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Crie legte ihr Kostüm vorsichtig zurecht, um den weißen Chiffon nicht zu zerreißen. Das Krippenspiel hatte schon begonnen. Sie hörte die unteren Klassen »Es ist ein Ros’ entsprungen« singen, auch wenn es sich verdächtig nach »Es ist ein Ross entsprungen« anhörte. Einen kurzen Moment fragte sie sich, ob sie damit gemeint war. Machten sie sich über sie lustig? Sie verdrängte den Gedanken und fing leise vor sich hin summend an, in das Kostüm zu steigen.

»Wer ist das?« Über das Geplapper der vielen Kinder hinweg war die Stimme von Madame Latour, der Musiklehrerin, zu hören. »Wer summt da?«

Madames vogelähnliches, kluges Gesicht sah um die Ecke, wohin sich Crie verzogen hatte, um sich in Ruhe umzuziehen. Instinktiv packte Crie das Kostüm und versuchte, ihren fast nackten, vierzehnjährigen Körper damit zu bedecken. Was natürlich nicht ging. Zu viel Körper und zu wenig Chiffon.

»Warst du das?«

Crie starrte sie an und brachte vor Angst keinen Ton heraus. Ihre Mutter hatte sie gewarnt. Hatte sie davor gewarnt, in der Öffentlichkeit zu singen.

Aber heute war ihr so leicht ums Herz gewesen, dass sie sich zu einem Summen hatte hinreißen lassen.

Madame Latour sah auf das fette Mädchen und spürte Ekel in sich aufsteigen. Diese Fettwülste und die schrecklichen Dellen, die Unterwäsche, die unter den Fleischmassen verschwand. Das Gesicht wie eingefroren, ein starrer Blick. Der Physik- und Biologielehrer, Monsieur Drapeau, hatte gesagt, dass Crie in seinen Fächern die Beste sei, woraufhin ein anderer Lehrer eingeworfen hatte, dass in diesem Halbjahr Vitamine und Mineralstoffe Unterrichtsthema gewesen seien und dass Crie das Buch wahrscheinlich verschlungen hätte.

Wie dem auch war, sie nahm jedenfalls an der Aufführung teil, vielleicht ging sie endlich einmal aus sich heraus, auch wenn das natürlich einen ziemlichen Kraftakt darstellen würde.

»Du musst dich beeilen. Du bist gleich dran.« Sie verschwand, ohne auf eine Antwort zu warten.

Das war die erste Weihnachtsaufführung, an der Crie in den fünf Jahren, die sie nun schon Miss Edwards Mädchenschule besuchte, teilnahm. Die anderen Jahre hatte sie sich irgendwelche Entschuldigungen überlegt, während die anderen Schüler sich Gedanken über Kostüme machten. Keiner hatte je versucht, sie zum Mitmachen zu überreden. Stattdessen hatte man ihr die Aufgabe übertragen, für das Bühnenlicht zu sorgen, da sie nun mal ein Händchen für alles Technische hatte, wie Madame Latour es formulierte. Tote Materie, hatte sie gemeint. So kam es, dass Crie die Weihnachtsaufführung jedes Jahr allein im Dunkeln und nur von hinten sah, während die schönen, strahlenden, talentierten Mädchen tanzend und singend und von Crie ins rechte Licht gesetzt die Geschichte vom Weihnachtswunder vorgetragen hatten.

Nicht so in diesem Jahr.

Sie zog ihr Kostüm an und musterte sich im Spiegel. Eine riesige Schneeflocke aus Chiffon blickte zurück. Sie musste zugeben, dass es eher nach einer Schneeverwehung als einer einzelnen Schneeflocke aussah, aber immerhin war es ein Kostüm und eigentlich auch recht schön. Den anderen Mädchen hatten ihre Mütter geholfen, aber Crie hatte ihres ganz alleine genäht. Um Mommy zu überraschen, hatte sie sich eingeredet und versucht, die andere Stimme zum Schweigen zu bringen.

Wenn sie genau hinsah, konnte sie die winzigen Blutstropfen sehen, wo ihre dicken, plumpen Finger mit der Nadel herumgestochert und die eigene Hand getroffen hatten. Aber sie hatte sich davon nicht beirren lassen, bis das Kostüm fertig war. Und dann hatte sie einen Geistesblitz. Wirklich, es war der beste Gedanke, den sie in ihren vierzehn Jahren gehabt hatte.

Ihre Mutter verehrte das Licht, das wusste sie. Danach, erzählte sie ihr ohne Unterlass, strebten alle Menschen. Deshalb spreche man auch von Erleuchtung. Deshalb würden kluge Leute als Leuchten oder helle Köpfe bezeichnet. Würden dünne Leute sich durchsetzen. Weil zwischen leicht und licht eine innere Verwandtschaft bestand.

Es war alles völlig einleuchtend.

Deshalb spielte Crie jetzt eine Schneeflocke. Das weißeste, leichteste aller Elemente. Und was brachte sie zum Strahlen? Nun, sie war in einen Ramschladen gegangen und hatte von ihrem Taschengeld eine Tube Glitzercreme gekauft. Mit starr nach vorne gerichtetem Blick und angehaltenem Atem hatte sie es geschafft, an den Schokoladenriegeln vorbeizugehen. Crie machte jetzt schon seit einem Monat Diät, bestimmt würde ihre Mutter es bald bemerken.

Sie trug die Glitzercreme auf und sah sich das Ergebnis an.

Das erste Mal in ihrem Leben fand sich Crie schön. Und sie wusste, dass in wenigen Minuten ihre Mutter dasselbe denken würde.

Clara Morrow sah durch die mit Eisblumen übersäten Sprossenfenster in ihrem Wohnzimmer auf das winzige Dorf Three Pines. Sie beugte sich vor und wischte die Scheibe an einer Stelle frei. Jetzt, wo wir etwas Geld haben, dachte sie, sollten wir die alten Fenster endlich ersetzen. Clara wusste, dass das die vernünftigste Entscheidung wäre, doch die meisten ihrer Entscheidungen wurden nicht von der Vernunft gesteuert. Aber sie fügten sich in ihr Leben. Während sie die an eine Schneekugel erinnernde Szenerie betrachtete, wurde ihr klar, dass es ihr gefiel, das Dorf durch das schöne Muster, das der Frost auf das alte Glas malte, hindurch anzusehen.

Sie nippte an ihrer heißen Schokolade und beobachtete die bunt gekleideten Dorfbewohner, die durch den in sanften Flocken fallenden Schnee spazierten, sich mit behandschuhten Händen zuwinkten und ab und zu stehen blieben, um miteinander zu plaudern, wobei sie wie Comicfiguren beim Sprechen kleine Wölkchen hervorstießen. Einige waren auf dem Weg in Oliviers Bistro auf einen café au lait, andere holten frisches Brot oder einen gateau au chocolat in Sarahs Bäckerei. Myrnas Buchladen neben dem Bistro war heute geschlossen. Monsieur Béliveau schippte Schnee vor seinem Gemischtwarenladen und winkte Gabri zu, der mit wehendem Mantel über den Dorfanger zu seiner Pension an der Ecke eilte. Für einen Fremden hätten die Dorfbewohner einer wie der andere ausgesehen, ja selbst geschlechtslos. Im Winter sahen in Québec alle gleich aus. Große rudernde, watschelnde, dick verpackte Daunen- und Watteberge, sodass selbst die Schlanken mollig wirkten und die Molligen wie Kugeln. Alle sahen gleich aus. Bis auf die Strickmützen auf ihren Köpfen. Clara konnte sehen, wie Ruths hellgrüne Toque Waynes bunt gestreifter Pudelmütze zunickte, die Pat an langen Herbstabenden gestrickt hatte. Die Lévesque-Kinder trugen verschiedene Blautöne, während sie auf dem zugefrorenen Teich ihrem Eishockeypuck hinterherjagten, die kleine Rose im Tor fror so sehr, dass Clara ihren wasserblauen Bommel zittern sah. Ihre Brüder liebten sie, und jedes Mal, wenn sie auf das Tor zurasten, taten sie so, als stolperten sie, und statt einen scharfen Schlagschuss abzugeben, schlitterten sie langsam auf sie zu, bis sie alle in einem riesigen, lachenden Haufen an der Torlinie endeten. Das Ganze erinnerte Clara an einen der Kunstdrucke von Currier und Ives, die sie als Kind stundenlang betrachten konnte und sich dabei immer gewünscht hatte, hineinsteigen zu können.

Three Pines lag unter einer dicken weißen Decke. In den letzten paar Wochen waren dreißig Zentimeter Schnee gefallen, und jedem der alten Häuser am Dorfanger war eine strahlend weiße Mütze aufgesetzt worden. Rauch stieg aus den Kaminen auf, als hätten die Häuser eigene Stimmen und einen eigenen Atem, die Gartentore und Haustüren waren weihnachtlich geschmückt. Nachts erstrahlte das stille kleine Dorf in den Eastern Townships im Glanz der Lichterketten. In Vorbereitung des großen Tages war unter Erwachsenen und Kindern fröhliche Geschäftigkeit ausgebrochen.

»Vielleicht springt ihr Auto nicht an«, Claras Ehemann Peter trat ins Zimmer. Er war groß und schlank und sah aus wie ein Top-Manager, wie sein Vater. Aber anders als dieser verbrachte er seine Tage damit, sich über seine Staffelei zu beugen und mit akribischer Genauigkeit seine abstrakten Bilder zu malen, wobei er regelmäßig auch ein wenig Ölfarbe in seine lockigen grauen Haare brachte. Sie gingen für Tausende von Dollar an Sammler auf der ganzen Welt, aber weil er so langsam arbeitete und nur ein oder zwei im Jahr produzierte, lebten er und Clara in Armut. Bis vor nicht allzu langer Zeit jedenfalls. Claras Gemälde von Kriegerinnen und ihren Uteri und schmelzenden Bäumen mussten erst noch ihren Markt finden.

»Sie kommt schon noch«, sagte Clara. Peter sah seine Frau an, ihre Augen waren blau und warm, ihr einst dunkles Haar von Grau durchzogen, obwohl sie erst Ende vierzig war. Um den Bauch und die Hüften herum wurde sie langsam etwas rundlich, kürzlich hatte sie davon gesprochen, dass sie wieder Madeleines Gymnastikkurs besuchen wollte. Er war klug genug, keine Antwort zu geben, als sie ihn fragte, wie er die Idee fände.

»Bist du sicher, dass ich nicht mitfahren kann?«, fragte er mehr aus Höflichkeit als aus einem echten Bedürfnis heraus, sich in Myrnas Blechkiste zu quetschen und sich auf dem langen Weg bis in die Stadt durchschütteln zu lassen.

»Natürlich nicht. Ich will doch dein Weihnachtsgeschenk kaufen. Abgesehen davon ist im Auto nicht genug Platz für Myrna, mich, dich und die Geschenke. Wir müssten dich in Montréal zurücklassen.«

Vor ihrem offenen Gartentor hielt ein winziges Auto, dem eine mächtige schwarze Frau entstieg. Das mochte Clara an den Ausflügen mit Myrna vielleicht am liebsten. Zuzusehen, wie sie in ihr mikroskopisch kleines Auto ein- und ausstieg. Clara war überzeugt, dass Myrna im Grunde größer als das Auto war. Es war schon zum Schreien, Myrna im Sommer dabei zu beobachten, wie sie sich hineinwand, während ihr Kleid sich bis zur Taille hochschob. Myrna lachte nur darüber. Im Winter war es noch lustiger, weil sie dann einen dicken rosafarbenen Anorak trug, der ihren Umfang nahezu verdoppelte.

»Ich stamme von einer Insel, Kindchen. Mir ist einfach kalt.«

»Du stammst von der Insel Montréal«, stellte Clara fest.

»Stimmt«, bekannte Myrna mit einem Lachen. »Allerdings von der Südseite. Ich liebe den Winter. Es ist die einzige Zeit, in der ich eine rosa Haut bekomme. Was meinst du? Ginge ich durch?«

»Als was?«

»Als Weiße.«

»Willst du das denn?«

Myrna sah ihre beste Freundin auf einmal ganz ernst an, dann lächelte sie. »Nein. Nein, nicht mehr. Nein.«

Die Antwort schien ihr zu gefallen, auch wenn sie darüber ein bisschen überrascht zu sein schien.

Jetzt stiefelte die falsche Weiße in ihrer aufgeplusterten rosa Haut, mit mehrfach um den Hals geschlungenen Schals und einer lila Mütze mit orangefarbenem Bommel den gerade erst freigeschaufelten Weg hoch.

Sie wären schnell in Montréal. Es war eine kurze Fahrt, weniger als anderthalb Stunden, selbst bei diesen Witterungsverhältnissen. Clara freute sich auf den Nachmittag, den sie mit Weihnachtseinkäufen verbringen wollte, aber der Höhepunkt des Ausflugs, eines jeden Ausflugs nach Montréal zur Weihnachtszeit, war ein Geheimnis. Ihr ganz persönliches Vergnügen.

Clara Morrow konnte es kaum erwarten, das Weihnachtsschaufenster von Ogilvy’s zu sehen.

Das Nobelkaufhaus mitten in Montréal hatte das schönste Weihnachtsschaufenster auf der ganzen Welt. Mitte November wurden die riesigen Fensterscheiben plötzlich mit schwarzem Papier bedeckt. Dann begann das gespannte Warten. Wann würde der Schleier, hinter dem sich das Wunderwerk verbarg, gelüftet? Als Kind hatte Clara das aufregender gefunden als die Santa-Claus-Parade. Kaum hatte sich herumgesprochen, dass Ogilvy’s das Papier endlich wieder entfernt hatte, war Clara nach Downtown zu dem magischen Schaufenster geeilt.

Dann war es so weit. Clara lief auf das Schaufenster zu, aber kurz davor blieb sie stehen, gerade so, dass es außerhalb ihrer Sichtweite war. Sie schloss die Augen und sammelte sich, dann machte sie einen Schritt nach vorne, öffnete die Augen und sah es. Claras Dorf. Der Ort, an den sie sich in ihrer Kindheit flüchtete, wenn Enttäuschungen und erste Grausamkeiten ihre zarte Seele bedrückten. Sommer wie Winter, alles was sie tun musste, war, die Augen zu schließen, und schon war sie dort. Bei den tanzenden Bären und Schlittschuh laufenden Enten und bei den Fröschen in ihren viktorianischen Kostümen, die von einer Brücke ihre Angeln ins Wasser hielten. Nachts, wenn das Monster unter den Dielen ihres Zimmers schnaubte und schnaufte und mit seinen langen Krallen schabte, dann kniff sie ihre kleinen blauen Augen zusammen und versetzte sich in das magische Fenster und in das Dorf, das das Monster niemals finden konnte, weil der Eingang von Freundlichkeit bewacht wurde.

Als sie älter war, geschah etwas ganz Wunderbares. Sie verliebte sich in Peter Morrow und erklärte sich bereit, New York später im Sturm zu erobern. Stattdessen zog sie in das kleine Dorf südlich von Montréal, das er so sehr mochte. Clara kannte die Gegend nicht, sie war ein richtiges Stadtkind, aber sie liebte Peter so sehr, dass sie nicht eine Sekunde zögerte.

So kam es, dass Clara, clevere und zynische Absolventin der Kunstakademie, vor sechsundzwanzig Jahren aus ihrem klapprigen VW Käfer stieg und in Tränen ausbrach.

Peter hatte sie in das verzauberte Dorf ihrer Kindheit gebracht. Das Dorf, das sie in dem Gefühl der eigenen Wichtigkeit und in der Überheblichkeit, die das Erwachsenendasein begleiteten, vergessen hatte. Ogilvy’s Schaufenster gab es also in Wirklichkeit, und es hieß Three Pines. Sie hatten ein kleines Haus am Dorfanger gekauft und sich ein Leben geschaffen, das mehr Zauber in sich barg, als Clara jemals zu träumen gewagt hätte.

Ein paar Minuten später öffnete Clara in dem gut geheizten Auto den Reißverschluss ihres Anoraks und betrachtete die vorüberziehende Schneelandschaft. Dies war ein besonderes Weihnachten, aus Gründen, die zugleich furchtbar und wunderbar waren. Ihre liebe Freundin und Nachbarin Jane Neal war vor gut einem Jahr ermordet worden und hatte Clara ihr gesamtes Vermögen vermacht. Das vorangegangene Weihnachten hatte sie ein zu schlechtes Gewissen gehabt, um etwas von dem Geld auszugeben. Sie hätte das Gefühl gehabt, von Janes Tod zu profitieren.

Myrna warf Clara einen Blick zu, ihre Gedanken nahmen dieselbe Richtung. Sie erinnerte sich an die liebe, tote Jane Neal und den Rat, den sie Clara nach dem Mord an Jane gegeben hatte. Myrna war es gewohnt, Ratschläge zu erteilen. Sie hatte in Montréal als Psychotherapeutin gearbeitet, bis ihr klar geworden war, dass die meisten ihrer Patienten eigentlich gar nicht wollten, dass es ihnen besser ging. Sie wollten eine Pille und die Bestätigung, dass es nicht ihre Schuld war, wenn irgendetwas schiefging.

Irgendwann hatte Myrna das Handtuch geworfen. Sie hatte ihr kleines rotes Auto mit Büchern und Kleidern vollgeladen und war über die Brücke gefahren, von der Insel Montréal herunter, nach Süden in Richtung der Grenze zu den USA. Sie wollte nach Florida, sich an den Strand setzen und überlegen, was sie tun sollte.

Aber das Schicksal und eine Heißhungerattacke waren ihr dazwischengekommen. Myrna war in gemütlichem Tempo über die gewundenen Landstraßen gefahren und erst etwa eine Stunde unterwegs, als sie plötzlich Hunger überkam. Das Auto schnaufte auf einer Schotterstraße einen Hügel hoch, von der Kuppe aus sah sie plötzlich versteckt in den Wäldern ein Dorf zu ihren Füßen liegen. Myrna war so verzaubert von dem Anblick, dass sie anhielt und ausstieg. Das Frühjahr neigte sich dem Ende zu, und die Sonne nahm langsam an Kraft zu. Ein Bach rauschte unter einer alten steinernen Mühle durch, an einer weiß gestrichenen Holzkirche vorbei und mäanderte am Rand des Dorfes entlang. Das Dorf selbst bildete einen Kreis um den Dorfanger, von dem in alle vier Richtungen unbefestigte Straßen abgingen. Die alten Häuser um den Dorfanger waren zum Teil im Québecer Stil mit steil abfallenden Blechdächern und schmalen Gauben gebaut, andere waren geschindelt und hatten breite, offene Veranden. Mindestens eines war aus Naturstein, errichtet aus den Steinen der umliegenden Felder, von einem Pionier, der im Wettlauf mit dem herannahenden, mörderischen Winter geschuftet hatte.

Auf dem Anger befand sich ein Teich, an dessen einem Ende erhoben sich drei majestätische Kiefern.

Myrna holte ihre Karte von Québec hervor. Nach ein paar Minuten faltete sie sie wieder zusammen und lehnte sich verwundert gegen das Auto. Das Dorf war nicht in der Karte verzeichnet. Es waren Orte darin verzeichnet, die seit Jahrzehnten nicht mehr existierten. Es waren winzige Fischerdörfer und Weiler, die aus zwei Häusern und einer Kirche bestanden, darin verzeichnet.

Aber dieses Dorf nicht.

Sie sah zu den Dorfbewohnern hinunter, die in ihren Gärten arbeiteten, ihre Hunde ausführten oder lesend auf einer Bank am Teich saßen.

Vielleicht war es ein verzaubertes Dorf wie im Märchen, tauchte nur alle paar Jahre auf und erschien dann auch nur Leuten, die sich danach sehnten. Dennoch zögerte Myrna. Bestimmt gab es auch dort nicht das, wonach sie sich sehnte. Beinahe hätte sie kehrtgemacht und wäre nach Williamsburg gefahren, das wenigstens auf der Karte stand, aber dann entschloss sie sich, das Wagnis einzugehen.

Three Pines hatte all das, wonach sie sich sehnte.

Es gab Croissants und café au lait. Es gab Steak mit Pommes frites und die New York Times. Es gab eine Bäckerei, ein Bistro, eine Pension, einen Gemischtwarenladen. Hier fand sie Frieden, Stille und Heiterkeit. Sie fand große Freude und große Traurigkeit und die Fähigkeit, beides zu akzeptieren und zufrieden zu sein. Sie fand Gemeinschaft und Freundlichkeit.

Und einen leer stehenden Laden mit einer Wohnung darüber. Für sie.

Myrna blieb für immer.

Innerhalb von nur wenig mehr als einer Stunde war Myrna aus einer Welt des Zweifels in eine Welt der Zufriedenheit gewechselt. Das war vor sechs Jahren. Heute brachte sie neue und gebrauchte Bücher und ebensolche Ratschläge unter ihre Freunde.

»Um Himmels willen, komm doch endlich mal wieder in die Pötte«, hatte sie zu Clara gesagt. »Es ist Monate her, seit Jane gestorben ist. Du hast geholfen, den Mord an ihr aufzuklären. Du weißt genau, dass Jane sich ärgern würde, dass sie dir all ihr Geld hinterlassen hat, und du freust dich nicht einmal darüber. Hätte sie es doch mir gegeben.« Myrna hatte in gespieltem Bedauern den Kopf geschüttelt. »Ich hätte etwas damit anzufangen gewusst. Zack, runter nach Jamaika, ein netter Rastafari, ein gutes Buch …«

»Moment mal. Du angelst dir einen Rastafari und liest dann ein Buch?«

»Na klar. Beide erfüllen jeweils einen bestimmten Zweck. Ein Rastafari ist ganz toll, wenn er hart ist, bei einem Buch ist das nicht der Fall.«

Clara lachte. Sie teilten die Abneigung gegen gebundene Bücher. Mit dem festen Einband hatte man im Bett wenig Freude.

»Anders als bei einem Rastafari«, sagte Myrna.

Myrna hatte ihre Freundin dazu gebracht, den Tod von Jane zu akzeptieren und das Geld auszugeben. Was Clara an diesem Tag auch vorhatte. Endlich würden sich auf der Rückbank des Autos schwere Papiertüten in satten Farben stapeln, mit Tragegriffen aus Kordel und geprägten Schriftzügen mit Namen wie Holt Renfrew und Ogilvy. Keine einzige quietschgelbe Plastiktüte aus dem Ramschladen. Auch wenn Clara Ramschläden insgeheim liebte.

Zu Hause starrte Peter aus dem Fenster und zwang sich dazu, aufzustehen und etwas mit seiner Zeit anzufangen, ins Atelier zu gehen und an seinem Gemälde zu arbeiten. In diesem Moment sah er, dass an einer Stelle das Eis von der Scheibe gekratzt worden war. In Form eines Herzens. Er lächelte und sah hindurch, sah, dass in Three Pines alles seinen gewohnt gemütlichen Lauf nahm. Dann blickte er nach oben, zu dem verschachtelten alten Haus auf dem Hügel. Das alte Hadley-Haus. Noch während er hinaufblickte, fingen die Eisblumen wieder an zu wachsen und füllten das Herz mit Eis.

Tief eingeschneit

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