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»Hast du etwas gefunden?«

Chief Inspector Armand Gamache schenkte seiner Frau ein Glas Perrier ein und küsste sie auf den Scheitel, als er sich über sie beugte, um einen Blick auf das Dokument in ihrer Hand zu werfen. Es war der zweite Weihnachtsfeiertag, und sie befanden sich in seinem Büro in Montréal. Er trug, wie immer, wenn er im Büro war, einen grauen Flanellanzug, Hemd und Krawatte, und nur die elegante Kaschmirstrickjacke wies darauf hin, dass er eigentlich frei hatte. Er war zwar erst Anfang fünfzig, aber er schien aus einer anderen Zeit zu stammen, ein wahrer Gentleman. Er lächelte auf seine Frau hinunter, seine dunkelbraunen Augen betrachteten ihr leicht gelocktes ergrauendes Haar. Von dort, wo er stand, konnte er nur schwach den Duft von Joy von Jean Patou aufnehmen, dem Eau de Toilette, das er seiner Frau jedes Weihnachten schenkte. Dann ging er um sie herum und ließ sich ihr gegenüber auf dem Ledersessel nieder und rutschte in die Dellen, die er im Laufe der Jahre hineingesessen hatte. Sein Körper zeugte von den vielen Mahlzeiten, die er genossen hatte, und den ausgedehnten Spaziergängen, die er schon immer Sportarten wie Rugby vorgezogen hatte.

Seine Frau, Reine-Marie, saß in einem zweiten Ledersessel, eine riesige rot-weiß karierte Serviette auf dem Schoß, in der einen Hand ein Dossier, in der anderen ein Truthahn-Sandwich. Sie nahm einen Bissen, dann nahm sie ihre Lesebrille ab, die sie an einer Kette trug.

»Ich hatte gehofft, ich hätte etwas gefunden, aber dem ist nicht so. Ich dachte, der Ermittlungsbeamte hätte eine bestimmte Frage nicht gestellt, aber ich sehe hier, dass er das später nachgeholt hat.«

»Um was geht es?«

»Den Fall Labarré. Der Mann, der vor die Metro gestoßen wurde.«

»Ich erinnere mich.« Gamache schenkte sich ein Glas Wasser ein. Um sie herum waren fein säuberlich Akten auf dem Boden gestapelt. »Ich wusste gar nicht, dass der Fall nie abgeschlossen wurde. Du hast nichts gefunden?«

»Tut mir leid, Schatz. Ich bin nicht besonders gut dieses Jahr.«

»Manchmal gibt es einfach nichts zu entdecken.«

Die beiden nahmen neue Akten zur Hand und lasen in einvernehmlichem Schweigen weiter. Es war inzwischen eine Tradition bei ihnen. Am zweiten Weihnachtsfeiertag nahmen sie Truthahn-Sandwiches, Obst und Käse mit in Gamaches Büro in der Mordkommission und verbrachten den Tag mit der Lektüre von Mordfällen.

Sie sah zu ihrem Mann, der sich in eine Akte versenkt hatte, versuchte, aus den Blättern die Wahrheit herauszukitzeln, in den nüchternen Worten, in den Fakten und Zahlen eine menschliche Gestalt zu entdecken. Zwischen jedem Paar Pappdeckel lebte ein Mörder.

Es waren die ungelösten Mordfälle. Vor ein paar Jahren hatte Chief Inspector Gamache seinen gleichrangigen Kollegen bei der Montréal Metropolitan Police aufgesucht und ihm bei einem Glas Cognac im Club Saint-Denis einen Vorschlag unterbreitet.

»Ein Austausch, Armand?«, hatte Marc Brault gefragt. »Wie stellen Sie sich das vor?«

»Ich würde den zweiten Weihnachtsfeiertag vorschlagen. Da ist es bei der Sûreté ruhig und in Ihrem Büro wahrscheinlich auch.«

Brault hatte genickt und Gamache dabei mit Interesse betrachtet. Er hatte wie die meisten seiner Kollegen immensen Respekt vor dem stillen Mann. Nur Idioten unterschätzten ihn, aber Brault wusste, dass es bei der Polizei von Idioten wimmelte. Idioten mit Macht, Idioten mit Waffen.

Der Fall Arnot hatte das zweifelsfrei bewiesen. Der Fall hatte den vor ihm sitzenden großen, nachdenklichen Mann beinahe zerstört. Brault fragte sich, ob Gamache die ganze Geschichte kannte. Wahrscheinlich nicht.

Armand Gamache sprach mit tiefer, angenehmer Stimme weiter. Brault fielen die grauen Schläfen und die zunehmende Glatze auf, die er nicht dadurch zu verbergen versuchte, dass er die verbliebenen Haare darüberkämmte. Der dunkle, ebenfalls ergrauende Schnurrbart war dicht und sorgfältig gestutzt. Sein Gesicht war von Sorgenfalten aber auch von Lachfalten durchzogen, und seine dunkelbraunen Augen blickten Brault nachdenklich über den Rand der Lesebrille hinweg an.

Wie hielt er nur stand?, fragte sich Brault. Schon bei der Polizei von Montréal gab es intern ein ständiges Hauen und Stechen, und er wusste, dass es bei der Sûreté von Québec noch schlimmer zuging. Weil mehr auf dem Spiel stand. Und doch war Gamache aufgestiegen und leitete die größte und renommierteste Abteilung der Sûreté.

Aber er würde sicher nicht weiter aufsteigen. Selbst Gamache wusste das. Allerdings schien Armand Gamache, anders als Marc Brault, der von Ehrgeiz getrieben war, mit seinem Leben zufrieden zu sein, sogar glücklich. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, vor dem Fall Arnot, da hatte Brault den Verdacht gehegt, dass Gamache etwas einfältig sei, keine rechte Ahnung habe. Das glaubte er inzwischen nicht mehr. Jetzt wusste er, was hinter den freundlichen Augen und der ruhigen Miene steckte.

Er hatte das seltsame Gefühl, dass Gamache genau wusste, was vor sich ging, sei es in Braults Kopf oder in den komplizierten Hirnwindungen der Leute von der Sûreté.

»Ich würde vorschlagen, dass jeder von uns dem anderen die Akten seiner ungelösten Fälle übergibt und wir ein paar Tage mit deren Lektüre verbringen. Vielleicht entdecken wir ja etwas.«

Brault nahm einen Schluck Cognac und lehnte sich nachdenklich auf seinem Stuhl zurück. Die Idee war gut. Sie war allerdings auch reichlich unkonventionell und würde vielleicht Ärger nach sich ziehen, wenn jemand davon erfuhr. Er lächelte Gamache an und beugte sich vor.

»Warum? Haben Sie unterm Jahr nicht genug Arbeit? Oder haben Sie keine Lust, die Weihnachtsfeiertage mit Ihrer Familie zu verbringen?«

»Wissen Sie, wenn ich könnte, würde ich in mein Büro ziehen und von Automatenkaffee leben. Ich habe kein Privatleben, und meine Familie verachtet mich.«

»Davon habe ich schon gehört, Armand. Ich verachte Sie im Übrigen auch.«

»Und ich Sie.«

Die beiden Männer lächelten. »Ich würde mir wünschen, dass jemand so etwas für mich täte. Ganz einfach, reiner Egoismus. Wenn ich einem Mord zum Opfer fiele, würde ich hoffen, dass der Fall gelöst wird. Dass sich jemand dafür ins Zeug legt. Wie könnte ich das jemand anderem verweigern?«

So einfach war das. Und er hatte recht.

Marc Brault streckte die Hand aus und schüttelte Gamaches Pranke. »Gut, Armand, abgemacht.«

»Abgemacht, Marc. Und wenn Ihnen etwas passieren sollte, wird der Fall auch nicht ungelöst bleiben.« Das sagte er mit großer Schlichtheit, und es überraschte Brault, wie viel ihm das bedeutete.

So kam es, dass sich die beiden Männer in den letzten Jahren immer auf dem Parkplatz der Sûreté getroffen hatten, um am zweiten Weihnachtsfeiertag Akten auszutauschen, als handelte es sich um Geschenke. An jedem zweiten Weihnachtsfeiertag öffneten Armand und Reine-Marie die Kartons und suchten darin nach Mördern.

»Das ist aber komisch.« Reine-Marie ließ ihr Dossier sinken und sah, dass er sie anblickte. Sie lächelte und fuhr fort. »Da ist ein Fall von vor ein paar Tagen. Ich frage mich, wie er in den Stapel geraten ist.«

»Vorweihnachtsstress. Da muss jemandem ein Irrtum unterlaufen sein. Gib her, ich lege die Akte in den Ausgang zurück.« Er streckte seine Hand aus, aber sie hatte ihren Blick wieder auf die Blätter gesenkt und zu lesen angefangen. Nach einem Moment zog er seine Hand zurück.

»Entschuldige Armand. Ich habe gerade festgestellt, dass ich die Frau kannte.«

»Nein!« Gamache legte sein Dossier beiseite und ging zu Reine-Marie. »Was ist das für ein Fall?«

»Sie war keine Freundin oder jemand, der mir nahestand. Du kanntest sie vielleicht auch. Die Obdachlose vom Busbahnhof Berri. Die bei jedem Wetter dick eingemummelt war. Dort war jahrelang ihr Stammplatz.«

Gamache nickte. »Aber das kann noch nicht als ungelöster Fall eingestuft worden sein. Du sagst, sie ist erst vor ein paar Tagen gestorben, oder?«

»Sie ist am Zweiundzwanzigsten ermordet worden. Seltsamerweise befand sie sich nicht am Busbahnhof. Sie war auf der Rue de la Montagne, vor dem Ogilvy’s. Das ist wie weit entfernt? Zehn, fünfzehn Blocks?«

Gamache setzte sich wieder und wartete, beobachtete Reine-Marie beim Lesen, ein paar graue Strähnen fielen ihr in die Stirn. Sie war Anfang fünfzig und bezaubernder als zu der Zeit, als sie geheiratet hatten. Sie trug wenig Make-up, zufrieden mit dem Gesicht, das die Natur ihr zugedacht hatte.

Gamache konnte den ganzen Tag dasitzen und sie betrachten. Er holte sie manchmal an ihrer Arbeitsstelle, der Bibliothèque nationale, ab, wobei er bewusst zu früh kam, um sie dabei zu beobachten, wie sie historische Dokumente durchging, sich Notizen machte, der Kopf gesenkt, der Blick ernst.

Dann sah sie von ihrem Schreibtisch auf, bemerkte, dass er sie beobachtete, und auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.

»Sie ist erwürgt worden.« Reine-Marie ließ die Akte sinken. »Hier steht, dass ihr Name Elle war. Kein Nachname. Das ist doch nicht zu glauben. Eine Beleidigung. Sie machen sich noch nicht einmal die Mühe, ihren richtigen Namen herauszufinden, also nennen sie die Frau einfach elle, sie.«

»Es ist nicht einfach, einen Namen herauszufinden«, sagte er.

»Was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass bei der Mordkommission keine Kindergartenkinder beschäftigt werden.«

Er musste lachen, als sie das sagte.

»Sie haben es nicht einmal versucht, Armand. Sieh doch selbst.« Sie hob das Dossier in die Höhe. »Es ist die dünnste Akte von allen. Sie war für sie nur eine Pennerin.«

»Soll ich es versuchen?«

»Könntest du das? Und wenn du nur ihren Namen herausfindest.«

Gamache suchte den Karton zu Elles Fall, der mit den anderen von Brault an der Wand seines Büros aufgestapelt war. Er streifte sich Handschuhe über und breitete seinen Inhalt auf dem Boden aus.

Es dauerte nicht lange, und es lagen lauter zerschlissene, verdreckte Kleidungsstücke vor ihm, und gegen den Geruch, der sich augenblicklich breitmachte, kam selbst Blauschimmelkäse nicht an.

Neben den Kleidern lagen alte Zeitungen, verknittert und schmutzig. Zur Isolation, vermutete Gamache, wegen der harten Winter in Montréal. Worte konnten vieles erreichen, das wusste er, aber sie konnten das Wetter nicht ändern. Reine-Marie gesellte sich zu ihm, gemeinsam gingen sie den Inhalt des Kartons durch.

»Sie scheint sich buchstäblich mit Wörtern umgeben zu haben«, sagte Reine-Marie und hob ein Buch hoch. »Die Zeitungen zum Warmhalten und dann noch das Buch.«

Sie schlug es an irgendeiner Stelle auf und fing an zu lesen.

»Längst tot und anderswo begraben,

Hat meine Mutter über mich noch Macht.«

»Darf ich mal sehen?« Gamache nahm das Buch und betrachtete den Umschlag. »Ich kenne die Dichterin. Persönlich. Ruth Zardo.« Er sah auf den Titel. Mir geht’s GUT.

»Die aus dem kleinen Dorf, das dir so gut gefiel? Ist sie nicht eine deiner Lieblingsdichterinnen?«

Gamache nickte und blätterte zur ersten Seite vor. »Das Buch habe ich noch nicht. Muss neu sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Elle es gelesen hat.« Er sah auf das Veröffentlichungsjahr und bemerkte die Widmung: »Du stinkst, von Herzen, Ruth«.

Gamache ging zum Telefon und wählte eine Nummer.

»Spreche ich mit der Buchhandlung von Ogilvy? Ich wüsste gerne – ja, ich warte.« Er drehte seinen Kopf zu Reine-Marie und lächelte. Sie streifte sich Gummihandschuhe über und nahm eine kleine Holzschachtel, die sich auch in dem Karton befunden hatte. Es war eine ganz einfache, ziemlich abgenutzte Schachtel. Reine-Marie drehte sie um und entdeckte vier Buchstaben auf dem Boden.

»Wie erklärst du dir das?«, fragte sie und zeigte sie Armand.

B KLM

»Lässt sie sich öffnen?«

Vorsichtig hob sie den Deckel und schaute hinein, dabei wurde ihre Miene immer verwirrter.

In der Schachtel waren lauter Buchstaben.

»Willst du nicht – ja, hallo?« Er hob entschuldigend die Augenbrauen. »Ich rufe wegen Ruth Zardos neuestem Buch an. Ja, genau das. Viele Leute? Ich verstehe. Gut, ich danke Ihnen.« Er hängte ein. Reine-Marie hatte den Inhalt der Schachtel auf den Schreibtisch geleert und ordnete die Buchstaben zu kleinen Häufchen.

Es waren fünf verschiedene. Bs, Cs, Ms, Ls und Ks.

»Dieselben wie auf dem Boden, bis auf die Cs«, sagte sie. »Warum diese Buchstaben, und warum nur Großbuchstaben?«

»Glaubst du, es hat etwas zu bedeuten, dass es nur Großbuchstaben sind?«, fragte Gamache.

»Ich weiß nicht, aber bei den Schriften, mit denen ich in der Arbeit zu tun habe, ist es so, dass bei einem aus Großbuchstaben zusammengesetzten Begriff die einzelnen Buchstaben meistens ein Wort repräsentieren.«

»Wie bei FBI oder CIA.«

»Du kannst den Polizisten in dir einfach nicht verleugnen, aber genau das meinte ich. Mir geht’s GUT zum Beispiel«, sagte sie und deutete auf Ruths Buch, das auf dem Schreibtisch von Gamache lag. »Ich wette, das GUT steht für irgendetwas. Was haben die von der Buchhandlung gesagt?«

»Ruth Zardo hat das Buch vor ein paar Tagen vorgestellt, im Ogilvy’s. Am zweiundzwanzigsten Dezember.«

»Dem Tag, an dem Elle starb«, sagte Reine-Marie.

Gamache nickte. Warum gab Ruth Zardo einer Obdachlosen ein Buch von sich und widmete es ihr »von Herzen«? Er kannte die alte Frau gut genug, um zu wissen, dass sie mit solchen Worten nicht hausieren ging. Er wollte gerade erneut zum Telefon greifen, als es klingelte.

»Ja, allô? Gamache hier.«

Schweigen am anderen Ende.

»Bonjour?« Er versuchte es noch einmal.

»Chief Inspector Gamache?«, fragte eine verunsicherte Stimme. »Ich hatte nicht erwartet, dass Sie selbst ans Telefon gehen.«

»Ich bin ein vielseitiger Mann.« Er lachte entwaffnend. »Womit kann ich dienen?«

»Mein Name ist Robert Lemieux. Ich bin der diensthabende Polizist vom Revier in Cowansville in den Eastern Townships.«

»Ich erinnere mich. Wir haben uns während der Ermittlungen im Fall Jane Neal kennengelernt.«

»Ja, Sir.«

»Was kann ich für Sie tun, mein Junge?«

»Es gab einen Mord hier.«

Nachdem er sich die Eckdaten hatte durchgeben lassen, legte Gamache auf und sah seine Frau an. Sie saß ruhig und gefasst in ihrem Sessel.

»Hast du deine langen Unterhosen?«, fragte sie.

»Ja, Madame.« Er zog die oberste Schreibtischschublade auf und zeigte ihr einen Packen dunkelblaue Seide.

»Bewahren dort nicht die meisten Polizisten ihre Waffe auf?«

»Ich finde, eine lange Unterhose ist Schutz genug.«

»Da bin ich aber froh.« Sie umarmte ihn. »Ich gehe jetzt besser, mein Schatz. Auf dich wartet Arbeit.«

Von der Tür aus sah sie ihm zu, wie er seine Anrufe tätigte, mit dem Rücken zum Raum, vor sich die Skyline von Montréal. Sie kannte jede seiner Bewegungen in- und auswendig, sah die leicht gelockten Haare in seinem Nacken und musterte die starke Hand, die den Hörer gegen das Ohr hielt.

Innerhalb von zwanzig Minuten war Armand Gamache auf dem Weg zum Tatort, seine rechte Hand Inspector Jean Guy Beauvoir saß am Steuer. Sie nahmen die Champlain-Brücke Richtung Autobahn für die anderthalbstündige Fahrt ins Herz der Eastern Townships.

Gamache starrte ein paar Minuten aus dem Fenster, dann schlug er noch einmal das Buch auf und las das Gedicht zu Ende, dessen Anfang Reine-Marie ihm vorgelesen hatte.

Wenn mein Tod uns scheidet,

Dann sollen Vergeben und Vergebenes eins werden.

Oder wird es, wie immer, zu spät sein?

Tief eingeschneit

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