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Als Clara durch das Kaufhaus ging, fragte sie sich, was schlimmer war, der Gestank des armen Penners oder der aufdringliche Geruch aus der Parfümerieabteilung. Nachdem etwa zum fünften Mal irgendein abgemagertes junges Ding Clara angesprüht hatte, wusste sie die Antwort. Sie ekelte sich schon vor sich selbst.

»Das wurde aber auch Zeit.« Ruth Zardo hinkte auf Clara zu. »Du siehst aus wie eine Beutelratte.« Sie küssten sich zur Begrüßung auf die Wangen. »Und du stinkst.«

»Das bin nicht ich, das ist Myrna«, flüsterte Clara, nickte zu der neben ihr stehenden Freundin und wedelte sich mit der Hand vor der Nase herum. Die Begrüßung der Dichterin war sehr viel herzlicher als sonst ausgefallen.

»Hier, kauf das.« Ruth reichte ihr ein Exemplar ihres neuen Buchs, Mir geht’s GUT. »Ich schreibe dir sogar eine Widmung rein. Aber zuerst musst du es kaufen.«

Ruth Zardo, groß gewachsen und würdevoll, ging auf ihren Stock gestützt zu dem kleinen Tisch in einer Ecke des riesigen Ladens, um dort auf jemanden zu warten, der das Buch von ihr signiert haben wollte.

Clara ging und zahlte das Buch, dann ließ sie es sich signieren. Sie kannte ausnahmslos alle, die sich hier eingefunden hatten. Da waren Gabri Dubeau und sein Freund Olivier Brulé. Gabri war groß und ausladend, eindeutig ein Schleckermaul, das nicht Nein sagen konnte. Er war Mitte dreißig und hatte entschieden, dass er genug davon hatte, jung, gestählt und schwul durchs Leben zu gehen. Na ja, nicht unbedingt davon, schwul zu sein. Neben ihm stand Olivier, gut aussehend, schlank, elegant. Anders als sein Freund war er blond, zupfte gerade ein beunruhigendes Strähnchen Haare von seinem seidenen Rollkragenpullover und wünschte sich dabei ganz offensichtlich, er könne es wieder einpflanzen.

Ruth hätte nicht den ganzen Weg nach Montréal zurücklegen müssen, um ihr Buch vorzustellen. Die einzigen Leute, die gekommen waren, stammten aus Three Pines.

»Das ist reine Zeitverschwendung«, sagte sie und beugte den Kopf mit den kurz geschnittenen weißen Haaren über Claras Buch. »Niemand aus Montréal ist gekommen, nicht eine lausige Seele. Nur ihr. Wie öde.«

»Vielen herzlichen Dank, alte Wortklauberin«, sagte Gabri, der zwei Bücher in seinen großen Händen hielt.

»Weißt du«, Ruth sah hoch, »das hier ist eine Buchhandlung«, sagte sie betont langsam und laut. »Hier kommen Leute her, die lesen können. Es ist keine öffentliche Badeanstalt.«

»Eigentlich schade.« Gabri sah zu Clara.

»Es ist Myrna«, sagte sie, aber da Myrna auf der anderen Seite des Gangs stand und mit Emilie Longpré plauderte, glaubte ihr kein Mensch.

»Wenigstens überdeckst du den Mief von Ruths Gedichten«, sagte Gabri und hielt Mir geht’s GUT von sich weg.

»Alte Schwuchtel«, zischte Ruth.

»Alte Schachtel«, zischte Gabri und zwinkerte Clara zu. »Salut, ma chère.«

»Salut, mon amour. Was ist das andere, das du da hast, für ein Buch?«, fragte Clara.

»Das ist von CC de Poitiers. Wusstest du, dass unsere neue Nachbarin ein Buch geschrieben hat?«

»Gott, das heißt, sie hat mehr Bücher geschrieben als gelesen!«, sagte Ruth.

»Dort drüben liegen sie.« Er deutete auf einen Stapel weißer Bücher auf dem Tisch mit den Remittenden. Ruth schnaubte, dann wurde sie still, als ihr klar wurde, dass es vielleicht nur eine Frage von Tagen war, bis sich ihre kleine Sammlung von sorgsam komponierten Gedichten zu CCs Müll in den Büchersarg gesellte.

Einige Leute standen herum, unter anderem die drei Grazien von Three Pines: Emilie Longpré, eine zierliche, elegante Erscheinung in einem schmal geschnittenen Rock, Bluse und Seidenschal; Kaye Thompson, mit ihren über neunzig die Älteste der drei Freundinnen und verhutzelt und verschrumpelt wie eine Kartoffel, die nach Wick VapoRub roch; und Beatrice Mayer, mit einem wilden roten Schopf, der weiche, plumpe Körper unter einem voluminösen bernsteinfarbenen Kaftan und klobigen Ketten um den Hals nicht unbedingt vorteilhaft verborgen. Mother Bea, wie man sie nannte, hielt ein Exemplar von CCs Buch in der Hand. Sie drehte sich um und sah in Claras Richtung, nur einen Moment lang. Aber der reichte.

Mother Bea wirkte völlig fassungslos, ohne dass Clara ihre Miene richtig deuten konnte. War es Ärger? Angst? Auf jeden Fall hatte sie etwas sehr verstört, dachte Clara. Dann verschwand der Ausdruck, und an seine Stelle trat wieder die vertraute friedliche und heitere Miene in Mothers rosigem und faltigem Gesicht.

»Kommt, wir gehen rüber«, Ruth stand unbeholfen auf und nahm dankbar Gabris Arm. »Hier passiert sowieso nicht viel. Wenn später die nach großer Lyrik gierigen Horden einfallen, komme ich schnell zu meinem Tisch zurück.«

»Bonjour, meine Liebe.« Die zierliche Emilie Longpré küsste Clara auf beide Wangen. Selbst im Winter, wenn die meisten Québecer unter den vielen Woll- und Steppschichten wie Karikaturen ihrer selbst aussahen, wirkte Em elegant und grazil. Ihre Haare waren von einem geschmackvollen Hellbraun und gut frisiert. Kleidung und Make-up waren zurückhaltend und entsprachen dem Anlass. Mit ihren zweiundachtzig Jahren war sie eine der Matriarchinnen des Dorfs.

»Hast du das gesehen?« Olivier reichte Clara ein Buch. CC starrte sie an, grausam und kalt.

Be Calm – Ruhe finden.

Clara blickte zu Mother. Jetzt war ihr klar, warum sich Mother so aufregte.

»Hör dir das an.« Gabri begann den Klappentext vorzulesen. »Ms de Poitiers hat offiziell erklärt, dass Feng-Shui der Vergangenheit angehört.«

»Selbstverständlich, es ist eine alte chinesische Lehre«, sagte Kaye.

»An seiner statt«, fuhr Gabri fort, »schenkt uns diese neue Doyenne des Designs eine wesentlich komplexere, wesentlich tiefer gehende Philosophie, die nicht nur unser Zuhause bereichern und sein Erscheinungsbild prägen wird, sondern auch unsere Seele, jede Sekunde unseres Lebens, jede unserer Entscheidungen, jeden unserer Atemzüge. Der Weg ist bereitet für Li Bien, den Weg des Lichts.«

»Was ist Li Bien?«, fragte Olivier in die Runde. Clara glaubte zu sehen, wie Mother ihren Mund öffnete und dann wieder schloss.

»Mother?«, fragte sie.

»Ich? Nein, meine Liebe, ich habe keine Ahnung. Warum fragst du?«

»Ich dachte, du bist vielleicht mit Li Bien vertraut, weil du doch ein Yoga- und Meditationszentrum leitest«, sagte Clara vorsichtig.

»Ich bin mit sämtlichen spirituellen Wegen vertraut«, sagte sie, was eine gelinde Übertreibung war, wie Clara fand. »Aber mit diesem nicht.« Deutlicher brauchte sie nicht zu werden.

»Es ist dennoch ein merkwürdiger Zufall«, sagte Gabri, »findest du nicht?«

»Was denn?«, fragte Mother mit heiterer Stimme und Miene, aber mit bis zu den Ohren hochgezogenen Schultern.

»Na ja, dass CC ihr Buch Be Calm nennt. So heißt doch dein Meditationszentrum.«

Schweigen.

»Und?«, sagte Gabri, der ahnte, dass er in ein Fettnäpfchen getreten war.

»Das muss ein Zufall sein«, erklärte Emilie ruhig. »Vielleicht ist es auch eine Verneigung vor dir, ma belle.« Sie wandte sich zu Mother und legte eine schmale Hand auf den rundlichen Arm ihrer Freundin. »Sie wohnt jetzt seit ungefähr einem Jahr in dem alten Hadley-Haus und empfindet deine Arbeit bestimmt als Inspiration. Es ist eine Hommage an deine Spiritualität.«

»Und ihr Haufen Mist ist wahrscheinlich höher als deiner«, beruhigte Kaye sie. »Das muss ein gutes Gefühl sei. Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist«, sagte sie zu Ruth, die erfreut auf ihre Heldin blickte.

»Schöne Frisur.« Olivier wandte sich an Clara, in der Hoffnung, die Stimmung aufzulockern.

»Danke.« Clara fuhr sich mit der Hand durch die Haare, was dazu führte, dass sie in alle Richtungen abstanden und sie aussehen ließen, als hätte sie gerade jemand erschreckt.

»Du hast recht«, sagte Olivier zu Myrna. »Sie sieht aus wie ein verängstigter Infanterist in den Schützengräben von Vimy. Dieser Look steht nicht vielen. Sehr mutig, sehr neues Millennium. Ich beglückwünsche dich.«

Claras Augen verengten sich, und sie warf Myrna, die von einem Ohr zum anderen grinste, einen bitterbösen Blick zu.

»Scheiß auf den Papst«, sagte Kaye.

CC rückte den Stuhl erneut zurecht. Sie stand angekleidet und allein in dem Hotelzimmer. Saul war gegangen, ohne ihr einen Abschiedskuss zu geben oder einen einzufordern.

Sie war erleichtert, als er ging. Jetzt konnte sie es endlich tun.

CC stand am Fenster, ein Exemplar von Be Calm in der Hand. Langsam hob sie das Buch und drückte es an ihre Brust, als hätte ihr genau das ihr ganzes Leben lang gefehlt.

Sie legte den Kopf in den Nacken und wartete. Würde sie ihnen in diesem Jahr entgehen? Nein. Ihre Unterlippe begann leicht zu zittern. Dann flatterten ihre Lider, und ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle. Dann kamen sie, strömten kalt über ihre Wangen in die offene, stumme Mundhöhle. Sie stürzte ihnen hinterher in den dunklen Abgrund und fand sich in einem vertrauten Zimmer zur Weihnachtszeit wieder.

Ihre Mutter stand neben einer riesigen, toten, ungeschmückten Tanne, die in eine Ecke des nüchternen, dunklen Zimmers gelehnt war, um sie herum ein Teppich spitzer Nadeln. An dem Baum hing eine einzelne Kugel, die ihre Mutter gerade hysterisch heulend herunterriss. CC konnte die Nadeln noch immer auf den Boden prasseln hören und die Kugel auf sich zurasen sehen. Sie wollte sie nicht fangen. Hatte bloß ihre Hände in die Höhe gestreckt, um ihr Gesicht zu schützen, aber die Kugel war direkt in ihren Händen gelandet und dort liegen geblieben, als hätte sie ein Zuhause gefunden. Ihre Mutter saß inzwischen auf dem Boden und wiegte sich weinend vor und zurück, und CC wollte nur, dass sie damit aufhörte. Wollte sie zum Schweigen bringen, ihr sagen, sie solle still sein, sie beruhigen, bevor die Nachbarn wieder die Polizei riefen und ihre Mutter wieder weggebracht wurde. Und CC bei irgendwelchen Fremden zurückblieb.

Einen Moment nur sah CC auf die Kugel in ihren Händen. Sie schimmerte und fühlte sich warm an. Es war ein schlichtes Bild darauf gemalt. Drei hohe Kiefern, die wie eine Familie zusammenstanden, auf den gebogenen Ästen lag Schnee. Darunter stand in der Handschrift ihrer Mutter Noël.

CC beugte sich zu der Kugel und verlor sich in dem Frieden, der Ruhe und dem Licht. Aber sie musste zu lange geguckt haben. Ein Klopfen an der Tür schreckte sie aus ihren Träumen auf und brachte sie unsanft zu dem vor ihr liegenden Schrecken zurück.

»Was ist da drinnen los? Lassen Sie uns rein«, befahl die Stimme des Mannes auf der anderen Seite der Tür.

CC gehorchte, doch es war das letzte Mal, dass sie irgendjemanden irgendwo einließ.

Crie ging am Ritz vorbei, blieb stehen und starrte das Nobelhotel an. Der Portier ignorierte sie und bot ihr nicht an, die Tür für sie zu öffnen. Langsam ging sie weiter, der Schneematsch war durch ihre Stiefel gedrungen, die Wollhandschuhe baumelten an ihren Händen, schwer von dem daran haftenden Schnee.

Es war ihr egal. Sie stapfte durch die dunklen, verschneiten, verstopften Straßen, Fußgänger rempelten sie an und bedachten sie mit einem angewiderten Blick, als hätten dicke Kinder ihre Gefühle wie Zuckerguss über einen Kuchen verteilt und verschluckt.

Sie ging dennoch weiter, ihre Füße waren inzwischen eiskalt. Sie hatte das Haus ohne richtige Winterstiefel verlassen, und als ihr Vater eine vorsichtige Andeutung gemacht hatte, ob sie nicht etwas Wärmeres anziehen wollte, hatte sie ihn einfach nicht beachtet.

So wie ihn ihre Mutter einfach nicht beachtete. Wie ihn die Welt nicht beachtete.

Vor Monde de la musique blieb sie unvermittelt stehen. Da hing ein Poster von Britney Spears, auf dem sie über einen heißen, exotischen Strand tanzte, fröhliche Backgroundsängerinnen wirbelten glücklich lachend um sie herum.

Crie stand lange vor dem Schaufenster, sie spürte weder Füße noch Hände. Sie spürte überhaupt nichts mehr.

»Wie bitte?«, sagte Clara.

»Scheiß auf den Papst«, wiederholte Kaye klar und deutlich. Mother Bea tat so, als habe sie es nicht gehört, und Emilie trat ein wenig näher an ihre Freundin heran, so als wolle sie sich bereithalten, falls Kaye zusammenbrechen sollte.

»Ich bin zweiundneunzig, und ich weiß alles«, sagte Kaye. »Bis auf eines.«

Erneut sagte keiner etwas. Aber an die Stelle des peinlichen Schweigens war Neugier getreten. Kaye, die normalerweise wortkarg und kurz angebunden war, hatte ihre Stimme erhoben. Die Freunde scharten sich um sie.

»Mein Vater gehörte im Ersten Weltkrieg dem Expeditionskorps an.« Was für eine Geschichte sie auch immer erwartet hatten, sicher nicht etwas dieser Art. Sie sprach leise, das Gesicht entspannt, ihr Blick wanderte umher, bis er auf den Büchern in einem der Regale zu ruhen kam. Kaye reiste durch die Zeit, etwas, das Mother Bea ihrer eigenen Aussage nach während des yogischen Fliegens machte, aber zu dieser Meisterschaft hatte sie es nie gebracht.

»Sie hatten eine Einheit gebildet, die sich nur aus Katholiken zusammensetzte, die meisten irischer Abstammung wie Daddy und natürlich Québecer. Er hat nie über den Krieg gesprochen. Keiner hat das getan. Und ich habe nie gefragt. Stellt euch das mal vor. Vielleicht wollte er ja, dass ich ihn frage?« Kaye sah zu Em, die schwieg. »Nur eines hat er uns vom Krieg erzählt.« Jetzt hielt sie inne. Sie sah sich um, ihr Blick fiel auf ihre flauschige Strickmütze. Sie nahm sie und setzte sie auf, dann sah sie erwartungsvoll zu Em. Alle hielten die Luft an.

»Um Himmels willen, Weib, nun rück schon raus damit«, knurrte Ruth.

»Ach ja.« Kaye schien sich erst jetzt ihrer selbst bewusst zu werden. »Daddy. An der Somme. Geführt von General Rawlinson. Ein unglaublicher Dummkopf. So viel habe ich nachgelesen. Mein Vater steckte bis zum Hals im Matsch und in der Scheiße, Pferde- und Menschenscheiße. Das Essen war von Maden befallen. Seine Haut verfaulte ihm am lebendigen Leib. Haare und Zähne fielen ihm aus. Sie hatten schon lange aufgehört, für den König und das Vaterland zu kämpfen, sie kämpften nur noch füreinander. Er liebte seine Freunde.«

Kaye blickte zu Em, dann zu Mother.

»Die Jungs nahmen Aufstellung und pflanzten auf den Befehl hin ihre Bajonette auf.«

Alle beugten sich noch weiter vor.

»Der letzte Trupp war eine Minute vorher losgestürmt, sie waren allesamt niedergemäht worden. Sie konnten die Schreie hören und die sich windenden zerfetzten Körper sehen, die in den Schützengraben gestürzt waren. Jetzt waren sie an der Reihe, mein Vater und seine Freunde. Sie warteten auf den Befehl. Er wusste, dass er sterben würde. Er wusste, dass er nur noch ein paar Minuten zu leben hätte. Er wusste, dass er nur noch ein paar Worte sagen konnte. Und wisst ihr, was die Jungs riefen, als sie losstürmten?«

Die Welt hatte aufgehört, sich zu drehen, und wartete gespannt.

»Sie bekreuzigten sich und riefen: ›Scheiß auf den Papst.‹«

Die Freunde zuckten alle gleichzeitig zusammen, als hätten die Worte, das Bild sie getroffen. Kaye wandte sich zu Clara und sah sie aus ihren wässrigen blauen Augen prüfend an. »Warum?«

Clara fragte sich, wie Kaye auf die Idee kam, dass sie das wusste. Sie wusste es nicht. Sie war klug genug, nichts zu sagen. Kaye ließ ihren Kopf sinken, als wäre er plötzlich zu schwer, ihr schmaler Nacken bildete eine tiefe Furche in ihrem Schädel.

»Wir sollten gehen, meine Liebe. Du musst müde sein.« Em legte ihre schmale Hand auf Kayes Arm, und Mother Bea nahm den anderen, die drei alten Frauen gingen langsam aus der Buchhandlung. Heim nach Three Pines.

»Das gilt auch für uns. Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?«, fragte Myrna Ruth.

»Nein, ich bleibe bis zum bitteren Ende hier. Ihr Ratten müsst kein schlechtes Gewissen haben. Lasst mich einfach zurück.«

»Die heilige Ruth unter den Heiden«, sagte Gabri.

»Unsere Königin unter den Dichterfürsten«, sagte Olivier. »Wir bleiben bei dir.«

»Da war mal ’ne Frau namens Ruth«, sagte Gabri.

»Die verlor niemals den Mut«, sagte Olivier.

»Komm, lass uns gehen.« Myrna zog Clara weg, auch wenn Clara gerne gewusst hätte, welchen Reim auf Mut sie gefunden hätten. Skorbut? Mahut? Nein, ein richtiges Wort wäre besser. Dichten war schwerer, als es aussah.

»Ich muss nur noch eine Kleinigkeit erledigen«, sagte Clara. »Es dauert bloß eine Minute.«

»Dann hole ich das Auto, wir treffen uns draußen.« Myrna eilte davon. Clara ging in die kleine Brasserie von Ogilvy’s und kaufte ein Sandwich und ein paar Weihnachtsplätzchen. Dann nahm sie noch einen großen Kaffee mit und machte sich auf den Weg zur Rolltreppe.

Sie hatte Schuldgefühle wegen des Obdachlosen, über den sie hinweggestiegen war, als sie in das Kaufhaus gegangen war. Sie hegte insgeheim den Verdacht, wenn Gott jemals auf die Erde kommen sollte, dann in Gestalt eines Bettlers. Und wenn er das nun gewesen war? Oder sie? Egal. Wenn es Gott war, hatte Clara das tiefe, fast spirituelle Gefühl, dass sie es verdorben hatte. Als sich Clara zu den vielen Leuten auf der Rolltreppe gesellte, entdeckte sie ein bekanntes Gesicht, das ihr entgegenkam. CC de Poitiers. CC hatte sie auch gesehen, davon war sie überzeugt.

CC de Poitiers umklammerte den Handlauf der Rolltreppe und starrte die Frau an, die gerade im Untergeschoss die Rolltreppe betrat. Clara Morrow. Diese blasierte, ewig lächelnde, selbstgerechte Dorfschnepfe. Die stets von ihren Freunden umringt war, immer in Begleitung dieses gutaussehenden Ehemanns, mit dem sie angab, als wäre es mehr als eine Grille der Natur, dass sie sich einen der Montréaler Morrows geschnappt hatte. CC spürte, wie Wut in ihr aufstieg, als Clara sich mit großen, glücklich strahlenden Augen näherte.

CCs Griff verstärkte sich, sie konnte sich gerade noch davon abhalten, sich über die glatte Metallwand hinweg auf Clara zu stürzen. Sie ballte ihre ganze Wut zusammen und machte ein Geschoss daraus; wäre ihre Brust eine Kanone gewesen, dann hätte sie wie Ahab ihr Herz als Kanonenkugel auf Clara abgefeuert.

Stattdessen tat sie das Nächstbeste.

Sie drehte sich zu dem Mann neben ihr und sagte: »Schade, dass du Claras Arbeiten für die banalen Werke einer Amateurin hältst, Denis. Du glaubst also, dass sie nur ihre Zeit verschwendet?«

Als Clara an ihr vorbeifuhr, hatte CC die Befriedigung, ihr selbstgefälliges, arrogantes, hässliches kleines Gesicht in sich zusammenfallen zu sehen. Volltreffer. CC bedachte den verdutzten Fremden neben ihr mit einem Lächeln, es war ihr völlig egal, ob er sie für nicht mehr ganz dicht hielt.

Wie im Traum verließ Clara die Rolltreppe. Der Boden schien sehr weit unten zu sein, die Wände wichen zurück. Atme. Atme, befahl sie sich, von der Angst befallen, dass sie tatsächlich sterben könnte. Von Worten getötet. Von CC getötet. Ganz beiläufig, grausam. Sie hatte in dem Mann neben CC Fortin nicht erkannt, aber sie kannte ihn ja auch nur von Fotos.

Die banalen Werke einer Amateurin.

Dann setzten der Schmerz und die Tränen ein, und sie stand mitten im Ogilvy’s, seit ihrer Kindheit ein Ort der Sehnsucht für sie, und weinte. Schluchzend ließ sie ihre kostbaren Geschenke auf den Marmorboden sinken, sie legte das Sandwich, die Plätzchen und den Kaffee vorsichtig ab, wie ein Kind, das dem Weihnachtsmann etwas zu essen gibt. Dann sank sie selbst auf die Knie und empfing ihre letzte Gabe, ein Bündel Schmerzen.

Die banalen Werke einer Amateurin. All ihre Zweifel, ihre Ängste waren begründet. Die Stimme, die ihr nachts ins Ohr flüsterte, während Peter schlief, hatte nicht gelogen.

Ihre Arbeiten waren Mist.

Einkäufer strömten um sie herum, keiner kam ihr zu Hilfe. So wie sie dem Obdachlosen draußen nicht geholfen hatte, wurde Clara auf einmal klar. Langsam sammelte sie ihre Pakete ein, erhob sich und schleppte sich durch die Drehtür.

Es war dunkel und kalt, der Wind und der Schneefall hatten zugenommen und trafen sie völlig unvorbereitet. Clara blieb stehen, damit sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten.

Da, unter dem Schaufenster, auf dem Boden zusammengekauert, saß der Bettler.

Sie trat näher, sah, dass das Erbrochene nicht mehr dampfte, sondern schon gefroren war. Als Clara näher kam, sah sie, dass es eine alte Frau war. Sie konnte ein paar dünne Strähnen stahlgrauer Haare sehen, magere Arme hielten die verdreckte Decke über den Knien fest. Clara beugte sich nach unten und nahm einen kurzen Moment den Gestank wahr. Es reichte, dass sie würgen musste. Instinktiv wich sie zurück, dann beugte sie sich wieder vor. Sie stellte die schweren Tüten auf den Boden, dann legte sie das Essen neben die Frau.

»Ich habe Ihnen etwas zu essen gebracht«, sagte sie zuerst auf Englisch, dann auf Französisch. Sie schob die Tüte mit dem Sandwich näher heran und hielt den Kaffee in die Höhe, in der Hoffnung, die Pennerin würde ihn sehen.

Sie rührte sich nicht. Clara fing an, sich Sorgen zu machen. Lebte sie überhaupt noch? Clara streckte ihre Hand aus und hob das verschmierte Kinn in die Höhe.

»Geht es Ihnen gut?«

Ein Handschuh schoss hervor, schwarz, schmutzstarr, und schloss sich um Claras Handgelenk. Der Kopf hob sich. Müde, wässrige Augen sahen Clara an und hielten ihren Blick fest.

»Ich habe deine Bilder immer sehr gemocht, Clara.«

Tief eingeschneit

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