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»Von wem ist das?«, fragte Saul CC und hob die Mappe mit den Bildern in die Höhe.

»Was?«

»Die Mappe hier.« Er stand nackt im Hotelzimmer. »Ich habe sie im Papierkorb gefunden. Von wem ist sie?«

»Von mir.«

»Von dir?« Er starrte sie verblüfft an. Einen Moment lang fragte er sich, ob er sie falsch eingeschätzt hatte. Das waren eindeutig die Arbeiten eines begnadeten Künstlers.

»Natürlich nicht. Irgendein Spaßvogel aus dem Dorf hat sie mir gegeben, damit ich sie den Galeristen, mit denen ich befreundet bin, zeige. Hat versucht, mir in den Hintern zu kriechen, ich hätte mich totlachen können. ›Ach bitte, CC, du kennst doch die tollsten Leute.‹ ›Ach, CC, würde es dir sehr viel ausmachen, meine Arbeiten einigen von deinen Freunden zu zeigen?‹ Schreckliche Nervensäge. Stell dir nur vor, mich um einen Gefallen zu bitten! Hatte sogar den traurigen Mut, mich unumwunden zu fragen, ob ich sie nicht Denis Fortin zeigen könnte.«

»Was hast du gesagt?« Das Herz wurde ihm schwer. Er kannte die Antwort eigentlich schon.

»Ich sagte, dass ich das gerne tun würde. Jetzt leg das Ding endlich wieder dorthin zurück, wo du es gefunden hast.«

Saul zögerte, dann klappte er die Mappe zu und warf sie in den Papierkorb, er verachtete sich dafür, dass er sich an der Vernichtung dieser wunderbaren Bilder beteiligte, noch mehr aber verachtete er sich dafür, dass er das sogar wollte.

»Hast du heute Nachmittag nichts vor?«, fragte er.

Sie rückte das Glas und die Lampe auf dem Nachttischchen zurecht, bewegte beide einen Millimeter, bis sie genau da standen, wo sie sollten.

»Nichts Wichtiges«, sagte sie und wischte eine riesige Staubflocke vom Tisch. Also wirklich, so was im Ritz. Sie musste mit dem Manager reden. Sie sah zu Saul, der am Fenster stand.

»Du lässt dich ganz schön gehen.«

Er hatte einmal eine gute Figur, dachte sie. Aber jetzt war er wabbelig. CC war schon mit fetten Männern im Bett gewesen. Sie war mit richtiggehenden Hänflingen im Bett gewesen. Sie konnte beiden Extremen etwas abgewinnen. Es war das Zwischenstadium, das absolut abstoßend war.

Sie ekelte sich vor Saul und konnte sich nicht mehr erinnern, wie sie überhaupt auf die Idee gekommen war, dass diese Geschichte etwas taugte. Dann sah sie auf den glänzenden weißen Umschlag ihres Buchs, und es fiel ihr wieder ein.

Das Foto. Saul war ein phantastischer Fotograf. Über dem Titel Be Calm war ihr Gesicht zu sehen. Die Haare so blond, dass sie beinahe weiß erschienen, der Mund rot und verführerisch, die Augen von einem hinreißenden, klugen Blau. Und ihr Gesicht so bleich, dass es sich vor dem hellen Hintergrund fast auflöste und der Eindruck erzeugt wurde, dass ihre Augen, ihr Mund und ihre Ohren über dem Umschlag schwebten.

CC war hingerissen von dem Bild.

Nach Weihnachten würde sie Saul in die Wüste schicken. Wenn er den letzten Auftrag ausgeführt hatte. Sie bemerkte, dass er gegen den Schreibtischstuhl gestoßen sein musste, als er die Mappe entdeckt hatte. Er stand schief. Sie spürte, wie die Spannung in ihr wuchs. Was fiel ihm eigentlich ein, sie absichtlich so zu ärgern, und das wegen dieser dummen Mappe. CC sprang aus dem Bett, rückte das böse Ding gerade und nutzte die Gelegenheit, das Telefon parallel zur Tischkante auszurichten.

Dann schlüpfte sie ins Bett zurück und strich das Laken über ihrem Schoß glatt. Vielleicht sollte sie ein Taxi ins Büro nehmen. Aber dann erinnerte sie sich, dass sie noch etwas vorhatte. Etwas Wichtiges.

Ogilvy’s hatte Schlussverkauf, und in einem Laden mit Kunsthandwerk auf der Rue de la Montagne hatte sie ein Paar Eskimostiefel gesehen, das sie haben wollte.

In nicht allzu ferner Zeit hätte sie ihre eigene Kleider- und Möbelkollektion, die in Geschäften in ganz Québec verkauft würde. Auf der ganzen Welt. Bald würden all die arroganten Chichi-Designer, die sich über sie lustig gemacht hatten, zu Kreuze kriechen. Bald würden alle Li Bien kennen, ihre eigene Design- und Lebensphilosophie. Feng-Shui war passé. Die Leute sehnten sich nach etwas Neuem, bei ihr bekamen sie es. Li Bien wäre in aller Munde und in jedem Haus.

»Hast du schon ein Haus für die Feiertage gemietet?«, fragte sie.

»Nein, ich fahre morgen hin. Warum hast du eigentlich in dieser Einöde ein Haus gekauft?«

»Ich hatte meine Gründe.« Sie spürte Wut in sich aufsteigen, weil er ihre Entscheidungen infrage stellte.

Es hatte fünf Jahre gedauert, bis sie ein Haus in Three Pines kaufen konnte. Wenn nötig, konnte CC de Poitiers geduldig sein, allerdings musste es auch einen guten Grund geben.

Sie hatte das lausige Dorf des Öfteren besucht, Kontakte zu Immobilienmaklern aus der Umgebung geknüpft und sogar mit Verkäufern in den Läden der nahe gelegenen Ortschaften St. Rémy und Williamsburg gesprochen. Es hatte Jahre gedauert. Offensichtlich kamen Häuser in Three Pines nicht allzu oft auf den Markt.

Vor nicht ganz einem Jahr hatte sie einen Anruf von einer Immobilienmaklerin namens Yolande Fontaine erhalten. Es gebe ein Haus. Ein echtes Schmuckstück, viktorianischer Stil, das auf dem Hügel stand, der sich über dem Dorf erhob. Das Haus des Mühlenbesitzers. Das Haus dessen, der das Sagen hatte.

»Wie viel?«, hatte CC gefragt, überzeugt, dass es ihre Mittel überstieg. Sie müsste ihre Firma beleihen, alles belasten, was sie besaß, und ihren Mann dazu bringen, seine Versicherungspolice und seine Altersvorsorge zu versilbern.

Die Antwort der Immobilienmaklerin hatte sie überrascht. Der Preis lag weit unter Marktwert.

»Da ist nur eine Kleinigkeit«, hatte Yolande mit ihrer unangenehmen Stimme erklärt.

»Nur heraus damit.«

»Es gab da einen Mord. Und einen Mordversuch.«

»Ist das alles?«

»Na ja, theoretisch fand auch noch eine Entführung statt. Jedenfalls ist das Haus deshalb so günstig. Ein echtes Schnäppchen. Wunderbare Rohre, fast alles Kupfer. Das Dach wurde erst vor zwanzig Jahren neu gedeckt. Das …«

»Ich nehme es.«

»Möchten Sie es sich nicht erst ansehen?« Yolande hätte sich ohrfeigen können, kaum hatte sie die Frage gestellt. Wenn diese dumme Kuh das alte Hadley-Haus unbesehen kaufen wollte, ohne Besichtigung, ohne Exorzismus, dann sollte sie doch.

»Bereiten Sie schon mal den Vertrag vor. Ich komme heute Nachmittag mit einem Scheck vorbei.«

Und das hatte sie getan. Sie hatte ihren Mann eine Woche später davon in Kenntnis gesetzt, weil sie seine Unterschrift brauchte, um sich seine Altersvorsorge vorzeitig auszahlen zu lassen. Er hatte protestiert, aber so zaghaft, dass ein Unbeteiligter es nicht einmal als Protest erkannt hätte.

Das alte Hadley-Haus, der monströse Kasten auf dem Hügel, gehörte ihr. Ihr Glück war vollkommen. Es war perfekt. Three Pines war perfekt. Zumindest wäre es das, wenn sie erst einmal damit fertig war.

Saul schnaubte und wandte sich ab. Er wusste, was die Stunde geschlagen hatte. CC würden ihn fallen lassen, sobald sein nächster Auftrag in diesem gottverlassenen Nest abgeschlossen war. Er sollte für ihren ersten Katalog Fotos von ihr machen, wie sie an Weihnachten unter den Ureinwohnern herumtollte. Wenn möglich sollte er Aufnahmen von den Dörflern machen, wie sie CC voller Staunen und Bewunderung ansahen. Dafür müsste er sicher einige Scheinchen hinblättern.

Alles, was CC tat, hatte einen Zweck, und der ließ sich seiner Meinung nach auf zwei Dinge reduzieren: Entweder nutzte es ihrem Konto oder ihrem Ego.

Warum hatte sie ein Haus in einem Dorf gekauft, von dem noch nie jemand gehört hatte? Es ging nicht um Prestige. Deshalb musste es das andere sein.

Geld.

CC wusste etwas von dem Dorf, das niemand sonst wusste, und das hatte mit Geld zu tun.

Auf einmal erschien ihm Three Pines doch ganz interessant.

»Crie! Beweg dich, um Gottes willen.«

Das konnte man durchaus wörtlich verstehen. Der zierliche, verhätschelte Nachwuchs eines Treuhandvermögens und eines Schönheitswettbewerbs rang darum, hinter der Schneeverwehung, die Crie darstellte, gesehen zu werden. Sie hatte es auf die Bühne geschafft und tanzte und wirbelte mit den anderen, engelsgleichen Schneeflocken herum, bis sie plötzlich abrupt innehielt. Es störte offenbar niemanden, dass es in Jerusalem eigentlich keinen Schnee gab. Die Lehrerin nahm völlig zu Recht an, dass jemand, der an die Jungfrauengeburt glaubte, auch glauben konnte, dass in dieser wundersamen Nacht Schnee gefallen war. Was dagegen störte, war, dass eine der Flocken, eine Art Mikroklima für sich, mitten auf der Bühne zu Eis erstarrt war. Direkt vor dem Jesuskind.

»Beweg endlich deinen dicken Hintern!«

Wie all die anderen Beleidigungen glitt auch diese an Crie ab. Sie bildeten das Hintergrundrauschen ihres Lebens. Crie nahm sie kaum noch wahr. Jetzt stand sie stocksteif auf der Bühne und starrte ins Publikum, als hätte sie der Blitz getroffen.

»Brie hat Lampenfieber«, flüsterte Madame Bruneau, die den Theaterkurs leitete, der Musiklehrerin, Madame Latour, zu, als erwartete sie, dass diese etwas dagegen unternahm. Selbst die Lehrer nannten Crie hinter ihrem Rücken Brie. Zumindest glaubten sie, dass es hinter ihrem Rücken wäre. Im Grunde hatten sie längst aufgehört, sich darum zu kümmern, was das seltsame und schweigsame Mädchen mitbekam und was nicht.

»Das sehe ich«, gab Madame Latour patzig zurück. Der ungeheure Stress, jedes Jahr Miss Edwards Krippenspiel auf die Beine zu stellen, hatte merklich an ihr gezehrt.

Aber es war nicht das Lampenfieber, das Crie erstarren ließ. Es war etwas, das nicht da war, was sie zum Innehalten brachte.

Crie wusste aus langer Erfahrung, dass das, was man nicht sah, am schlimmsten war.

Was Crie nicht sah, brach ihr das Herz.

»Ich erinnere mich, was mein erster Guru, Ramen Das, zu mir sagte«, CC lief mittlerweile in einem weißen Bademantel im Hotelzimmer herum, packte Briefpapier und Seifen ein und erzählte ihre Lieblingsgeschichte. »›CC Das‹, sagte er. So nannte Ramen Das mich«, erklärte CC dem Briefpapier. »Nur wenigen Frauen wurde diese Ehre zuteil, besonders im Indien der damaligen Zeit.«

Ramen Das hatte vielleicht gar nicht gemerkt, dass CC eine Frau war, dachte Saul.

»Das war vor zwanzig Jahren. Ich war noch ein Kind, unschuldig, aber selbst damals war ich schon auf der Suche nach der Wahrheit. Ich traf in den Bergen auf Ramen Das, und wir hatten sofort eine spirituelle Verbindung.«

Sie legte ihre Hände aneinander, und Saul hoffte, dass sie jetzt nicht sagen würde …

»Namaste«, sagte CC und verbeugte sich. »Das hat er mir beigebracht. Sehr spirituell.«

Sie nahm das Wort »spirituell« so oft in den Mund, dass es für Saul jede Bedeutung verloren hatte.

»Er sagte: ›CC Das, du hast eine große spirituelle Begabung. Du musst diesen Ort verlassen und sie der Welt zuteilwerden lassen. Du musst den Menschen sagen, wie sie Ruhe finden, to be calm‹, sagte er.«

Während sie redete, formte Saul jedes der Worte gleichzeitig lautlos mit den Lippen.

»›CC Das‹, sagte er, ›wer, wenn nicht du, weiß, dass alles weiß ist, wenn sich die Chakras im Gleichgewicht befinden. Wenn alles weiß ist, ist alles gut.‹«

Saul fragte sich, ob sie gerade einen indischen Mystiker mit einem Ku-Klux-Klan-Mitglied verwechselte. Wenn, dann war das wirklich höchst ironisch.

»›Du musst wieder in die Welt zurück‹, sagte er. ›Es wäre falsch, dich noch länger hier zu halten. Du musst ein Unternehmen gründen und es Be Calm nennen.‹ Und das tat ich. Deshalb habe ich auch dieses Buch geschrieben. Um das Wort der Spiritualität zu verbreiten. Die Menschen müssen davon erfahren. Diese ganzen dubiosen Sekten führen die Menschen nur in die Irre und nutzen sie aus. Es war meine Pflicht, ihnen von Li Bien zu berichten.«

»Moment, das verstehe ich nicht«, sagte Saul und sah mit Genugtuung, dass Ärger in ihren Augen aufblitzte. CCs Reaktionen waren bis aufs Letzte vorhersehbar. Sie hasste es, wenn man andeutete, dass ihre Ideen aus irgendeinem Grund nicht völlig einsichtig waren. »War es Ramen Das, der dir von Li Bien erzählt hat?«

»Nein, du Idiot. Ramen Das war in Indien. Li Bien ist eine alte orientalische Philosophie, die in meiner Familie von Generation zu Generation weitergegeben wird.«

»Von alten chinesischen Philosophen?« Da sie ihm ohnehin bald den Laufpass geben würde, konnte er ihr jetzt ruhig eins reinwürgen. Dann hätte er später eine lustige Geschichte zu erzählen. Um seiner Unterhaltung etwas von ihrer Geistlosigkeit zu nehmen. Er würde CC zur Lachnummer machen.

Sie schnalzte mit der Zunge und schnaubte. »Du weißt, dass meine Familie aus Frankreich stammt. Frankreich kann auf eine lange, ehrenvolle Geschichte der Kolonisierung des Ostens zurückblicken.«

»O ja. Zum Beispiel in Vietnam.«

»Genau. In meiner Familie gab es Diplomaten, die einige der alten spirituellen Lehren mit zurückbrachten, unter anderem Li Bien. Ich habe dir das doch alles schon erzählt. Vielleicht hast du nicht zugehört. Abgesehen davon steht es in meinem Buch. Hast du es etwa nicht gelesen?«

Sie warf es in seine Richtung, und er duckte sich, nachdem es ihn bereits am Arm getroffen hatte.

»Natürlich habe ich dein verdammtes Buch gelesen. Ich habe es wieder und wieder durchgekaut und dann noch mal.« Er musste sich sehr zusammenreißen, es nicht als den hochgradigen Schwachsinn zu bezeichnen, der es seiner Meinung nach war. »Ich kenne die Geschichte. Deine Mutter hat eine Li-Bien-Kugel bemalt, das ist die einzige Hinterlassenschaft, die du von ihr besitzt.«

»Nicht nur von ihr, Arschloch. Von meiner ganzen Familie.« Mittlerweile zischte sie nur noch. Er wollte sie ärgern, aber mit dieser Reaktion hatte er nicht gerechnet. Als sie sich erhob und ihre Gestalt die Sonne verdunkelte, ihn allen Lichtes beraubte, fühlte er sich plötzlich wie ein Zwerg, ein Kind. Er schrumpfte und winselte und kauerte sich zusammen. Innerlich. Nach außen hin stand er stocksteif da und starrte sie an. Er fragte sich, was ein solches Monster hervorgebracht hatte.

CC hätte ihm am liebsten die Arme herausgerissen. Die Glupschaugen aus den Höhlen gedrückt, das Fleisch von den Knochen gekratzt. Sie spürte eine Kraft in ihrer Brust wachsen und sich ausdehnen, wie ein Stern, der sich in eine Supernova verwandelte. Sie wollte den Pulsschlag an seinem Hals spüren, während sie ihn würgte. Sie hätte es gekonnt. Obwohl er größer und kräftiger war, hätte sie es tun können. Wenn sie sich so fühlte, gab es nichts, was sie aufhalten konnte, das wusste sie.

Nach einem Mittagessen aus gedünstetem Lachs und gigot d’agneau hatten sich Clara und Myrna getrennt, um ihre Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Aber zunächst wollte sich Clara auf die Suche nach Siegfried Sassoon machen.

»Du willst in eine Buchhandlung?«, fragte Myrna.

»Natürlich nicht. Ich will mir die Haare schneiden lassen.« Also wirklich, Myrna hatte keine Ahnung mehr.

»Von Siegfried Sassoon?«

»Nicht von ihm persönlich, aber von jemandem in seinem Salon.«

»Soweit ich weiß, ist es die Hölle, in der Jugend und Lachen verschwinden.«

Clara hatte Bilder von Sassoon-Salons gesehen und dachte, dass Myrnas Beschreibung zwar ein wenig übertrieben war, aber nicht ganz danebenlag, ging man nach den finster dreinschauenden Frauen mit den Schmollmündern auf den Fotos.

Einige Stunden später kämpfte sich eine erschöpfte und zufriedene Clara, bepackt mit Tüten voller Geschenke, die Rue St. Catherine hoch. Ihre Shoppingtour war höchst erfolgreich gewesen. Sie hatte für Peter das perfekte Geschenk gefunden und für Verwandte und Freunde hübsche Kleinigkeiten. Myrna hatte recht. Jane hätte ihren Spaß daran gehabt, zu sehen, dass sie das Geld ausgab. Auch was Sassoon anging, hatte Myrna recht, wenn Clara auch nicht gleich darauf gekommen war, was sie meinte.

»Seidenstrümpfe? Schokoriegel?«, erklang hinter ihr die melodische, warme Stimme.

»Gerade habe ich an dich gedacht, du hinterhältiges Luder. Du hast mich in die finstersten Gassen Montréals geschickt, wo ich Wildfremde fragen musste, wo ich Siegfried Sassoon finde.«

Myrna lehnte sich brüllend vor Lachen gegen die Wand eines alten Bankgebäudes.

»Ich weiß nicht, ob ich mich aufregen soll oder erleichtert bin, dass keiner ahnte, dass ich mir von einem toten Dichter aus dem Ersten Weltkrieg die Haare schneiden lassen wollte. Warum hast du mir nicht gesagt, dass er Vidal und nicht Siegfried heißt?« Mittlerweile lachte auch Clara und ließ ihre Taschen auf den schneebedeckten Bürgersteig plumpsen.

»Du siehst toll aus«, sagte Myrna, als sie sich schließlich wieder beruhigt hatte, und trat einen Schritt zurück, um Clara zu mustern.

»Ich habe eine Mütze auf dem Kopf, du dumme Kuh«, sagte Clara, und beide Frauen brachen erneut in Lachen aus, als sich Clara die Pudelmütze tief über die Ohren zog.

Es war schwer, unter diesen Umständen nicht unbeschwert zu sein. Es war fast vier am Nachmittag des 22. Dezember, und die Sonne war bereits untergegangen. Die Straßen von Montréal, über denen immer ein gewisser Zauber lag, erstrahlten zu dieser Zeit des Jahres im Lichterglanz. Die ganze Rue St. Catherine war mit Weihnachtsschmuck dekoriert, dessen Leuchten und Glitzern von den Schneeflocken vervielfältigt wurde. Jetzt, zur Stoßzeit, krochen die Autos im Schneckentempo vorbei, und die Fußgänger eilten die verschneiten Bürgersteige entlang und blieben gelegentlich stehen, um in ein hell erleuchtetes Schaufenster zu blicken.

Ihr Ziel lag direkt vor ihnen. Ogilvy’s. Das Schaufenster. Sogar aus einer Entfernung von einem halben Häuserblock konnte Clara den Schimmer sehen, und die Verzauberung, die sich auf den Gesichtern der Kinder davor spiegelte. Augenblicklich spürte sie die Kälte nicht mehr, und die Menschenmassen, die eben noch gedrängelt und geschubst hatten, wichen zurück; selbst Myrna verschwand im Hintergrund, als sich Clara dem Schaufenster näherte. Da war es. Die alte Mühle im Wald.

»Wir treffen uns drinnen«, flüsterte Myrna, aber ihre Freundin war nicht mehr da. Clara war in das Schaufenster geklettert. Vorbei an den entzückten Kindern, die davorstanden, über den Lumpenhaufen auf dem Bürgersteig hinweg mitten in das idyllische Winterbild. Sie ging gerade über die Holzbrücke, auf Großmutter Bär in der hölzernen Mühle zu.

»Haben Sie ein bisschen Kleingeld übrig?«

Ein würgendes Geräusch durchfuhr Claras Welt.

»Iiih, das ist ja eklig, Mommy«, rief ein Kind, als Clara ihre Augen von dem Schaufenster losriss und nach unten sah. Der Haufen Lumpen hatte sich übergeben, und sein Mageninhalt dampfte auf der verkrusteten Decke, in die sich der Mann eingewickelt hatte. Oder die Frau. Clara wusste es nicht, es war ihr auch egal. Sie ärgerte sich, weil sie das ganze Jahr über, all die Wochen und Tage auf diesen Moment gewartet hatte und irgendein Penner einfach darauf gekotzt hatte. Jetzt heulten die Kinder, und der Zauber war dahin.

Clara wandte sich von dem Schaufenster ab und sah sich nach Myrna um. Sie musste schon hineingegangen sein, dachte Clara, zu dem großen Ereignis. Sie waren an diesem Tag nicht nur wegen des Schaufensters bei Ogilvy’s. Ruth Zardo, eine Nachbarin und gute Freundin aus dem Dorf, stellte in der Buchhandlung im Untergeschoss des Kaufhauses ihr neuestes Buch vor.

Normalerweise übergab sie ihre schmalen Gedichtbände einer anonymen Leserschaft, nach einer Lesung im Bistro in Three Pines. Aber es war etwas Erstaunliches passiert. Die alte, verbitterte Dichterin aus Three Pines hatte den Literaturpreis des Generalgouverneurs gewonnen. Das hatte alle umgehauen. Nicht etwa, weil sie es nicht verdiente. Clara wusste, dass ihre Gedichte wunderbar waren.

Wer verletzte dich so unheilbar,

dass du die ausgestreckte Hand mit Verachtung strafst?

Es war nicht immer so.

Nein, Ruth Zardo verdiente den Preis. Es hatte sie nur erschreckt, dass andere das auch wussten.

Wird es mir mit meinen Arbeiten eines Tages ähnlich ergehen?, fragte sich Clara, als sie von der Drehtür in die parfümgeschwängerte gedämpfte Atmosphäre von Ogilvy’s gewirbelt wurde. Werde auch ich eines Tages ans Licht der Öffentlichkeit befördert? Endlich hatte sie den Mut aufgebracht, CC de Poitiers, der neuen Nachbarin, eine Mappe mit ihren Arbeiten zu übergeben, nachdem sie im Bistro zufällig mitbekommen hatte, wie diese von ihrem Busenfreund Denis Fortin erzählte.

Wenn man eine Ausstellung in der Galerie Fortin in Outremont, dem Intellektuellenviertel von Montréal, hatte, bedeutete das, man hatte es geschafft. Fortin wählte nur die Allerbesten aus, die aktuellsten, vielversprechendsten und respektlosesten Künstler. Er hatte auf der ganzen Welt Verbindungen. Selbst … durfte sie wagen, das zu denken? Zum Museum of Modern Art in New York. Das MOMA. MOMA mia.

Clara stellte sich die Vernissage in der Galerie Fortin vor. Sie würde vor Witz sprühen, umringt von Bewunderern, weniger bedeutende Künstler und umso bedeutendere Kritiker würden an ihren Lippen hängen, damit ihnen bloß keines ihrer klugen Worte entging. Peter würde etwas abseits von dem Kreis der Bewunderer stehen und das Ganze mit einem angedeuteten Lächeln beobachten. Er wäre stolz auf sie und würde sie endlich als ebenbürtige Künstlerin betrachten.

Crie saß auf der schneebedeckten Treppe von Miss Edwards Schule. Inzwischen war es dunkel. Drinnen und draußen. Sie starrte stur geradeaus, ohne etwas zu sehen, auf ihrer Mütze und ihren Schultern sammelte sich der Schnee. Neben ihr stand eine Tasche, in die sie ihr Schneeflocken-Kostüm gestopft hatte. Und ihr Zeugnis.

Nur Einser.

Ihre Lehrer hatten ts, ts, ts gemacht, den Kopf geschüttelt und geseufzt, dass gerade ein derart gestörtes Kind so viel Verstand besaß. Das ist eine dicke, fette Ungerechtigkeit, hatte einer von ihnen gesagt, und alle hatten gelacht. Bis auf Crie, die zufällig in dem Moment vorbeigegangen war.

Die Lehrer kamen überein, dass sie mit demjenigen, der sie so sehr verletzt hatte, dass sie kaum zu sprechen oder anderen in die Augen zu sehen wagte, ein ernstes Wörtchen sprechen mussten.

Schließlich stand Crie auf und machte sich mit vorsichtigen Schritten auf den Weg in die Innenstadt von Montréal, auf dem glatten, steilen Weg und unter der Last des unerträglich schweren Gewichts der Chiffon-Schneeflocke ununterbrochen um Balance ringend.

Tief eingeschneit

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