzog.

Ihre aufkommenden Gedanken drehten sich nicht um die Frage, ob sie das Kind behalten sollte. Das wollte sie mehr als gern. Wer konnte schon sagen, ob dies nicht ihre letzte Chance war, Mutter zu werden? Zu einem anderen Zeitpunkt wäre sie vielleicht schon zu alt. Nur dass sie nicht mehr mit dem Vater zusammen war, störte sie. Die wunderbare Verliebtheit zwischen ihnen hätte zu etwas Größerem wachsen können und war doch im Sand verlaufen. Tief im Innersten wusste sie, warum. Als sie nachts im Bett gelegen hatten und sie seine Brust streichelte, fragte sie plötzlich:

»Warum hat ein so schöner und interessanter Mann wie du keine Kinder?«

»Ich kann keine bekommen.« Er grinste schief und streichelte ihren Arm.

»Tut dir das nicht leid?« Camilla fand das Thema äußerst spannend.

»Ja und nein. Aber das ist mein Schicksal und ich habe gelernt, damit zu leben.«

»Und wenn du nun doch Kinder bekämst?«

»Aber das ist unmöglich. Ein Kind könnte ich höchstens durch eine Adoption bekommen und das möchte ich nicht.« Ernst blickte er sie an.

»Ich möchte mindestens zwei Kinder haben«, sagte sie nach kurzer Zeit.

»Aber leider nicht mit mir.« Eine Spur Traurigkeit lag in seinem Tonfall, während er das Licht löschte und sie sich schlafen legten.

Nach diesem Gespräch begann ihre Beziehung abzuebben und sie telefonierten nur noch selten miteinander, bis sie kurz darauf kein Paar mehr waren.

Eine starke Welle Übelkeit überkam sie, aber sie kämpfte dagegen an. Ihr war bewusst, dass er nicht Vater werden wollte und sie, wenn sie das Kind bekommen wollte, dies alleine tun müsste. Auch wollte sie nicht einzig aus dem Grund mit einem Mann zusammen sein, weil sie ein Kind miteinander hatten. In Wirklichkeit wollte sie einen neuen Mann treffen, in den sie sich Hals über Kopf verlieben konnte. Aber niemand würde sie hochschwanger attraktiv finden außer sonderlichen und anormalen Männern. Wie sollte sie auch einen interessanten Mann finden, wo sie sich am besten fühlte, wenn sie flach und allein im Dunkeln lag? Vielleicht sollte sie sich einfach einen Hund anschaffen? Sie vermisste den nassen Schäferhund und konnte sich einen neuen, der von guter und zuverlässiger Herkunft war, gut vorstellen. Aber ein solcher Hund kostete viel Geld. Ihre Stirn war bedeckt von Schweißperlen.

Die finanzielle Situation war das Schlimmste. Das konnte sie sich überhaupt nicht vorstellen. Wie sollte sie über die Runden kommen? Bereits jetzt hatte sie oft genug Probleme damit gehabt. Vielleicht sollte sie kein Kind in die Welt setzen, wenn sie nicht auch finanziell für eine geregelte Kindheit sorgen konnte. Ihr Studium abzuschließen wäre eine Idee, um einen besseren Job zu bekommen. Oder vielleicht könnte sie sich nur absichern, indem der Vater ihr Unterhalt zahlte? Sie machte sich eine Notiz, ihren Berater bei der Bank anzurufen, sobald sie aufstehen konnte, ohne sich zu übergeben.

Wenn die Übelkeit nicht durch sie tobte, schwammen ihr diese Gedanken durch den Kopf. Nur schwer konnte sie sagen, was sie am meisten plagte - Brechreiz oder Zukunft.

Der Sorgenzerstäuber

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