Читать книгу Tief eingeschneit - Louise Penny - Страница 8

7

Оглавление

»Joyeux Noël, tout le monde«, strahlte Em ein paar Minuten später, als sie ihren Gästen die Haustür öffnete. Ihr ein Jahr alter Schäferhund Henri raste zur Tür hinaus und sprang jeden Neuankömmling an, bevor er mit einem Stück Weihnachtskuchen zurück in die Diele gelockt werden konnte. Das fröhliche Durcheinander trug dazu bei, das Unbehagen, das nach CCs Grobheiten zurückgeblieben war, vergessen zu lassen. Das gesamte Dorf schien gleichzeitig einzutreffen, die Leute liefen die Stufen zu Ems breiter Veranda hoch und schüttelten den Schnee von Hüten und Mänteln.

Emilies Haus war ein riesiges altes Schindelhaus, das genau gegenüber dem der Morrows auf der anderen Seite des Angers stand. Olivier, die Platte mit dem Lachs auf dem Arm, blieb außerhalb des Lichtkreises, der auf die Veranda fiel, stehen.

Es berührte ihn jedes Mal wieder, wenn er sich Ems hübschem Haus näherte, besonders nachts. Es war, als beträte er eines der Märchen, die er im Schein einer Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen hatte und in denen es von rosenüberwucherten Cottages und schmalen steinernen Brücken, glühenden Feuerstellen und Paaren, die sich zufrieden an den Händen hielten, wimmelte. Sein erleichterter Vater hatte gedacht, er würde den Playboy lesen, aber stattdessen tat er etwas unendlich Genussvolleres und Gefährlicheres. Er träumte von dem Tag, an dem er sich seine eigene Märchenwelt erschaffen würde, zumindest teilweise hatte er das mittlerweile geschafft. Er hatte seinen Prinzen gefunden. Und wenn er Ems Cottage sah, dessen warmes gelbes Licht ihm schon von fern den Weg leuchtete, dann wusste er, dass er in ebenjenes Buch trat, mit dem er sich getröstet hatte, als die Welt kalt, hart und ungerecht zu sein schien. Jetzt lächelte er und ging auf das Haus zu, seine Gabe für den Weihnachtsabend vor sich her tragend. Er ging vorsichtig, damit er nicht auf dem Eis ausrutschte, das möglicherweise unter der dünnen Schneedecke lag. Das reine Weiß war schön und gleichzeitig gefährlich. Man wusste nie genau, was sich darunter verbarg. Ein Winter in Québec konnte einen sowohl verzaubern als auch umbringen.

Die Gäste trugen das mitgebrachte Essen in die allseits bekannte Küche und beluden Herd und Ofen mit immer mehr Eintöpfen und Pies. Schüsseln, bis an den Rand mit kandiertem Ingwer, Früchten und Kirschen mit Schokoladenglasur gefüllt, machten sich den Platz auf dem Küchenbüfett mit Puddings, Kuchen und Plätzchen streitig. Die kleine Rose Lévesque starrte zu dem bûche de Noël hoch, dem traditionellen Weihnachtskuchen in Form eines Baumstamms aus Biskuit und Buttercreme, ihre winzigen, pummeligen Finger klammerten sich an das mit Weihnachtsmännern, Rentieren und Weihnachtsbäumen bestickte Tischtuch. Im Wohnzimmer bereiteten Ruth und Peter Drinks zu, Ruth schenkte sich Scotch in ein Glas, von dem Peter wusste, dass es eine Vase war.

Die Lichter auf dem Baum brannten, und die Vachon-Kinder saßen daneben und lasen die Namensschildchen an dem Berg von bunt eingewickelten Geschenken auf der Suche nach den ihren. Die Wangen einiger Gäste glühten so rot wie das Feuer im Kamin. Im Esszimmer bog sich der ausgezogene Tisch ächzend unter den Schmortöpfen und tourtières, hausgemachten Baked Beans und gepökeltem Schinken. Am Kopfende des Tisches thronte würdevoll ein Truthahn. Die Mitte des Tisches war wie jedes Jahr einem von Myrnas prächtigen Blumenarrangements vorbehalten. Dieses Jahr war es ein Gesteck aus Tannenzweigen und einer wunderschönen Amaryllis. In dem kleinen Tannenwald steckte in einem Bett aus Mandarinen, Cranberrys und Schokolade ein Lautsprecher, aus dem leise kanadische Weihnachtslieder erklangen.

Olivier trug den im Ganzen gedünsteten Lachs zu Tisch. Für die Kinder, die sich, ganz ohne Aufsicht, mit Süßigkeiten vollstopften, wurde ein Punsch zubereitet.

In dieser Weise feierte Emilie Longpré den réveillon, das Fest, das vom Weihnachtsabend zum ersten Weihnachtsfeiertag überleitete, eine alte Tradition aus Québec, genau so hatten es ihre Mutter und ihre grandmère in demselben Haus an demselben Abend gehalten. Clara entdeckte Em, die die Runde machte, und legte ihr den Arm um die schmale Taille.

»Kann ich dir helfen?«

»Nein, meine Liebe. Ich will nur sichergehen, dass es allen gut geht.«

»Uns geht es hier immer gut«, sagte Clara wahrheitsgemäß, gab Em einen zarten Kuss auf beide Wangen und schmeckte Salz. Sie hatte an diesem Abend geweint, und Clara wusste, warum. Zu Weihnachten waren die Häuser voll von den Menschen, die anwesend waren, und denen, die abwesend waren.

»Wann nimmst du eigentlich endlich deinen Weihnachtsmannbart ab?«, fragte Gabri, der neben Ruth auf dem abgewetzten Sofa am Feuer saß.

»Miststück«, murmelte Ruth.

»Schlampe«, sagte Gabri.

»Seht mal da.« Myra ließ sich neben Ruth aufs Sofa fallen, ihr Gewicht katapultierte die anderen beiden beinahe in die Höhe. Myrna deutete mit ihrem Teller zu einer Gruppe junger Frauen, die beim Weihnachtsbaum standen und über den Sitz ihrer Frisuren klagten. »Die Mädchen da denken, dass mit ihren Haaren was nicht stimmt. Die werden schon noch sehen.«

»Stimmt«, sagte Clara, die sich suchend nach einem Stuhl umsah. Überall standen Leute herum, die auf Französisch und Englisch miteinander quasselten. Schließlich setzte sie sich auf den Boden und stellte ihren voll beladenen Teller auf den Sofatisch. Peter gesellte sich zu ihr.

»Um was geht’s?«

»Haare«, sagte Myrna.

»Rette dich«, sagte Olivier und streckte die Hand nach Peter aus. »Für uns ist es zu spät, aber du kannst noch davonkommen. Soweit ich weiß, ist auf dem anderen Sofa eine Diskussion über Prostataprobleme im Gange.«

»Setz dich.« Clara zog Peter an seinem Gürtel nach unten. »Die Mädchen dort denken, dass sie ein Problem haben.«

»Die werden schon noch sehen, wie es erst ist, wenn die Wechseljahre kommen«, fuhr Myrna fort.

»Prostata?«, fragte Peter Olivier.

»Und Hockey«, seufzte er.

»Hört ihr Kerle zu?«

»Es ist wirklich schlimm, eine Frau zu sein«, sagte Gabri. »Erst kriegen wir unsere Tage, dann verlieren wir unsere Jungfräulichkeit an euch Tiere, dann verlassen die Kinder das Haus, und wir geraten in eine Sinnkrise …«

»Nachdem wir die besten Jahre unseres Lebens an undankbare Widerlinge und egoistische Kinder vergeudet haben«, nickte Olivier.

»Kaum haben wir uns dann für einen Töpferkurs und ein Kochseminar angemeldet, bums …«

»Oder auch nicht«, sagte Peter und lächelte Clara an.

»Pass auf, was du sagst, Bürschchen.« Sie piekste ihn mit ihrer Gabel.

»Wechseljahre«, sagte Olivier mit einer sonoren Radio-Ansagerstimme.

»Mir haben Hitzewallungen immer Spaß gemacht«, zwitscherte Gabri.

»Das erste graue Haar. Erst dann stimmt etwas nicht mit den Haaren, vorher nicht«, sagte Myrna, ohne den Männern Beachtung zu schenken.

»Wenn das erste aus deinem Kinn wächst«, sagte Ruth. »Dann stimmt erst recht was nicht.«

»Oh, das ist wahr!« Lachend gesellte sich Mother zu ihnen. »Die langen drahtigen.«

»Vergiss nicht den Schnurrbart«, sagte Kaye und ließ sich auf dem Platz nieder, den Myrna ihr angeboten hatte. Gabri stand auf, damit Mother sich setzen konnte. »Wir haben ein feierliches Abkommen getroffen.« Kaye nickte zu Mother und blickte dann zu Em, die sich mit ein paar Nachbarn unterhielt. »Wenn eine bewusstlos im Krankenhaus liegt, sorgen die anderen dafür, dass es entfernt wird.«

»Das Beatmungsgerät?«, fragte Ruth.

»Das Kinnhaar«, sagte Kaye und blickte Ruth leicht alarmiert an. »Ich streiche dich von der Besucherliste. Mother, mach dir bitte eine Notiz.«

»Ach, das habe ich mir schon vor Jahren notiert.«

Clara trug ihren leer gegessenen Teller zum Büfett zurück und kehrte kurz darauf mit Trifle, Schokoladenkuchen und einer kleinen Lakritzauswahl zurück.

»Die habe ich den Kindern geklaut«, sagte sie zu Myrna. »Du solltest dich beeilen, wenn du welche willst. Die wissen langsam, was gut ist.«

»Ich esse einfach deine«, sagte Myrna und hätte sich auch eine Lakritzpfeife geschnappt, wenn nicht eine Gabel ihre Hand bedroht hätte.

»Ihr Süchtigen seid wirklich furchtbar.« Myrna blickte auf Ruths Vase, aus der die Hälfte des Scotchs verschwunden war.

»Da liegst du falsch«, sagte Ruth, die Myrnas Blick gefolgt war. »Das war einmal meine Lieblingsdroge. Als Heranwachsende war es Anerkennung, in meinen Zwanzigern war es Wertschätzung, in meinen Dreißigern Liebe, in meinen Vierzigern war es Scotch. Das hielt eine ganze Weile an«, gab sie zu. »Das Einzige, wonach ich mich jetzt noch wirklich sehne, ist eine gute Verdauung.«

»Ich bin süchtig nach Meditation«, sagte Mother, die gerade ihre dritte Portion Trifle aß.

»Das wäre übrigens eine Idee.« Kaye wandte sich an Ruth. »Du könntest Mother im Zentrum besuchen. Beim Meditieren kannst du jeden Scheiß loswerden.«

Schweigen breitete sich auf diese Bemerkung hin aus. Clara kämpfte darum, das eklige Bild, das vor ihrem inneren Auge aufgetaucht war, wieder loszuwerden, und war froh, als Gabri ein Buch von dem Stapel unter dem Sofatisch nahm und es in die Höhe hielt.

»Da wir gerade von Scheiß sprechen, ist das nicht CCs Buch? Em muss es während deiner Signierstunde gekauft haben, Ruth.«

»Sie hat wahrscheinlich genauso viele Bücher verkauft wie ich. Ihr seid alle Verräter«, sagte Ruth.

»Das müsst ihr euch anhören.« Gabri schlug Be Calm auf, und Clara bemerkte, dass Mother Anstalten machte, sich zu erheben, aber Kaye legte ihr eine ihrer Klauen auf den Arm und zwang sie, sitzen zu bleiben.

»Daher«, las Gabri, »leuchtet es sicherlich ein, dass Farben wie Gefühle schädlich sein können. Es ist kein Zufall, dass negativen Gefühlen Farben zugeordnet werden, zum Beispiel Rot für den Zorn, Grün für den Neid, Blau für die Traurigkeit. Aber wenn man alle Farben zusammenmischt – was bekommt man dann? Weiß. Weiß ist die Farbe des Göttlichen, der Balance. Unser Ziel ist Balance. Die erreicht man nur, wenn man die Gefühle in seinem Inneren bewahrt, am besten unter einer Schicht Weiß. Das ist Li Bien, eine altehrwürdige Lehre. In diesem Buch erfahren Sie, wie Sie lernen, Ihre wahren Gefühle zu verbergen, sie vor einer kalten und voreingenommenen Welt zu schützen. Li Bien ist die alte chinesische Kunst, Farbe im Inneren aufzutragen. Die Farben, die Gefühle werden innen bewahrt. Nur so lassen sich Frieden, Harmonie und Ruhe erreichen. Wenn wir alle unsere Gefühle in uns behielten, gäbe es keinen Zwist, keine Bosheit, keine Gewalt, keinen Krieg. Mit Be Calm biete ich Ihnen und dieser Welt Frieden und Ruhe.« Gabri klappte das Buch zu. »Das war nicht gerade Li Bien, was heute Abend aus dem Yin-Yang kam.«

Peter fiel in das Gelächter der anderen ein, aber er vermied es, einem von ihnen in die Augen zu sehen. Insgeheim, unter seiner weißen Haut, stimmte Peter CC zu. Gefühle waren gefährlich. Gefühle wurden am besten unter einer ruhigen und friedlichen Maske verborgen.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Clara, die durch das Buch blätterte und an einer bestimmten Passage hängen geblieben war.

»Und den anderen Kram schon?«, fragte Myrna.

»Na ja, nein, aber hier heißt es, dass sie ihre Lebensphilosophie in Indien erworben hat. Vorher hieß es doch, dass Li Bien chinesisch ist, oder?«

»Du suchst tatsächlich nach einem Sinn in dem Ganzen?«, fragte Myrna. Clara hatte sich wieder über das Buch gebeugt, und ihre Schultern fingen an zu zucken, schließlich bebte sie am ganzen Leib und blickte zu ihren Freunden auf, die sich schon Sorgen machten.

»Was ist los?« Myrna streckte ihre Hand nach Clara aus, der die Tränen über die Wangen liefen.

»Die Namen ihrer Gurus«, brachte Clara zwischen zwei Schluchzern heraus. Myrna war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob sie weinte oder lachte.

»Krishnamurti Das, Ravi Shankar Das, Gandhi Das. Ramen Das. Khalil Das. Gibran Das. Sie nennen sie sogar CC Das.« Inzwischen brüllte Clara vor Lachen wie die meisten anderen.

Die meisten. Aber nicht alle.

»Was soll daran falsch sein?«, sagte Olivier und wischte sich die Augen. »Gabri und ich folgen dem Weg von Häagen-Dazs, der von Zeit zu Zeit recht steinig sein kann.«

»Und einer deiner Lieblingsfilme ist Das Boot«, sagte Clara zu Peter, »du müsstest also auch erleuchtet sein.«

»Stimmt, allerdings ist da das Das andersrum.«

Carla fiel vor Lachen gegen Peter, Henri kam angelaufen und sprang auf sie beide drauf. Als Clara sich und auch Henri wieder beruhigt hatte, stellte sie überrascht fest, dass Mother gegangen war.

»Was hat sie denn?«, fragte sie Kaye, die ihrer Freundin nachsah, wie sie ins Esszimmer zu Em ging. »Haben wir etwas Falsches gesagt?«

»Nein.«

»Wir wollten sie nicht beleidigen«, sagte Clara und nahm Mothers Platz neben Kaye ein.

»Das habt ihr doch auch nicht. Ihr habt ja nicht einmal über sie gesprochen.«

»Wir haben über Dinge gelacht, die Mother ernst nimmt.«

»Ihr habt über CC gelacht, nicht über sie. Das weiß sie sehr wohl zu unterscheiden.«

Clara war nicht ganz überzeugt. CC und Mother hatten beide ihr Unternehmen Be Calm genannt. Sie lebten jetzt beide in Three Pines, und sie folgten einem ähnlichen spirituellen Weg. Clara fragte sich, ob die Frauen vielleicht mehr verbargen als nur ihre Gefühle.

Die Rufe »Joyeux Noël« verloren sich in der Nacht, als die Weihnachtsfeier zu Ende war. Emilie winkte den letzten ihrer Gäste nach und schloss die Tür.

Es war halb drei Uhr morgens, und sie war völlig erschöpft. Sie stützte sich mit der Hand am Tisch in der Diele ab und ging langsam in das Esszimmer zurück. Clara, Myrna und die anderen hatten schon aufgeräumt und heimlich das Geschirr gespült, während sie mit einem kleinen Glas Scotch auf dem Sofa gesessen und sich mit Ruth unterhalten hatte.

Sie hatte Ruth immer gemocht. Alle waren überrascht gewesen, als vor mehr als zehn Jahren ihr erster Gedichtband erschienen war, überrascht, dass eine augenscheinlich so spröde und verbitterte Frau so viel Schönheit in sich bergen konnte. Aber Em hatte es gewusst. Sie hatte es schon immer gewusst. Das hatte sie mit Clara gemein, und das war einer der vielen Gründe, die Em für Clara eingenommen hatten, von dem Tag an, als diese jung, arrogant, voller Ungestüm und Talent hier aufgetaucht war. Clara sah Dinge, die andere nicht sehen konnten. Wie der kleine Junge in The Sixth Sense, aber statt Geister sah Clara das Gute. Was an sich wiederum ziemlich unheimlich war. Es war so viel angenehmer, in den anderen das Schlechte zu sehen; dadurch hatte man alle möglichen Entschuldigungen für das eigene schlechte Verhalten parat. Aber das Gute? Nur wirklich besondere Menschen sahen das Gute in anderen.

Auch wenn nicht jeder, wie Em sehr wohl wusste, etwas Gutes in sich trug, das man sehen konnte.

Sie ging zu der Musikkommode, zog eine Schublade auf und holte vorsichtig einen einzelnen Wollhandschuh heraus. Darunter lag eine Schallplatte. Sie legte die Platte auf, streckte die Hand aus, um den Abspielknopf zu drücken, der Finger gekrümmt und zitternd wie eine ermattete Version von Michelangelos Schöpfung. Dann ging sie zum Sofa zurück und hielt dabei behutsam den Handschuh, als befände sich noch eine Hand darin.

In den rückwärtigen Zimmern schliefen Mother und Kaye. Seit Jahren verbrachten die drei Freundinnen den Weihnachtsabend miteinander und begingen den folgenden Tag in aller Ruhe. Em glaubte, dass dies ihr letztes Weihnachten war. Sie glaubte auch, dass es Kayes letztes war, vielleicht sogar Mothers. Halb drei.

Die Musik setzte ein, und Emilie Longpré schloss die Augen.

In ihrem Zimmer konnte Mother die ersten Takte von Tschaikowskys Violinkonzert D-Dur hören. Mother hörte es immer nur am Weihnachtsabend, auch wenn es früher einmal ihr Lieblingsstück gewesen war. Es war für sie alle etwas Besonderes. Für Em am meisten, das war klar. Jetzt spielte sie es nur noch einmal im Jahr, in den frühen Morgenstunden zwischen dem Weihnachtsabend und dem ersten Weihnachtsfeiertag. Es brach Mother das Herz, wenn sie es hörte und daran dachte, dass ihre Freundin allein im Wohnzimmer saß. Aber sie respektierte und liebte Em zu sehr, um ihr diese Zeit, die sie allein mit ihrer Trauer und ihrem Sohn verbrachte, zu nehmen.

In dieser Nacht befand sich Mother in Gesellschaft ihrer eigenen Trauer. Sie wiederholte beständig, du wirst Ruhe finden, du wirst Ruhe finden. Aber das Mantra, das ihr so viele Jahre Ruhe gebracht hatte und nach dem sie ihr Zentrum – Be Calm – benannt hatte, hatte plötzlich seine Bedeutung verloren, war von dieser schrecklichen, gestörten, monströsen Frau seiner Kraft beraubt worden. Dieser verfluchten CC de Poitiers.

Kaye drehte sich ächzend um. Selbst wenn sie sich nur auf die Seite drehte, überfielen sie unerträgliche Schmerzen. Ihr Körper gab langsam auf. Es hieß immer, dass man den Geist aufgab. Aber genau das Gegenteil war der Fall. Sie verwandelte sich in einen Geist. Sie schlug die Augen auf und wartete, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Aus der Ferne hörte sie Tschaikowsky. Es war, als würde die Musik nicht nur durch ihre halb tauben Ohren zu ihr vordringen, sondern auch durch ihre Brust, direkt in ihr Herz, wo sie sich ausbreitete. Es war kaum auszuhalten. Kaye nahm einen tiefen, rasselnden Atemzug und hätte Emilie beinahe zugerufen, dass sie die Musik ausmachen sollte. Diese göttliche Musik ausmachen. Aber sie tat es nicht. Sie liebte ihre Freundin zu sehr, um ihr die Zeit mit David zu nehmen.

Die Musik ließ sie an ein anderes Kind denken. Crie. Wer nannte sein Kind Crie? Wie cri, der Schrei? Namen waren wichtig, das wusste Kaye. Wörter waren wichtig. Das Kind hatte an diesem Abend wie ein Engel gesungen, es hatte sie alle für einen kurzen Moment am Göttlichen, am Übermenschlichen teilhaben lassen. Aber mit einigen wenigen wohlgewählten Worten hatte ihre Mutter das in etwas Hässliches verwandelt, was noch Minuten zuvor etwas ganz Wunderschönes war. CC war eine Alchemistin mit der ungewöhnlichen Gabe, Gold in Blei zu verwandeln.

Was hatte Cries Mutter gehört, das eine solche Reaktion hervorrufen konnte? Es konnte jedenfalls nicht dieselbe Stimme gewesen sein. Vielleicht hatte sie sie gehört, und genau das war das Problem. Vielleicht hörte sie auch noch andere Stimmen.

Sie wäre nicht die Erste.

Kaye versuchte, diesen Gedanken beiseitezudrängen, aber er kehrte immer wieder zurück. Und ein anderer Gedanke, eine andere Stimme tauchte auf, die eines Mannes, melodisch, irisch, freundlich.

»Du hättest dem Kind beistehen sollen. Warum hast du nichts unternommen?«

Es war immer dieselbe Frage und immer dieselbe Antwort. Sie hatte Angst. Hatte ihr Leben lang Angst gehabt.

Hier ist es also, das dunkle Etwas,

das dunkle Etwas, auf das du so lange gewartet hast.

Und siehe da, es ist nichts Neues.

Die Verse von Ruth Zardos Gedicht kamen ihr in den Sinn. Heute Nacht hatte das dunkle Etwas einen Namen und ein Gesicht und trug ein rosa Kleid.

Das dunkle Etwas war nicht CC, es war die Anklage in Gestalt von Crie.

Kaye ließ ihren Blick umherwandern, sie umklammerte mit beiden Händen die Decke unter ihrem Kinn, um sich warm zu halten. Ihr war seit Jahren nicht mehr richtig warm gewesen. Ihr Blick fiel auf die rote Digitalanzeige des Weckers. Drei Uhr. Und hier lag sie, in ihrem Schützengraben. Kalt und zitternd. Heute Nacht hätte sie die Gelegenheit gehabt, all die Momente der Feigheit in ihrem Leben wiedergutzumachen. Alles, was sie hätte tun müssen, war, das Kind zu verteidigen.

Kaye wusste, dass es bald so weit wäre. Bald müsste sie aus ihrem Schützengraben kriechen und sich dem, was da kam, stellen. Aber sie war noch nicht bereit. Noch nicht. Bitte.

Dieses verdammte Frauenzimmer.

Em hörte, wie die Violinklänge vertraute Orte aufsuchten. Sie umspielten den Baum, suchten nach Geschenken und lachten an dem mit Eisblumen überzogenen Fenster, das zu den im Lichterglanz erstrahlenden Bäumen auf dem Dorfanger hinaussah. Das Konzert erfüllte den ganzen Raum und einen segensreichen Moment lang konnte Em mit geschlossenen Augen so tun, als spiele nicht Yehudi Menuhin, sondern ein anderer.

Die Weihnachtsabende glichen sich stets. Aber dieser war schlimmer als die meisten. Sie hatte zu viel gehört. Zu viel gesehen.

Plötzlich wusste sie, was sie zu tun hatte.

Der Morgen des ersten Weihnachtsfeiertags zog klar und sonnig herauf, die mit dem gestrigen Schnee überzuckerten Zweige der Bäume brachten die Welt zum Glitzern. Clara öffnete die Tür ihres Windfangs, um Lucy, den Golden Retriever, hinauszulassen, und atmete tief die frische Luft ein.

Der Tag ging friedlich dahin. Peter und Clara öffneten ihre Strümpfe, die mit Rätselheften, Zeitschriften, Süßigkeiten und Orangen gefüllt waren. Aus Peters Strumpf quollen Cashewkerne, und die Gummibärchen aus dem von Clara hielten nicht lange vor. Bei Kaffee und Pancakes zum Frühstück öffneten sie ihre größeren Geschenke. Peter war entzückt über seine Armani-Uhr und legte sie gleich um, wobei er den Ärmel seines Frottebademantels weit über seinen Ellbogen schob, damit er sie besser bewundern konnte.

Dann kramte er mit großem Trara unter dem Baum herum und tat so, als finde er das Geschenk für sie nicht mehr, bis er schließlich mit hochrotem Kopf wieder auftauchte.

Er reichte ihr etwas in Rentiergeschenkpapier gewickeltes Rundes.

»Bevor du es auspackst, möchte ich dir etwas sagen.« Er wurde noch ein wenig röter. »Ich weiß, wie sehr dich diese Sache mit Fortin und CC verletzt hat.« Sie wollte protestieren, aber er bedeutete ihr zu schweigen. »Ich weiß auch von Gott.« Er fühlte sich unglaublich dumm, als er das sagte. »Ich meine, du hast mir erzählt, dass du Gott auf der Straße begegnet bist, obwohl du wusstest, dass ich es nicht glauben würde. Ich wollte dir nur sagen, dass ich es zu schätzen weiß, dass du mir davon erzählt und darauf vertraut hast, dass ich dich nicht auslachen würde.«

»Aber das hast du doch getan.«

»Gut, aber nicht sehr. Jedenfalls wollte ich dir sagen, dass ich darüber nachgedacht habe, und du hast recht, ich glaube nicht, dass Gott eine Obdachlose …«

»Was denkst du denn, wer oder was Gott ist?«

Er wollte ihr nur ein Geschenk überreichen, und sie – sie löcherte ihn mit Fragen nach Gott.

»Du weißt, was ich glaube, Clara. Ich glaube an Menschen.«

Sie verstummte. Sie wusste, dass er nicht an Gott glaubte, und das war natürlich in Ordnung. Das war selbstverständlich ganz allein seine Sache. Aber sie wusste auch, dass er nicht wirklich an Menschen glaubte. Zumindest dachte er nicht, dass sie gut, freundlich und wunderbar waren. Vielleicht hatte er das einmal getan, aber nach dem, was mit Jane passiert war, sicher nicht mehr.

Jane war ermordet worden, und dabei war auch in Peter etwas gestorben.

Nein, sosehr sie ihren Mann auch liebte, sie musste sich eingestehen, dass das Einzige, woran er glaubte, er selbst war.

»Das stimmt nicht«, sagte er und setzte sich neben sie auf das Sofa. »Ich weiß genau, was du denkst. Ich glaube an dich.«

Clara blickte in sein ernstes, schönes Morrow-Gesicht und küsste es.

»CC und Fortin sind Idioten. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich deine Arbeiten nicht verstehe, sie vielleicht niemals verstehen werde, aber ich weiß, dass du eine großartige Künstlerin bist. Ich weiß es hier.«

Er berührte seine Brust, und Clara glaubte ihm. Vielleicht drang sie endlich zu ihm durch. Vielleicht wurde er auch nur besser darin, ihr zu sagen, was sie hören wollte. Beides war ihr recht.

»Pack dein Geschenk aus.«

Clara riss ungeduldig das Papier auf. Peter konnte kaum zusehen. Er fing die durch die Luft fliegenden Fetzen auf und strich sie glatt.

Es war eine Kugel. Was wenig überraschend war. Überraschend war dagegen ihre Schönheit. Sie schien in ihren Händen zu leuchten. Sie war mit einem schlichten Bild bemalt. Drei Bäume, von Schnee bedeckt. Darunter stand ein einziges Wort, Noël. Bei all seiner Schlichtheit war das Bild weder grob noch naiv gemalt. Es war von einem Stil, wie ihn Clara noch nie gesehen hatte. Eine leichte Eleganz. Eine sich ihrer selbst gewisse Schönheit.

Clara hielt sie gegen das Licht. Wie konnte eine bemalte Kugel so sehr leuchten? Dann sah sie näher hin. Und lächelte. Sie blickte zu Peter, der sie erwartungsvoll beobachtete. »Die Farbe ist überhaupt nicht außen. Sie ist ganz aus Glas. Die Farbe ist innen. Kaum zu glauben.«

»Gefällt sie dir?«, fragte er leise.

»Sie ist wunderbar. Wie du. Danke, Peter.« Sie umarmte ihn, ohne die Kugel wegzulegen. »Es muss ein Weihnachtsschmuck sein. Glaubst du, es ist ein Bild von Three Pines? Die drei Bäume darauf sehen genau aus wie die Kiefern auf unserem Dorfanger. Aber ich denke mal, drei Nadelbäume, die zusammenstehen, sehen immer so aus. Ich finde sie wunderschön, Peter. Es ist das schönste Geschenk, das es gibt. Und ich werde auch nicht fragen, woher du es hast.«

Dafür war er ihr dankbar.

Um elf Uhr war die Kastanienfüllung im Truthahn und der Truthahn im Ofen, er erfüllte das Haus mit noch mehr wunderbaren weihnachtlichen Düften. Peter und Clara beschlossen, einen Spaziergang zum Bistro zu machen, und begegneten auf dem Weg einigen Nachbarn. Bei den meisten brauchten sie einen Moment, um sie zu erkennen, weil sie offenbar in ihren Weihnachtsstrümpfen neue Mützen gefunden hatten, nachdem die lieb gewordenen alten von Hunden und Kätzchen angenagt worden waren. Den ganzen Winter über spielten die Haustiere mit den Bommeln der Mützen, bis die meisten Dorfbewohner schließlich irgendwann wie Kerzen aussahen, mit einem Docht auf dem Haupt statt des Wollballs.

Im Bistro angekommen, entdeckte Clara Myrna, die mit einem Glas Glühwein am Kamin saß. Sie kämpften sich aus ihren Mänteln, die sie offenbar nicht aus ihrer Umarmung lassen wollten, und legten ihre Mützen und Handschuhe auf den Heizkörper, damit sie warm blieben. Fortwährend trafen fröhlich lachende Dorfbewohner mit ihren Kindern ein, die vom Langlaufen oder Schneeschuhlaufen kamen, mit dem Schlitten den Hügel an der Mühle hinuntergesaust oder auf dem Teich Schlittschuh gelaufen waren. Einige machten sich gerade auf den Weg zum Mont St. Rémy, wo sie nachmittags Ski fahren wollten.

»Wer ist das?« Myrna deutete auf einen Mann, der allein an einem Tisch saß.

»Monsieur Molson Canadian. Er bestellt immer ein Molson Canadian. Knickert nicht beim Trinkgeld«, sagte Olivier und stellte zwei Irish Coffee vor Clara und Peter auf den Tisch und dazu ein paar Lakritzpfeifen. »Fröhliche Weihnachten.« Er küsste sie beide, dann nickte er zu dem Fremden. »Er ist vor ein paar Tagen aufgetaucht.«

»Vielleicht hat er sich irgendwo eingemietet«, sagte Myrna. Es war ungewöhnlich, Fremde in Three Pines zu sehen, weil es schwer zu finden war und nur selten jemand zufällig darüber stolperte.

Saul Petrov nippte an seinem Bier und biss in sein mit Roastbeef, schmelzendem Stilton und Rucola belegtes Baguette. Daneben lag auf dem Teller ein immer kleiner werdender Haufen von leicht gesalzenen Strohkartoffeln.

Es war vollkommen.

Das erste Mal seit Jahren fühlte sich Saul wieder wie ein Mensch. Er hatte nicht vor, diese freundlichen Leute anzusprechen, aber er wusste, wenn er es täte, würden sie ihn an ihren Tisch einladen. Genau diesen Eindruck machten sie jedenfalls. Ein paar hatten schon in seine Richtung gelächelt und ihre Gläser gehoben, ein »Santé« und »Joyeux Noël« mit den Lippen geformt.

Sie machten einen netten Eindruck.

Kein Wunder, dass CC sie verachtete.

Saul tauchte ein Kartoffelstäbchen in die winzige Mayonnaiseschüssel und fragte sich, wer von ihnen wohl der Künstler war. Der diesen erstaunlichen, schmelzenden Baum geschaffen hatte. Er wusste nicht einmal, ob es ein Mann oder eine Frau war.

Vielleicht sollte er sich erkundigen. Three Pines war so klein, dass er sicher jemanden fände, der ihm das sagen könnte. Er wollte dem Künstler gratulieren, ihn oder sie zu einem Bier einladen, über ihrer beider Kunst reden. Über etwas Kreatives reden, das nichts mit den finsteren Dingen zu tun hatte, die er mit CC teilte. Aber zuerst hatte er in Three Pines etwas zu erledigen. Sobald er das hinter sich gebracht hatte, würde er den Künstler suchen.

»Entschuldigung.« Er hob den Kopf, und eine riesige schwarze Frau lächelte auf ihn herunter. »Ich heiße Myrna. Mir gehört die Buchhandlung nebenan. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass morgen in Williamsburg ein großes Gemeindefrühstück und ein Curling-Wettkampf stattfindet. Wir gehen alle hin. Es sollen Spenden für das Regionalkrankenhaus gesammelt werden. Sie sind herzlich eingeladen.«

»Wirklich?« Er hoffte, dass seine Stimme gelassener klang, als er sich fühlte. Warum hatte er plötzlich Angst? Vor dieser Frau sicher nicht. Vielleicht hatte er ja Angst vor ihrer Freundlichkeit? Angst, dass sie ihn für einen anderen hielt. Jemanden, der interessant, talentiert und nett war.

»Das Frühstück findet im Vereinsheim der Royal Canadian Legion statt und beginnt um acht, der Curling-Wettkampf ist für zehn am Lac Brume angesetzt. Vielleicht haben Sie ja Zeit zu kommen.«

»Merci.«

»De rien. Joyeux Noël«, sagte sie in ihrem schönen, wenn auch nicht akzentfreien Französisch. Er bezahlte sein Mittagessen, ließ ein noch größeres Trinkgeld als sonst liegen, verließ das Lokal und stieg für die kurze Fahrt zum alten Hadley-Haus auf dem Hügel in sein Auto.

Er würde CC von der Veranstaltung erzählen. Es passte perfekt. Genau die Gelegenheit, auf die er gehofft hatte.

Wenn die Veranstaltung zu Ende war, hätte er auch den Auftrag, dessentwegen er hier war, abgeschlossen, und dann konnte er vielleicht mit diesen Leuten am selben Tisch sitzen.

Tief eingeschneit

Подняться наверх