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Die Vorweihnachtszeit war von Geschäftigkeit geprägt. Clara liebte diese Zeit. Alles daran. Von den dämlichen Werbespots über die armselige Parade für Père Noël durch St. Rémy, die von Canadian Tire gesponsert wurde, bis zu den Sternsängern, die unter Gabris Leitung standen. Die Sänger gingen über die verschneiten Straßen von Haus zu Haus, und zu den Schneeflocken in der eisigen Nachtluft gesellten sich alte Lieder, Lachen und Atemwölkchen. Die Dorfbewohner luden sie in ihre Wohnzimmer ein, dann nahmen sie Aufstellung um Klaviere und Weihnachtsbäume und tranken Brandy-Eierflips, aßen geräucherten Lachs, Butterkekse und Lebkuchen und all die anderen Köstlichkeiten, die zum Fest gebacken wurden. Die Sternsinger sangen im Laufe von wenigen Abenden in jedem Haus im Dorf, nur in einem nicht. In stillschweigender Übereinkunft hielten sie sich von dem düsteren Haus auf dem Hügel fern. Dem alten Hadley-Haus.

Gabri führte in seinem viktorianischen Cape und mit Zylinder die Sänger an. Er hatte eine schöne Stimme, auch wenn er nach Höhen strebte, die ihm versagt waren. Jedes Jahr besuchte Ruth Zardo das Bistro als Weihnachtsmann, sie war, wie Gabri sagte, auserwählt worden, weil sie sich nicht extra einen Bart wachsen lassen musste. Jedes Jahr kletterte Gabri auf ihren Schoß und bat sie um die Sopranstimme eines Knaben, und jedes Jahr drohte ihm der Weihnachtsmann damit, dass er gleich im Kastratenchor singen könnte.

Jedes Weihnachten stellten Monsieur und Madame Vachon die alte crèche in ihrem Vorgarten auf, komplett mit Jesuskind in einer Badewanne auf Löwenfüßen, umgeben von den drei Weisen und irgendwelchen Nutztieren aus Plastik, die der Schnee langsam unter sich begrub und die im Frühling völlig unverändert wieder auftauchten, ein weiteres Wunder, wenn es auch nicht alle Dorfbewohner dafür hielten.

Billy Williams spannte die Percherons vor den leuchtend roten Schlitten und fuhr mit Jungen und Mädchen durch das Dorf, hinauf in die schneebedeckten Hügel. Die Kinder krochen unter das mottenzerfressene Bärenfell und hielten mit beiden Händen die heiße Schokolade umklammert, während die würdevollen grauen Giganten sie mit solcher Ruhe und Vorsicht zogen, als wüssten sie, dass ihre Fracht wertvoll war. Im Bistro überließ man den Eltern die Fensterplätze, wo sie heißen Cidre tranken und ihre Kinder über die Rue du Moulin verschwinden sahen, dann drehten sie sich wieder dem Lokal mit seinen ausgeblichenen Stoffen, dem wild zusammengewürfelten Mobiliar und den offenen Kaminen zu.

Clara und Peter legten letzte Hand an die Weihnachtsdekoration, stellten in der Küche Kiefernzweige passend zu der deckenhohen Waldkiefer im Wohnzimmer auf. Ihr Haus roch wie alle anderen nach Wald.

Die Geschenke lagen hübsch eingewickelt unter dem Baum. Jeden Morgen ging Clara an ihnen vorbei und freute sich, dass endlich, dank Janes Testaments, keines der Geschenke mehr vom Sperrmüll in Williamsburg stammte. Endlich würden sie sich etwas schenken, das nicht erst desinfiziert werden musste.

Peter hängte ihre Strümpfe an den Kaminsims. Sie hatten Butterplätzchen in Form von Sternen, Bäumen und Schneemännern gebacken und mit silbernen Liebesperlen, die wie Schrotkugeln aussahen, dekoriert. Jeden Abend vor dem Singen schürte Peter das Kaminfeuer an und las, während Clara auf dem Klavier klimperte und Weihnachtslieder schmetterte. Myrna oder Ruth, Gabri oder Olivier schauten des Öfteren vorbei und tranken etwas oder ließen sich zu einem zwanglosen Abendessen einladen.

Auf einmal war der Vierundzwanzigste da, und sie machten sich alle auf den Weg zu Emilies réveillon-Feier. Aber zuerst zur Mitternachtsmesse in der Kirche St. Thomas.

»Stille Nacht, heilige Nacht«, sang die Gemeinde mit mehr Begeisterung als Können. Es hörte sich ein wenig wie das alte Seemannslied »What Shall We Do With the Drunken Sailor« an. Wie selbstverständlich führte Gabris schöner Tenor sie oder machte es zumindest deutlich, wenn sie sich auf musikalisches Neuland gewagt hatten oder auf hoher See verloren gegangen waren. Mit einer Ausnahme. Aus einer der hinteren Bankreihen erklang eine Stimme von so exquisiter Klarheit, dass selbst Gabri staunte. Die Stimme des Kindes schwang sich empor, vermischte sich mit den auf und ab wogenden Stimmen der Gemeinde und schwebte um die Stechpalmen- und Tannenzweige, die die Mitglieder des Vereins anglikanischer Frauen überall verteilt hatten, sodass die Gläubigen den Eindruck hatten, gar nicht in einer Kirche, sondern in einem Wald zu sein. Billy Williams hatte nackte Ahornzweige an den Dachbalken befestigt, und die anglikanischen Frauen hatten ihn auf Betreiben von Mother gebeten, kleine weiße Lichterketten darum zu schlingen. Die Decke glitzerte wie ein Sternenhimmel über dem Häuflein der versammelten Gotteskinder. Die Kirche war von Grün und Licht erfüllt.

»Grün ist das Herz-Chakra«, hatte Mother erklärt.

»Das freut den Bischof sicher«, sagte Kaye.

Am Weihnachtsabend war St. Thomas voll von Familien, aufgeregten, überdrehten Kindern, älteren Männern und Frauen, die ihr Leben lang hierhergekommen waren, immer in derselben Bank saßen und demselben Gott huldigten, hier ihre Lieben tauften, verheirateten und zur ewigen Ruhe betteten. Einige hatten sie nie zu Grabe tragen können und sie stattdessen in dem kleinen Buntglasfenster verewigt, das sich an einer Stelle befand, wo das Morgenlicht, das jüngste Licht hereinfiel. Dort marschierten sie nun in warmen Gelb-, Blau- und Grüntönen, in ewiger Vollkommenheit, erstarrt im Ersten Weltkrieg. Unter den schönen jungen Männern waren ihre Namen zu lesen und die Worte: »Sie waren unsere Kinder«.

In dieser Nacht war die Kirche voll mit Anglikanern, Katholiken, Juden, Ungläubigen und Leuten, die an etwas Unbestimmtes, auf keine Kirche Beschränktes glaubten. Sie kamen, weil St. Thomas am Weihnachtsabend voller Grün und voller Licht war.

An diesem Weihnachtsabend war sie völlig unerwartet auch noch von hinreißendem Gesang erfüllt.

»Alles schläft«, sang die Stimme und rettete die Gemeinde vor dem drohenden Untergang. Clara drehte sich um und hielt Ausschau nach dem Kind. Viele andere reckten ebenfalls ihre Hälse, um zu sehen, wer sie führte. Selbst Gabri war durch die unverhoffte und nicht ganz willkommene Gegenwart der göttlichen Stimme gezwungen, seinen Platz an der Spitze aufzugeben. Es war, als wäre ein Engel, wie es in Yeats’ Wiegenlied hieß, der wimmernden Toten müde geworden und hätte die Gesellschaft der Lebenden gesucht.

Plötzlich hatte Clara eine unversperrte Sicht.

Dort hinten stand CC de Poitiers, die einen flauschigen weißen Pullover aus Kaschmir oder Mohair trug. Neben ihr stand der Ehemann, mit gerötetem Gesicht und stumm wie ein Fisch. Neben ihm wiederum stand ein dickes Mädchen, das ein ärmelloses quietschrosa Strandkleid trug. Ihre Unterarme zierten dicke Wülste, und die Speckrollen um ihren Bauch ließen sie in dem engen Kleid wie ein dahinschmelzendes Erdbeereis aussehen. Es war grotesk.

Aber sie hatte ein schönes Gesicht. Clara hatte das Kind schon gesehen, wenn auch immer nur aus größerer Entfernung und mit verdrossener, unglücklicher Miene. Aber jetzt war das Gesicht zu den Deckenbalken mit den Lichterketten gehoben und trug einen Ausdruck, in dem Clara Seligkeit erkannte.

»O wie lacht«. Cries außerordentliche Stimme spielte zwischen dem Gebälk mit den Lichtern, dann schlüpfte sie unter der Tür der alten Kapelle nach draußen und tanzte mit den sanft herabschwebenden Schneeflocken und den abgestellten Autos und kahlen Ahornbäumen. Die Worte des alten Weihnachtsliedes glitten über den zugefrorenen Teich, ließen sich in den Weihnachtsbäumen nieder und drangen in jedes glückliche Heim in Three Pines.

Nach dem Gottesdienst eilte der Pfarrer zur Christmette im benachbarten Cleghorn Halt.

»Joyeux Noël«, sagte Peter zu Gabri, als sie sich auf den Stufen vor der Kirche zu dem kurzen Gang durch das Dorf zu Emilies Haus versammelten. »Was für eine schöne Nacht.«

»Und was für ein schöner Gottesdienst«, sagte Clara, die neben Peter trat. »War die Stimme dieses Kindes nicht unglaublich?«

»Nicht schlecht«, gab Gabri zu.

»Nicht schlecht?« Mother Bea watschelte zu ihnen, Kaye an ihrem Arm wie einen Muff und Emilie an der anderen Seite. »Sie war wirklich unglaublich. Ich habe noch nie eine solche Stimme gehört, ihr vielleicht?«

»Ich brauche was zu trinken«, sagte Kaye. »Wann gehen wir endlich?«

»Jetzt gleich«, beruhigte Em sie.

»Olivier holt das Essen aus dem Bistro«, sagte Gabri. »Wir haben gedünsteten Lachs gemacht.«

»Willst du mich heiraten?«, fragte Myrna.

»Ach, das fragst du doch bestimmt jedes Mädchen«, sagte Gabri.

»Nein, du bist die Erste«, bekannte Myrna und lachte. Aber das Lachen verging ihr rasch.

»Du bist eine dumme Göre«, hörten sie eine Stimme auf der anderen Seite der Kirche zischen. Alle erstarrten, die Worte, die durch die frostige Nachtluft schnitten, brachten sie unvermittelt zum Verstummen. »Alle Leute haben dich angestarrt. Wie peinlich!«

Es war CCs Stimme. Die Kirche hatte einen Seiteneingang, von dem aus ein Pfad zur Rue du Moulin und zu dem alten Hadley-Haus führte. CC musste dort im Schatten der Kirche stehen.

»Sie haben dich ausgelacht. ›Halleluja tönte es laut von fern und nah‹«, sang CC mit kindlicher, falscher Stimme. »Und was du anhast. Bist du krank? Ich glaube, du bist nicht mehr ganz zurechnungsfähig.«

»Also wirklich, CC«, war eine männliche Stimme zu vernehmen, so unterwürfig und leise, dass sie kaum die Schneeflocken durchdrang.

»Sie ist deine Tochter. Sieh sie an. Fett, hässlich und faul. Genau wie du. Hast du vielleicht nicht alle Tassen im Schrank, Crie? Ist es das? Hm? Ist es das?«

Keiner der Freunde rührte sich, so als versteckten sie sich vor einem Ungeheuer, leise flehend, bitte, bitte, jemand würde es zum Schweigen bringen. Irgendjemand anderes.

»Und du hast dein Geschenk ausgepackt, du selbstsüchtiges Kind.«

»Aber du hast doch gesagt, dass ich …«, war die leise Erwiderung zu hören.

»Ich, ich, ich. Das ist alles, was ich von dir höre. Hast du dich überhaupt bedankt?«

»Danke für die Schokolade, Mommy.« Die Stimme und das Mädchen wurden immer kleiner, so als wollten sie verschwinden.

»Zu spät. Es zählt nicht mehr, wenn ich erst darum betteln muss.« Das Ende des Satzes ging im Klackern von CCs Schuhen auf dem Weg unter, das klang, als liefe sie auf Krallen.

Die Gemeinde stand wortlos da. Neben Clara fing Gabri an zu summen, tief und langsam, dann formte er fast unhörbar die Worte des alten Weihnachtsliedes: »Traurig, seufzend, blutend, sterbend, eingemauert in dem kalten steinernen Grab.«

Sie waren dem Ungeheuer entkommen. Statt ihrer hatte es ein verängstigtes Kind verschlungen.

Tief eingeschneit

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