Читать книгу Tief eingeschneit - Louise Penny - Страница 10
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Оглавление»Ihr Name war Cecilia de Poitiers«, sagte Agent Robert Lemieux als Antwort auf Gamaches erste Frage. »Aber alle nannten sie CC. Das ist die Stelle, an der es passiert ist, Sir.« Lemieux versuchte, nicht allzu beflissen zu klingen. Andererseits wollte er auch nicht gleichgültig klingen. Er straffte die Schultern und bemühte sich darum, so auszusehen, als wüsste er, was er tat.
»Hier?« Gamache beugte sich über den Schnee.
»Ja, Sir.«
»Woher wissen Sie das?«, fragte Jean Guy Beauvoir. »Hier sieht es doch überall gleich aus.«
Das war tatsächlich so. Fußabdrücke im Schnee, so weit das Auge reichte. Genauso gut hätte die Santa-Claus-Parade über den Tatort marschiert sein können. Beauvoir zog sich seine schwarze Skimütze tiefer ins Gesicht und klappte die Ohrenschützer herunter. Diese Kopfbedeckung kam dem, was er unter kleidsam verstand, noch am nächsten und war einigermaßen warm. Jean Guy Beauvoir befand sich in einem ständigen Konflikt mit sich selbst, hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, Sachen zu tragen, die seinen schlanken, athletischen Körper zur Geltung brachten, und dem Bedürfnis, sich dabei nicht seinen knackigen Hintern abzufrieren. Der Winter in Québec machte es einem praktisch unmöglich, gleichzeitig gut auszusehen und warm angezogen zu sein. Und Jean Guy Beauvoir legte ganz gewiss keinen Wert darauf, mit Anorak und Ringelmütze eine lächerliche Figur abzugeben. Er blickte zu Gamache, der so gesetzt wirkte, und fragte sich, ob ihm genauso kalt war wie ihm selbst und er es nur nicht zeigte. Der Chief trug eine graue Pudelmütze, einen gelben Kaschmirschal und eine lange Daunenjacke in einem dunklen Beige. Er schien nicht zu frieren. Beauvoir war verblüfft, wie hübsch warm ein Anorak, eine merkwürdige Mütze, dicke Fäustlinge und all dieses Zeug bei minus zehn Grad aussahen. Ihn beschlich der Verdacht, dass möglicherweise er derjenige war, der merkwürdig aussah. Er schob diesen unerfreulichen Gedanken schnell beiseite, und schon fuhr ihm ein Windstoß durch seine schicke Fliegerjacke hindurch bis in die Knochen. Bibbernd trat er auf der Stelle. Sie standen auf einem zugefrorenen See, kalt und öde. Das diesseitige Ufer lag ungefähr hundert Meter hinter ihnen, das andere Ufer war nichts weiter als ein dunkler Strich in der Ferne. Beauvoir wusste, dass hinter der Landspitze, die sich zu ihrer Linken erhob, Williamsburg lag, aber momentan hatte er das Gefühl, dass sie sich fernab jeglicher Zivilisation befanden. Zumindest standen sie an einer Stelle, an der etwas sehr Unzivilisiertes geschehen war.
Genau hier war jemand ermordet worden.
Leider hatte zum betreffenden Zeitpunkt niemand etwas bemerkt.
»Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen«, sagte Gamache zu Lemieux.
Das war immer einer der schönsten Momente, wie Beauvoir fand. Der Beginn eines neuen Rätsels. Aber Gamache wusste, dass dieses Rätsel, wie bei jedem Mord, vor langer Zeit begonnen hatte. Das hier war weder der Anfang noch das Ende.
Gamache ging etwas weiter auf den See hinaus, unter seinen Schritten brach die dünne Schicht Harsch, und seine Stiefel sanken in den weicheren Schnee darunter. Gamache spürte an seinen Knöcheln das verräterische Rieseln von Wassertropfen und wusste, dass der Schnee den Weg in seine Stiefel gefunden hatte.
»Laut Zeugenaussagen ist das Opfer einfach zusammengebrochen«, sagte Lemieux mit Blick auf den Chief, um herauszufinden, ob diesem seine Antworten genügten. Er wirkte unzufrieden, und Lemieux krümmte sich innerlich. Hatte er jetzt schon etwas falsch gemacht? »Sie haben versucht, sie wiederzubeleben, weil sie dachten, es wäre ein Herzanfall, dann haben sie sie auf einen Pritschenwagen gelegt und ins Krankenhaus gebracht.«
»Sie sind also auf dem gesamten Tatort herumgetrampelt«, sagte Beauvoir, als wäre das Lemieux’ Schuld.
»Ja, Sir. Ich denke, sie haben ihr Bestes getan.«
Lemieux wartete auf eine weitere Rüge, doch sie blieb aus. Stattdessen schnaubte Beauvoir, und Gamache sagte: »Fahren Sie fort.«
»Der Arzt in der Notaufnahme, ein Dr. Lambert, hat etwa eine halbe Stunde später die Polizei benachrichtigt. Ungefähr um halb zwölf heute Mittag. Er sagte, er habe einen ungeklärten Todesfall. Er habe den Leichenbeschauer kommen lassen, und es sehe so aus, als sei das Opfer durch einen Stromschlag getötet worden. Wie schon gesagt, offiziell hat er es als ungeklärten Todesfall bezeichnet, das muss er, bis amtlicherseits erklärt wird, dass es sich um einen Mord handelt, aber als wir ins Krankenhaus kamen, hat er deutlich gemacht, dass für ihn kein Zweifel besteht. Sie wurde ermordet.«
»Bitte benutzen Sie ihren Namen, Agent«, sagte Gamache ohne Tadel in der Stimme. »Wir sollten Madame de Poitiers als Menschen betrachten.«
»Ja, Sir. Sie, Madame de Poitiers, wurde genau hier durch einen Stromschlag getötet.«
Das hatte Lemieux auch am Telefon gesagt, es hatte schon seltsam genug geklungen, als Gamache es in seinem Büro gehört hatte, aber hier am Tatort erschien es noch seltsamer.
Wie konnte jemand mitten auf einem zugefrorenen See durch einen Stromschlag getötet werden? Früher konnte man in der Badewanne jemanden auf diese Weise umbringen, aber das war zu Zeiten, bevor in den meisten Elektrogeräten ein Fehlerstrom-Schutzschalter eingebaut war. Warf man seiner besseren Hälfte heutzutage einen Toaster in die Wanne, hatte das lediglich zur Folge, dass die Sicherung rausflog, das Gerät seinen Geist aufgab und der oder die Liebste ziemlich sauer war.
Nein. Heutzutage war es nahezu unmöglich, jemanden mit Strom umzubringen, es sei denn, man war der Gouverneur von Texas. Es auf einem zugefrorenen See zu tun, vor den Augen Dutzender von Zeugen, wäre der reine Wahnsinn.
Aber jemand war wahnsinnig genug gewesen, es zu wagen.
Und jemand war schlau genug gewesen, es zu schaffen.
Wie? Gamache sah sich langsam um, aber er konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Ganz sicher schmorten auf dem Eis keine alten Fernsehgeräte oder Toaster vor sich hin. Es standen jedoch drei Gartenstühle aus Metall im Schnee, von denen einer umgekippt war. Hinter den Stühlen ragte etwas in die Höhe, das wie ein riesiger verchromter Pilz aussah, etwa fünf Meter hoch. Ungefähr sieben Meter weiter links standen ein paar Zuschauerbänke.
Alles war zum See hin ausgerichtet, zu einer freigeräumten Fläche auf dem Eis, sieben, acht Meter von den Bänken entfernt. Gamache lief darauf zu, wobei er versuchte, nicht durch den tiefen Schnee zu gehen, und stellte fest, dass es sich um ein langes, schmales Rechteck handelte, auf dem verstreut große, runde Steine lagen.
Curling.
Gamache hatte diesen Sport selbst nie gespielt, aber er hatte sich die Landesmeisterschaft der Herren im Fernsehen angesehen und wusste, wie ein Curling-Stein aussah. Dem Spielfeld hier haftete etwas Unheimliches an, wie allen verlassenen Orten. Gamache konnte beinahe das Knirschen hören, mit dem die Steine über das Eis glitten, die Stimmen der Mannschaftsmitglieder, die einander etwas zuriefen. Noch vor wenigen Stunden war dieser Ort voll fröhlicher Menschen gewesen. Bis auf einen. Einer war so unfroh gewesen, so unglücklich und krank, dass er jemandem das Leben hatte nehmen müssen. Gamache versuchte sich vorzustellen, was dieser Jemand getan hatte. Wo hatte er gesessen? Mit den anderen auf den Zuschauerbänken, oder hatte er sich von ihnen abgesondert, weil er im Begriff war, etwas zu tun, das ihn für immer zum Außenseiter machen würde? War er aufgeregt gewesen, oder hatte er Todesangst verspürt? Hatte er den Mord bis ins letzte Detail geplant, oder hatte ihn plötzlich eine solch unbezähmbare Wut überkommen, dass er handeln musste? Gamache stand reglos da und lauschte aufmerksam, ob er die Stimme des Mörders hören konnte, ob sie sich von dem geisterhaften Gelächter der Kinder und den Anfeuerungsrufen der Spieler unterschied.
Aber er konnte nichts hören. Noch nicht.
Vielleicht gab es auch gar keine Stimmen, nur den Wind, der über den vereisten See fegte, Schnee aufwirbelte und kleine gefrorene Wellen zurückließ.
Die Leute von der Spurensicherung spannten ihr gelbes Absperrband um den Tatort, fotografierten jeden Quadratzentimeter, sammelten alles ein, das wie ein Beweisstück aussah. Sie vermaßen und tüteten ein und nahmen Fingerabdrücke, was bei minus zehn Grad keine leichte Aufgabe war. Gamache wusste, dass sie gegen die Zeit arbeiteten. Es war kurz vor halb drei, seit dem Mord waren drei Stunden vergangen, und das Wetter wurde schlechter. Ein Tatort im Freien war immer problematisch, aber ein See mitten im Winter war mit ganz besonderen Problemen verbunden.
»Wie kann man hier jemanden mit einem Stromschlag umbringen?«, fragte Beauvoir skeptisch. »Was sagen denn die Zeugen?«
»Der Curling-Wettkampf begann ungefähr um zehn«, sagte Lemieux und warf einen Blick auf seine Notizen. »Bis alle an Ort und Stelle waren, war es ungefähr halb elf. Die meisten Zuschauer saßen da drüben auf den Bänken, aber das Opfer und eine zweite Frau saßen auf den Stühlen hier.«
»Saß das Opfer auf dem, der umgefallen ist?«, fragte Beauvoir.
»Das weiß ich nicht.« Dieses Geständnis kostete Lemieux unendliche Überwindung. Seltsamerweise sah ihn Gamache jetzt zum ersten Mal mit mehr als nur höflichem Interesse an. »Die Leute haben erst dann mitbekommen, dass irgendetwas nicht stimmte, als die Frau, die hier saß, laut rief. Zuerst hat keiner sie gehört, weil es auf den Zuschauerbänken so zuging.«
»Es gab eine Massenschlägerei?«, fragte Beauvoir ungläubig. In diesem Zusammenhang konnte er sich allenfalls eine Massenflucht vorstellen.
»Ich vermute, dass jemand einen guten Stein gespielt hat«, sagte Lemieux.
»Lieber keine Vermutungen«, sagte Gamache ruhig.
»Ja, Sir.« Lemieux senkte den Kopf und versuchte, angesichts des milden Tadels nicht allzu niedergeschlagen dreinzusehen. Er wollte nicht wie ein übereifriger Schuljunge erscheinen. Er befand sich in einer heiklen Lage. Er musste unbedingt den richtigen Eindruck hinterlassen.
»Als die Leute begriffen, was los war, versuchten sie, Madame de Poitiers wiederzubeleben. Es waren ein paar Mitglieder der freiwilligen Feuerwehr da.«
»Ruth Zardo auch?«, fragte Gamache.
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe sie während meiner letzten Ermittlung hier kennengelernt. Sie leitet also noch die freiwillige Feuerwehr von Three Pines?«
»Ja, Sir. Sie war mit ein paar anderen hier. Olivier Brulé, Gabri Dubeau, Peter und Clara Morrow …«
Die Namen ließen ein Lächeln auf Gamaches Gesicht erscheinen.
»… sie haben mit Wiederbelebungsversuchen begonnen, dann haben sie das Opfer auf einen Pritschenwagen gelegt, der in der Nähe stand, und haben sie nach Cowansville gebracht, wo ihr Tod festgestellt wurde.«
»Woher wusste der Arzt, dass sie durch einen Stromschlag getötet wurde?«, fragte Beauvoir.
»Verbrennungen. Ihre Hände und ihre Füße sind verbrannt.«
»Und das hat während der Wiederbelebungsversuche keiner bemerkt?«, fragte Beauvoir.
Lemieux war klug genug, nichts darauf zu erwidern. Nach einer kurzen Pause fuhr er mit seinem Bericht fort.
»Madame de Poitiers hinterlässt einen Ehemann und eine Tochter. Sie waren dabei und sind mit ihr ins Krankenhaus gefahren. Ich habe Namen und Adresse notiert.«
»Wie viele Leute haben es gesehen?«, fragte Gamache.
»Etwa dreißig, vielleicht auch mehr. Bei dem Curling-Wettkampf handelte es sich um ein alljährlich stattfindendes Ereignis. Vorher fand ein Gemeindefrühstück in der Legion Hall statt.«
Überall um sie herum waren jetzt die Tatortermittler an der Arbeit, die sie hin und wieder kurz unterbrachen, um Gamache eine Frage zu stellen oder eine Beobachtung mitzuteilen. Beauvoir entfernte sich, um die Suche nach Beweisstücken zu beaufsichtigen, und Gamache stand eine Weile da und sah seinen Leuten bei der Arbeit zu, bevor er sich in Bewegung setzte und gemächlich den Tatort zu umrunden begann, gemessenen Schrittes, die behandschuhten Hände auf den Rücken gelegt. Agent Lemieux, der ihn dabei beobachtete, schien es, als würde sich der Chief Inspector in eine eigene Welt zurückziehen.
»Kommen Sie bitte mit.« Der Chief Inspector war stehen geblieben und drehte sich so unvermittelt um, dass Lemieux sich von Gamaches lebhaften braunen Augen dabei ertappt sah, wie er ihn anstarrte. Eilig stapfte er durch den Schnee zu ihm und ging neben ihm her, wobei er sich fragte, was jetzt wohl von ihm erwartet wurde. Nach ein oder zwei Minuten kam er zu dem Schluss, dass er dem Mann vielleicht einfach nur Gesellschaft leisten sollte. Also legte auch Lemieux die Hände auf den Rücken und ging langsam im Kreis um den Tatort herum, immer wieder, bis sie mit ihren Stiefeln einen kreisrunden Pfad in den Schnee getreten hatten, in dessen Mitte ein kleinerer Kreis, wie das Schwarze einer Zielscheibe, die Stelle markierte, an der CC de Poitiers zu Tode gekommen war.
»Was ist das?«, fragte Gamache schließlich und deutete auf das Metallgebilde, das wie ein kleiner eingefrorener Atompilz über dem Tatort aufragte.
»Das ist ein Heizstrahler, Sir. So was wie eine Lampe, nur dass sie Wärme abgibt.«
»Ich kenne etwas Ähnliches von den Terrassen in Québec«, sagte Gamache in Erinnerung an das eine oder andere Glas Weißwein auf den alten steinernen Terrassen in Vieux Québec und an die Heizstrahler, die es den Gästen ermöglichten, bis in den frühen Herbst hinein ihr Abendessen im Freien zu genießen. »Aber die waren viel kleiner.«
»Die meisten sind auch kleiner. Das hier ist Industriegröße. Man setzt sie im Winter auf Baustellen ein und bei irgendwelchen Sportveranstaltungen. Ich glaube, der hier wurde vom Jugend-Eishockeyverein in Williamsburg ausgeliehen. Die spielen meistens im Freien, deshalb haben sie vor ein paar Jahren eine große Spendenaktion auf die Beine gestellt, um Geld für eine Tribüne und irgendeine Heizung für die Zuschauer zusammenzubekommen.«
»Stammen Sie aus der Gegend?«
»Ja, Sir. Ich bin in St. Rémy aufgewachsen. Meine Familie ist weggezogen, aber ich wollte nach der Polizeischule hierher zurück.«
»Warum?«
Warum? Die Frage überraschte Lemieux. Das hatte ihn noch nie jemand gefragt. War das ein Trick von Gamache, wollte er ihn auf die Probe stellen? Er blickte den großen Mann an und kam zu dem Schluss, dass das vermutlich nicht der Fall war. Er wirkte nicht wie jemand, der Tricks nötig hatte. Trotzdem war es wohl am besten, eine diplomatische Antwort zu geben.
»Ich wollte zur Sûreté, und ich dachte, dass es von Vorteil für mich wäre, wenn ich hier arbeite, weil ich so viele Leute kenne.«
Gamache sah ihn einen Augenblick schweigend an. Einen unbehaglichen Augenblick lang, dann wandte er sich wieder der Betrachtung des Heizstrahlers zu. Lemieux’ Anspannung ließ ein wenig nach.
»Der wird wohl elektrisch betrieben. Der Strom, der Madame de Poitiers umgebracht hat, kam wahrscheinlich von diesem Heizstrahler. Trotzdem ist sie an einer ganz anderen Stelle zusammengebrochen. Könnte es sein, dass er nicht richtig angeschlossen war und Madame de Poitiers irgendwie damit in Berührung gekommen ist und es geschafft hat, noch ein paar Schritte zu gehen, bevor sie zusammengebrochen ist? Was meinen Sie?«
»Darf ich eine Vermutung äußern?«
Gamache lachte. »Ja, aber erzählen Sie Inspector Beauvoir nichts davon.«
»Die Leute hier in der Gegend benutzen ständig Generatoren, um Strom zu erzeugen. Jeder hat einen. Ich halte es für möglich, dass sie jemand an einen davon angeschlossen hat.«
»Sie meinen, jemand hat ein Überbrückungskabel genommen und die beiden Klammern an den Enden an ihr festgeklemmt?« Er bemühte sich, nicht allzu ungläubig zu klingen, aber es fiel ihm schwer. »Glauben Sie nicht, dass sie das gemerkt hätte?«
»Nicht, wenn sie beim Curling zugesehen hat.«
Der junge Lemieux und Chief Inspector Gamache hatten offenbar unterschiedliche Erfahrungen, was Curling anging. Gamache fand genug Gefallen daran, um sich die Landesmeisterschaft im Fernsehen anzusehen. Das war in Kanada praktisch eine Pflichtveranstaltung. Aber es war nichts, worüber er alles andere vergaß. Er bekäme es ganz sicher mit, wenn Reine-Marie plötzlich einen Generator anwerfen und zwei riesige gezahnte Klemmen an seinen Ohren befestigen würde.
»Irgendwelche anderen Vorschläge?«
Lemieux schüttelte den Kopf und bemühte sich um einen Gesichtsausdruck, in dem sich angestrengtes Nachdenken widerspiegelte.
Jean Guy Beauvoir hatte sich von der Spurensicherung losgerissen und gesellte sich wieder zu Gamache, der jetzt vor dem Heizstrahler stand.
»Wie wurde dieses Gerät betrieben, Jean Guy?«
»Keine Ahnung. Wir haben die Fingerabdrücke gesichert und Fotos gemacht, Sie können es also anfassen, wenn Sie wollen.«
Die beiden Männer umrundeten den Pfosten, beugten sich abwechselnd nach unten und blickten gen Himmel, wie zwei Mönche auf einem sehr kurzen Pilgergang.
»Hier ist der Schalter.« Gamache drückte darauf, und es geschah nichts, was nicht weiter verwunderlich war.
»Ein neues Rätsel.« Beauvoir lächelte.
»Hört das denn niemals auf?«
Gamache sah zu Agent Lemieux, der auf einer der Zuschauerbänke saß, in seine kalten Hände hauchte und etwas in sein Notizbuch schrieb. Der Chief Inspector hatte ihn gebeten, seine Aufzeichnungen zu ordnen.
»Was halten Sie von ihm?«
»Lemieux?«, fragte Beauvoir und spürte, wie ihm das Herz schwer wurde. »Ganz in Ordnung.«
»Aber?«
Woher wusste er, dass es ein Aber gab? Nicht zum ersten Mal hoffte Beauvoir, dass Gamache nicht tatsächlich seine Gedanken lesen konnte. Da oben befand sich eine Menge Müll. Wie sein Großvater zu sagen pflegte: »Stöbere lieber nicht in deinem Kopf herum, mon petit. Dort ist es sehr gruselig.«
Diesen Rat hatte er stets befolgt. Beauvoir verbrachte wenig Zeit mit der Erforschung seiner Gedankenwelt, und noch weniger mit der anderer. Er zog Fakten vor, Beweise, Dinge, die man sehen, anfassen und festhalten konnte. Das Denken überließ er mutigeren Männern wie Gamache. Aber jetzt fragte er sich, ob der Chief sich nicht auf irgendeine Art und Weise Zutritt zu seinem Kopf verschafft hatte. Er würde dort auf eine Menge peinliche Dinge stoßen. Mehr als nur ein bisschen Pornographie. Ein oder zwei Phantasien, die um Agent Isabelle Lacoste kreisten. Und eine sogar um Agent Yvette Nichol, Polizistin in Ausbildung, die ihnen vor ungefähr einem Jahr zugeteilt worden war und sich als absolute Katastrophe entpuppt hatte. Bei dieser Phantasie spielte Zerstückelung eine gewisse Rolle. Falls Gamache tatsächlich in Beauvoirs Kopf herumkramte, würde er allerdings, was seine Person betraf, auf nichts außer Hochachtung stoßen. Wenn er tief genug wühlte, würde er zu guter Letzt vielleicht die Kammer finden, die Beauvoir vorzugsweise sogar vor sich selbst verschlossen hielt. In dieser Kammer hausten Beauvoirs Ängste, stinkend und hungrig. Verborgen hinter der Angst vor Zurückweisung und Nähe, kauerte die Angst davor, Gamache eines Tages zu verlieren. Und hinter dieser Angst wiederum, in jener verborgenen Kammer, gab es noch etwas. Dort versteckte sich Beauvoirs Liebe, Schutz suchend zusammengerollt zu einer winzigen Kugel in den hintersten Winkel seines Geistes verbannt.
»Ich finde, er ist zu bemüht. Irgendetwas stimmt da nicht. Ich traue ihm nicht.«
»Weil er die Dorfbewohner verteidigt hat, die versucht haben, Madame de Poitiers zu helfen?«
»Natürlich nicht«, log Beauvoir. Er mochte es nur nicht, wenn man ihm widersprach, vor allem nicht, wenn das ein halber Junge tat. »Er schien keine Ahnung zu haben, worum es geht. So etwas sollte nicht vorkommen. Nicht bei einem Beamten der Sûreté.«
»Er hat keine Erfahrung mit Mordfällen. Das ist wie bei einem praktischen Arzt, der plötzlich jemanden operieren muss. Theoretisch müsste er dazu in der Lage sein, und er ist wahrscheinlich besser dafür ausgebildet als ein Busfahrer, aber er tut es normalerweise eben nicht. Ich bin nicht sicher, wie gut ich zurechtkäme, wenn man mich plötzlich ins Drogendezernat oder zur Dienstaufsicht versetzen würde. Ich schätze, dass mir einige Fehler unterlaufen würden. Nein, ich finde, Agent Lemieux hat seine Sache ganz gut gemacht.«
Daher weht der Wind, dachte Beauvoir. »Ganz gut ist nicht gut genug«, sagte er. »Sie hängen die Latte ziemlich tief, Sir. Das ist die Mordkommission. Die Elite der Sûreté.« Er bemerkte, das Gamache unwillig reagierte, wie immer, wenn solche Begriffe fielen. Aus irgendeinem Beauvoir unbegreiflichen Grund wollte Gamache nicht hören, was nun einmal eine unumstößliche Tatsache war. Selbst in den obersten Etagen gab man das zu. Nur die Besten der Besten schafften es zur Mordkommission. Die Klügsten, die Mutigsten, die Leute, die jeden Morgen ihr behagliches Heim verließen, ihren Kindern einen Abschiedskuss auf die Stirn drückten und sich hinaus in die Welt begaben, um Verbrecher zur Strecke zu bringen, die mit Vorsatz töteten. Da war kein Platz für die Schwachen. Und Auszubildende waren per se schwach. Schwäche führte zu Fehlern, und Fehler führten dazu, dass irgendetwas ganz fürchterlich schiefging. Der Mörder konnte entkommen, um erneut zu töten, vielleicht sogar einen Angehörigen der Sûreté. Vielleicht einen selbst, vielleicht – die Tür ging einen winzigen Spalt auf, und ein Dämon entfloh der verborgenen Kammer –, vielleicht Armand Gamache. Eines Tages wird ihn sein Bedürfnis, jungen Polizisten weiterzuhelfen, umbringen. Beauvoir knallte die Tür wieder zu, jedoch nicht ohne einen Moment lang eine heftige Wut auf den Mann vor sich zu verspüren.
»Wie oft müssen wir das eigentlich noch durchmachen, Sir«, sagte Beauvoir, und seine Stimme klang auf einmal hart und ärgerlich. »Wir sind ein Team. Ihr Team, wir werden immer jede Anordnung von Ihnen befolgen. Aber bitte, bitte hören Sie auf, so etwas von uns zu verlangen.«
»Ich kann nicht, Jean Guy. Ich habe Sie in Trois-Rivières aufgelesen, wissen Sie noch?«
Beauvoir verdrehte die Augen.
»Sie saßen in einem Korb im Schilf.«
»Gras, Sir. Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass es Gras war. Drogen. Ich saß in einem Haufen konfiszierter Drogen. Und es war kein Korb, es war ein Eimer. Von Kentucky Fried Chicken. Und ich saß auch nicht drin.«
»Oh, das tut mir aber leid. Ich habe Superintendent Brébeuf erzählt, dass ich Sie in einem Korb gefunden habe. So was. Aber Sie erinnern sich? Sie waren lebendig unter einem Berg von Beweisstücken begraben, und warum? Weil Sie allen dermaßen auf die Nerven gegangen waren, dass man Sie für alle Zeiten in die Asservatenkammer verbannt hatte.«
Beauvoir erinnerte sich jeden Tag daran. Niemals würde er den Moment vergessen, in dem er gerettet worden war. Von dem groß gewachsenen Mann mit den kurz geschnittenen grau melierten Haaren, der untadeligen Kleidung und den freundlichen dunkelbraunen Augen.
»Sie haben sich gelangweilt und waren zornig. Ich habe Sie genommen, als keiner sonst Sie wollte.« Gamache sprach so leise, dass niemand außer Beauvoir ihn hören konnte. Er sprach mit unverhohlener Zuneigung. Beauvoir erinnerte sich plötzlich an die Lektion, die er immer möglichst schnell vergaß. Gamache war der Beste von allen, der Klügste, der Mutigste, der Stärkste, weil er bereit war, allein in seinem Kopf herumzustöbern und dort alle Türen zu öffnen und alle finsteren Kammern zu betreten. Und sich mit dem anzufreunden, was er dort vorfand. Er betrat auch die finsteren, verborgenen Kammern in den Köpfen anderer. Den Köpfen von Mördern. Er stellte sich jedem Monster, dem er begegnete. Er begab sich an Orte, von denen Beauvoir nie gedacht hätte, dass es sie überhaupt gab.
Deshalb war Armand Gamache ihr Chief. Sein Chief. Und deshalb mochte er ihn so sehr. Deshalb tat Jean Guy Beauvoir jeden Tag sein Bestes, um diesen Mann zu beschützen, der keinen Zweifel daran ließ, dass er weder beschützt werden wollte noch musste. Tatsächlich versuchte er jeden Tag, Beauvoir davon zu überzeugen, dass seine Vorstellung von Schutz ein Trugschluss war, eine Täuschung. Alles, was es bewirkte, war, dass es ihm den Blick auf die möglicherweise schrecklichen Dinge verstellte, die seiner harrten. Besser, man sah sie und stellte sich ihnen. Und versuchte nicht, sich hinter einer Rüstung zu verstecken, die sowieso keinen Schutz bot. Nicht vor dem, was sie jagten.
»Ich will Ihnen etwas sagen, Jean Guy«, fuhr Gamache jetzt mit einem breiten, strahlenden Lächeln fort, »wenn Sie Agent Lemieux nicht wollen, nehme ich ihn. Ich werde ihn Ihnen nicht aufhalsen.«
»Nur zu, nehmen Sie ihn, aber weinen Sie sich später nicht bei mir aus, wenn Sie herausfinden, dass er der Mörder ist.«
Gamache lachte. »Ich muss zugeben, dass ich oft fürchterlich danebengegriffen habe, vor allem in letzter Zeit«, damit meinte er Agent Yvette Nichol, auch wenn er das nie sagen würde, »aber das würde alles in den Schatten stellen. Trotzdem, wer nicht wagt, der nicht gewinnt.«
Gamache tätschelte Beauvoir mit so viel Zuneigung den Arm, dass diesem beinahe die Luft wegblieb. Dann war er weg, steuerte, den Ermittlern von der Spurensicherung zunickend, mit zielstrebigen Schritten über das Eis auf Agent Lemieux zu, um dem jungen Mann einen glücklichen Tag zu bescheren. Eine glückliche Woche. Glückliche Aussichten.
Beauvoir beobachtete, wie Gamache leise mit Lemieux sprach. Er sah, wie auf dem Gesicht des Jungen ein Ausdruck fassungslosen Staunens erschien, als sei soeben ein Engel an ihm vorbeigeschwebt. Diesen Ausdruck hatte Beauvoir schon oft bei Leuten gesehen, wenn sie mit Gamache sprachen. Er hatte ihn noch nie gesehen, wenn jemand mit ihm sprach.
Beauvoir schüttelte verwundert den Kopf und wandte sich wieder den unmittelbar anstehenden Aufgaben zu.