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Nein. Die Gestalt auf der Halloween-Party war verstörend, aber erst am nächsten Morgen, als er aus dem Schlafzimmerfenster in den feuchten Novembertag hinaussah, begann Gamache zu denken, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.

»Ist da etwas, Armand?«, fragte Reine-Marie, die aus der Dusche kam und zu ihm trat.

Ihre Augenbrauen senkten sich, als sie aus dem Fenster sah. »Was tut er da?«, fragte sie leise.

Alle anderen waren nach Hause, ins Bett gegangen, nur die Gestalt in dem dunklen Umhang nicht. Sie war zurückgeblieben. Dort geblieben. Und war immer noch dort. Stand auf dem Dorfanger in ihrem Wollumhang. Und der Kapuze. Starrte geradeaus.

Gamache konnte es aus dem Winkel nicht sehen, aber er vermutete, dass die Gestalt auch immer noch die Maske trug.

»Ich weiß es nicht«, sagte Armand.

Es war Samstagmorgen, und er trug bequeme Sachen. Cordhose und Hemd und einen dicken Herbstpullover. Es war Anfang November, und das Wetter ließ sie es nicht vergessen.

Nach dem strahlenden Oktober mit seinen bunten Blättern war der Morgen, wie so oft im November, grau und trüb heraufgedämmert.

November war der Übergangsmonat. Eine Art Purgatorium. Es war der feuchte, kalte Atem zwischen Sterben und Tod. Zwischen Herbst und Winterstarre.

Keiner mochte den November.

Gamache zog seine Gummistiefel an und ging hinaus, Henri, den deutschen Schäferhund, und die kleine Gracie ließ er zurück, und sie sahen ihm verwundert nach. Sie waren es nicht gewohnt, zurückgelassen zu werden.

Es war kühler, als er erwartet hatte. Kühler als am Abend zuvor.

Noch bevor er den Dorfanger erreicht hatte, waren seine Hände eiskalt, und er bereute es, Handschuhe und Mütze nicht mitgenommen zu haben.

Gamache stellte sich vor die dunkle Gestalt.

Sie trug die Maske. Nichts außer den Augen war zu sehen. Und selbst die waren von einer Art Schleier verdeckt.

»Wer sind Sie?«, fragte er.

Seine Stimme war ruhig, beinahe freundlich. Als wäre dies nur eine höfliche Unterhaltung. Eine völlig normale Situation.

Kein Grund, feindselig zu sein. Das konnte er später immer noch werden, falls es sein musste.

Aber die Gestalt blieb still. Nicht, dass sie still stand, sie war ja nicht aus Holz. Sie wirkte selbstsicher, fast gebieterisch. So, als würde nicht nur sie an diesen Platz gehören, sondern als gehörte er ihr.

Wobei Gamache vermutete, dass dieser Eindruck eher von der Robe und dem Schweigen herrührte als von dem Menschen dahinter.

Es überraschte ihn immer wieder, wie viel wirkungsvoller Schweigen gegenüber Worten war. Wenn man jemanden aus der Fassung bringen wollte. Aber er selbst konnte sich den Luxus des Schweigens nicht leisten.

»Warum sind Sie hier?«, fragte Gamache. Zuerst auf Französisch, dann auf Englisch.

Dann wartete er. Zehn Sekunden. Zwanzig. Fünfundvierzig Sekunden.

Im Bistro blickten Myrna und Gabri durch das Bleiglasfenster.

Zwei Männer, die sich anstarrten.

»Gut«, sagte Gabri. »Armand wird ihn verscheuchen.«

»Wer ist das?«, fragte Myrna. »Er war gestern Abend auf der Party.«

»Stimmt, aber ich habe keine Ahnung, wer er ist. Olivier auch nicht.«

»Fertig?«, fragte Anton, der Spüler und Frühstückskellner.

Er griff nach Myrnas Teller, auf dem nur noch Krümel lagen. Doch dann hielt seine Hand inne. Und er starrte wie die anderen beiden aus dem Fenster.

Myrna blickte zu ihm hoch. Er war ziemlich neu hier, hatte sich jedoch schnell eingewöhnt. Olivier hatte ihn zum Spülen und Kellnern eingestellt, aber Anton hatte nicht damit hinterm Berg gehalten, dass er gerne den Posten des Küchenchefs haben würde.

»Es gibt nur einen Koch«, hatte Anton eines Tages Myrna anvertraut, als er in ihrem Laden nach alten Kochbüchern suchte. »Aber bei Olivier hört es sich an, als hätte er eine ganze Kompanie.«

Myrna lachte. Das sah Olivier ähnlich. Immer versuchte er, Eindruck zu schinden, selbst bei Leuten, die ihn dafür zu gut kannten.

»Haben Sie eine bestimmte Spezialität?«, fragte sie, als sie den Betrag in ihre alte Registrierkasse tippte.

»Ich mag die kanadische Küche.«

Sie sah ihn an. Er musste Mitte dreißig sein. Zu alt jedenfalls und zu ehrgeizig für einen Job als Hilfskellner. Er klang gebildet und machte etwas her. Schlank und sportlich. Die dunkelbraunen Haare waren an den Seiten kurz geschnitten und oben länger, sodass sie ihm in die Stirn fielen und ihn jungenhafter aussehen ließen, als er war.

Jedenfalls sah er gut aus. Und war ein ehrgeiziger Koch.

Wenn sie zwanzig Jahre jünger wäre …

Träumen durfte man ja wohl noch. Und sie tat es.

»Kanadische Küche. Was ist das?«

»Eben«, hatte Anton lächelnd gesagt. »Das weiß keiner genau. Ich würde sagen, es umfasst das, was das Land hergibt. Und die Flüsse. Die Natur hier ist verschwenderisch. Und ich bin ein Jäger und Sammler.«

Das sagte er mit einem anzüglichen Blick, so wie ein Voyeur vielleicht sagen würde: »Ich schaue anderen gerne dabei zu.«

Myrna hatte gelacht, war errötet und hatte einen Dollar für beide Kochbücher verlangt.

Jetzt starrte Anton, über ihren Tisch gebeugt, aus dem Fenster.

»Was ist das?«, fragte er flüsternd.

»Waren Sie gestern Abend nicht auch im Bistro?«, fragte Gabri.

»Doch, aber ich war die ganze Zeit in der Küche. Ich bin nicht rausgekommen.«

Myrna sah von dem Ding auf dem Dorfanger zu dem jungen Mann. Eine Party direkt hinter den Schwingtüren, und er hatte Geschirr spülen müssen. Wie in einem viktorianischen Melodram.

Er schien ihre Gedanken zu erraten und sah sie mit einem Lächeln an.

»Ich hätte rauskommen können, aber ich bin kein Partytyp. Lieber bin ich in der Küche.«

Myrna nickte. Sie verstand. Jeder hatte einen Ort, wusste sie, an dem er sich nicht nur am wohlsten, sondern auch am kompetentesten fühlte. Für sie war es ihr Buchladen. Für Olivier das Bistro. Für Clara das Atelier.

Für Sarah die Bäckerei. Und für Anton eben die Küche.

Aber manchmal war dieses Gefühl auch trügerisch. Der Ort wirkte zwar wie eine Zuflucht, war in Wirklichkeit aber ein Gefängnis.

»Was sagt er?«, fragte Anton, setzte sich und deutete auf Gamache und die Gestalt in der Robe.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Armand. »Suchen Sie vielleicht jemanden?«

Er bekam keine Antwort. Die Gestalt rührte sich nicht. Aber er sah Atemwölkchen an der Stelle, an der ihr Mund sein musste.

Ein Lebenszeichen.

Der Atem kam regelmäßig. Wurde ausgestoßen wie die lange, stetige Dampfwolke eines fahrenden Zuges.

»Ich heiße Gamache. Armand Gamache.« Er machte eine kurze Pause. »Ich bin der Leiter der Sûreté du Québec.«

Bewegten sich die Augen leicht? Hatte der Mann ihn angesehen und dann den Blick gleich wieder abgewandt?

»Es ist kalt«, sagte Armand und rieb seine eisigen Hände aneinander. »Lassen Sie uns reingehen. Wir könnten einen Kaffee trinken und dazu vielleicht Rührei mit Speck essen. Ich wohne gleich da drüben.«

Er deutete auf sein Haus. Er fragte sich, ob es klug war, ihm zu zeigen, wo er wohnte. Aber dann dachte er, dass er das wahrscheinlich schon wusste. Armand war gerade von dort gekommen. Es war wohl kaum ein Geheimnis.

Er wartete, dass die Gestalt sich zu seiner Einladung äußerte, und überlegte einen Moment, was Reine-Marie wohl davon halten würde, wenn er seinen neuen Freund mit nach Hause brächte.

Als die Antwort ausblieb, streckte Armand die Hand nach dem Arm der Gestalt aus, um sie mit sanfter Gewalt zu überreden.

Im Bistro waren alle Gespräche versiegt, das Frühstücksgeschäft kam zum Erliegen.

Alle, die Gäste und die Bedienung, sahen zu den beiden Männern auf dem Dorfanger.

»Er zieht ihn weg«, sagte Olivier, der zu ihnen trat.

Anton wollte sich erheben, aber Olivier winkte ab. Kein Grund zur Eile, jetzt, wo alles stillstand.

Sie sahen zu, wie Armand die Hand sinken ließ, ohne den Mann anzufassen.

Armand Gamache stand jetzt selbst völlig reglos da. Während die Gestalt zum Bistro, zum Buchladen, zur Bäckerei und zu Monsieur Béliveaus Gemischtwarenladen hinüberstarrte, starrte Gamache sie an.

»Seien Sie vorsichtig«, flüsterte er schließlich.

Und dann drehte er sich um und ging zurück nach Hause.

Nachmittags stand die verhüllte Gestalt immer noch da.

Armand und Reine-Marie gingen auf dem Weg zu Claras Haus auf der anderen Seite des Dorfangers an ihr vorbei.

Den Mann umgab ein unsichtbarer Graben. Nach und nach hatten sich die Dorfbewohner hinausgewagt und gingen ihren Geschäften nach. Aber um ihn hatte sich ein großer Kreis gebildet, den niemand betrat.

Auf der Wiese spielten keine Kinder, und die Leute gingen schneller als sonst und mit gesenktem Blick.

Der angeleinte Henri gab ein leises Knurren von sich und wechselte auf die andere Seite von Gamache. Sein Fell war gesträubt, und die riesigen Ohren waren nach vorne gerichtet, dann legte er sie wieder an seinen großen und, man musste es leider sagen, etwas hohlen Kopf an.

Alles Wichtige bewahrte Henri in seinem Herzen auf. Im Kopf hatte er vor allem Kekse. Aber er war klug genug, um in sicherer Entfernung zu der Gestalt zu bleiben.

Auch Gracie, die zusammen mit ihrem Bruder Leo vor einigen Monaten in einem Abfalleimer entdeckt worden war, war angeleint.

Wie gebannt blickte sie auf die Gestalt und weigerte sich, sich auch nur einen Zentimeter weiterzubewegen. Reine-Marie musste sie auf den Arm nehmen.

»Sollen wir etwas sagen?«, fragte Reine-Marie.

»Besser, wir kümmern uns nicht um ihn«, sagte Armand. »Vielleicht sucht er gerade die Aufmerksamkeit. Wenn wir ihn nicht beachten, geht er vielleicht weg.«

Das war aber vermutlich nicht der Grund, warum Armand ihn ignorieren wollte, dachte Reine-Marie. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass sie sich der Gestalt näherte. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie das auch nicht.

Im Laufe des Vormittags war sie automatisch immer wieder ans Fenster getreten. In der Hoffnung, dass die Gestalt weg war. Aber sie stand weiter auf dem Dorfanger. Regungslos. Durch nichts zu bewegen.

Ohne dass Reine-Marie hätte sagen können, wann das passiert war, war er ab irgendeinem Zeitpunkt für sie kein »er« mehr. Die Gestalt verlor jede Menschlichkeit. Sie war zu einem »es« geworden. Kein Mensch mehr.

»Kommt rein«, sagte Clara. »Unser Besucher ist immer noch da, wie ich sehe.«

Sie bemühte sich, gelassen zu klingen, aber ihre Anspannung war deutlich zu spüren. Ihnen ging es nicht anders.

»Hast du eine Ahnung, wer das ist, Armand?«

»Nein, leider nicht. Ich glaube allerdings nicht, dass er noch lange bleibt. Wahrscheinlich ist es ein Scherz.«

»Wahrscheinlich.« Sie wandte sich an Reine-Marie. »Ich habe die neuen Kisten neben den Kamin im Wohnzimmer gestellt. Ich dachte, wir könnten sie dort durchgehen.«

»Neu« traf es nicht ganz.

Clara half Reine-Marie bei der, wie es langsam aussah, unendlichen Aufgabe, das sogenannte Archiv des Geschichtsvereins durchzusehen. Es bestand im Grunde nur aus Kisten und noch mehr Kisten mit Fotografien, Dokumenten, Kleidern. Seit über hundert Jahren von Speichern und aus Kellern zusammengesammelt. Auf Flohmärkten und aus Kirchenkellern gerettet.

Reine-Marie hatte angeboten, die Sachen durchzusehen. Es war eine mühselige Suche nach Trouvaillen unter einem Haufen Trödel. Aber es machte ihr Spaß. Reine-Marie war Leitende Bibliothekarin und Archivarin in der Bibliothèque et Archives nationales du Québec gewesen und hatte, wie ihr Mann, eine Leidenschaft für Geschichte. Besonders die von Québec.

»Iss doch mit uns zu Mittag, Armand«, sagte Clara. In der Küche roch es nach Suppe. »Ich habe ein Baguette aus der Bäckerei besorgt.«

»Non, merci. Ich war gerade auf dem Weg ins Bistro.« Er hielt ein Buch in die Höhe. Sein Samstagsnachmittagsritual. Mittagessen, ein Bier und ein Buch vor dem Kamin im Bistro.

»Keins von Jacqueline«, sagte Reine-Marie und deutete auf das Baguette.

»Nein. Es ist von Sarah. Darauf habe ich geachtet. Aber ich habe ein paar von Jacquelines Brownies mitgebracht. Ist das wichtig?«, fragte Clara und schnitt das knusprige Baguette in Scheiben. »Dass ein Bäcker weiß, wie man Baguette backt?«

»Hier?«, fragte Reine-Marie. »Alles entscheidend.«

»Ja«, sagte Clara. »Glaube ich auch. Die arme Sarah. Sie will die Bäckerei an Jacqueline übergeben, aber ich weiß nicht …«

»Nun, vielleicht sind Brownies genug«, sagte Armand. »Ich schätze, ich könnte mich daran gewöhnen, Brownies mit Brie zu belegen.«

Clara stöhnte auf, dann überlegte sie kurz. Vielleicht …

»Jacqueline ist erst seit ein paar Monaten hier«, erklärte Reine-Marie. »Sie kann es ja noch lernen.«

»Sarah sagt, dass man das mit dem Baguette entweder raushat oder nicht«, sagte Clara. »Scheint mit der Art des Knetens und der Temperatur der Hände zu tun zu haben.«

»Warm oder kalt?«, fragte Armand.

»Das weiß ich nicht«, sagte Clara. »So viel wollte ich sowieso nicht wissen. Ich will lieber glauben, dass Baguettes Magie sind, nicht irgendwas Angeborenes.« Sie legte das Brotmesser hin. »Die Suppe ist fast fertig. Wollt ihr mein neuestes Bild sehen, während ich sie aufwärme?«

Es sah Clara nicht ähnlich, von sich aus anzubieten, eines ihrer Bilder zu zeigen, besonders wenn es noch in Arbeit war. Wenigstens hofften Armand und Reine-Marie, dass es das noch war, als sie zögernd durch die Küche ins Atelier gingen.

Früher hätten sie das seltene Angebot, eines von Claras erstaunlichen Porträts zu betrachten, begeistert ergriffen. Aber vor kurzem war deutlich geworden, dass Claras Vorstellung von einem »fertigen« Bild sich von der aller anderen unterschied.

Armand fragte sich, was Clara sah und sie nicht.

Im Atelier war es dämmrig, die Fenster ließen nur Nordlicht herein, und an einem bewölkten Novembertag war das herzlich wenig.

»Die sind fertig«, sagte sie und deutete im Dunkeln auf die Leinwände, die an einer Wand lehnten. Sie schaltete das Licht an.

Reine-Marie konnte es sich gerade noch verkneifen, zu fragen: »Bist du sicher?«

Einige der Porträts sahen fast fertig aus, aber die Haare waren nur mit Bleistift skizziert. Die Hände hingeworfene Flecken, Kleckse.

Die meisten Porträtierten waren erkennbar. Myrna. Olivier.

Armand trat zu Sarah, der Bäckerin, die an der Wand lehnte.

Dieses Bild war am weitesten gediehen. Aus dem faltigen Gesicht sprach Hilfsbereitschaft, wie sie Armand an ihr kannte. Eine fast spröde Würde. Und doch hatte Clara es geschafft, die Verletzlichkeit der Bäckerin einzufangen. So, als würde sie befürchten, der Betrachter erwarte etwas von ihr, das sie nicht bieten konnte.

Ja, das Gesicht, die Hände, die Haltung, alles bis ins Detail ausgearbeitet. Und trotzdem. Der Kittel war nur grob umrissen. So, als hätte Clara die Lust verloren.

Gracie und ihr Bruder Leo balgten sich auf dem Betonboden, und Reine-Marie beugte sich hinunter und kraulte sie.

»Was ist das?« Beim Klang der mürrischen Stimme zuckten alle zusammen.

Da stand Ruth mit Rosa auf dem Arm und deutete mit ausgestrecktem Zeigefinger ins Atelier.

»Himmel, das ist ja fürchterlich«, sagte die alte Dichterin. »Was für ein Murks. Hässlich wäre noch eine wohlmeinende Beschreibung.«

»Ruth«, sagte Reine-Marie. »Gerade du solltest wissen, dass Schöpfung ein Prozess ist.«

»Und nicht immer ein erfolgreicher. Aber jetzt sagt endlich. Was ist das?«

»Das ist Kunst«, sagte Armand. »Und es muss dir nicht gefallen.«

»Kunz? Wirklich?« Sie beugte sich vor und sagte: »Komm her, Kunz. Na, komm schon.«

Sie sahen sich an. Selbst für die demente Ruth war das merkwürdig.

Und dann fing Clara an zu lachen. »Sie meint Gracie.«

Sie deutete auf den kleinen Welpen, der mit Leo über den Boden kugelte.

Sie waren zwar zusammen in einer Mülltonne gefunden worden, aber Claras Leo entwickelte sich langsam zu einem Bild von Hund. Schlanker Wuchs und kurzes goldenes Fell, das am Hals ein wenig länger war. Leo war groß und noch etwas schlaksig, aber schon jetzt hoheitsvoll.

Das konnte man von Gracie nicht behaupten. Sie war ein Kümmerling, wenn man es nicht beschönigen wollte. Vielleicht war sie nicht einmal ein Hund.

Das hatte keiner sagen können, als Reine-Marie sie vor einigen Monaten mit nach Hause gebracht hatte. Und die Zeit hatte nicht geholfen.

Bis auf vereinzelte verschiedenfarbige Fellbüschel war sie unbehaart. Ein Ohr war keck in die Höhe gereckt, das andere hing schlaff herunter. Ihr Kopf schien täglich weiterzuwachsen, der Rest nur einen Hauch. Manchmal hatte Reine-Marie den Eindruck, als sei Gracie geschrumpft.

Aber sie hatte leuchtende Augen. Und sie schien zu wissen, dass sie vor einem schlimmen Schicksal bewahrt worden war. Ihre Liebe zu Reine-Marie war grenzenlos.

»Komm her, Kunz«, versuchte Ruth es erneut, dann richtete sie sich auf. »Nicht nur hässlich, auch noch doof. Kennt nicht mal seinen Namen.«

»Gracie«, sagte Armand. »Sie heißt Gracie.«

»Ja verflixt noch mal, warum sagst du dann, sie heißt Kunz?« Sie sah ihn an, als hätte er eine Schraube locker.

Sie kehrten in die Küche zurück, wo Clara die Suppe umrührte. Armand küsste Reine-Marie und ging zur Tür.

»Nicht so schnell, Tintin«, sagte Ruth. »Du hast uns gar nichts über dieses Ding mitten in unserem Dorf erzählt. Ich hab gesehen, wie du mit ihm gesprochen hast. Was hat er gesagt?«

»Nichts.«

»Nichts?«

Für Ruth war die Vorstellung, nichts zu sagen, völlig abwegig.

»Aber warum ist er noch da?«, fragte Clara, die auf einmal nicht mehr so tat, als interessierte es sie nicht. »Was will er? Hat er die ganze Nacht da gestanden? Kannst du nichts unternehmen?«

»Warum ist der Himmel blau?«, fragte Ruth. »Kommt die Pizza tatsächlich aus Italien? Hast du jemals Kreide gefressen?«

Sie sahen sie an.

»Das sind doch alles dumme Fragen. Nebenbei bemerkt, die Antworten auf deine Fragen lauten, weiß nicht, weiß nicht, und Edmonton.«

»Der Typ trägt eine Maske«, sagte Clara zu Armand, ohne Ruth Beachtung zu schenken. »Da stimmt was nicht. Mit dem stimmt was nicht. Im Kopf.«

Sie tippte sich an die Stirn.

»Ich kann nichts tun«, sagte er. »Es verstößt in Québec nicht gegen das Gesetz, sich das Gesicht zu bedecken.«

»Aber er trägt doch keine Burka«, sagte Clara.

»Herrgott«, sagte Ruth. »Wo ist das Problem? Hast du Phantom der Oper nicht gesehen? Er könnte jeden Moment zu singen anfangen, und dann haben wir hier die allerbesten Plätze.«

»Du nimmst das nicht ernst«, sagte Clara.

»Doch. Ich hab nur keine Angst. Wobei mir Ignoranz Angst macht.«

»Wie bitte?«, fragte Clara.

»Ignoranz«, wiederholte Ruth, die den drohenden Unterton in Claras Stimme entweder nicht gehört hatte oder nicht hören wollte. »Alles, was anders ist, alles, was du nicht verstehst, hältst du sofort für eine Bedrohung.«

»Aber du bist ein Musterbeispiel an Toleranz, was?«, fragte Clara.

»Komm schon«, sagte Ruth. »Es gibt einen Unterschied zwischen gruselig und bedrohlich. Gut, es mag ja sein, dass er Angst macht. Aber getan hat er nichts. Und wenn er das wollte, dann wäre es wahrscheinlich schon geschehen.«

Ruth wandte sich beifallheischend an Gamache, aber der reagierte nicht.

»Da zieht einer aus Jux ein Halloween-Kostüm an«, fuhr sie fort. »Mitten am Tag, und du kriegst Angst. Pah. Du wärst eine große Nummer in Salem gewesen.«

»Von allen hier bist du ihm am nächsten gekommen«, sagte Reine-Marie zu ihrem Mann. »Was ist es deiner Meinung nach?«

Er blickte auf die Hunde auf dem Boden, Gracie an Henri geschmiegt, der leise murmelnd schnarchte. Mehr als einmal hatte Armand Henri beneidet. Bis Henris Trockenfutter neben seine Wasserschüssel gestellt wurde. Da war der Neid schlagartig verflogen.

»Es geht nicht um das, was ich denke«, sagte er. »Ich bin sicher, dass er bald wieder fort ist.«

»Zier dich doch nicht so«, sagte Clara, und ihr Lächeln milderte ihren genervten Ton nur wenig. »Ich hab dir meins gezeigt« – sie deutete auf das Atelier – »jetzt musst du mir deins zeigen.«

»Es ist nur ein Eindruck«, sagte er. »Bedeutungslos. Ich habe keine konkrete Vorstellung davon, wer oder was er ist.«

»Armand«, sagte Clara warnend.

Und er ergab sich.

»Der Tod«, sagte er und sah zu Reine-Marie. »Das habe ich gedacht.«

»Der Sensenmann?«, fragte Ruth mit einem Schnauben. »Hat er mit einem krummen Finger auf dich gedeutet?«

Sie hob ihren knochigen Finger und deutete damit auf Armand.

»Ich habe nicht gesagt, dass er tatsächlich der Tod ist«, sagte er. »Aber ich glaube, derjenige, der in dem Kostüm steckt, will, dass wir diese Assoziation haben. Er will, dass wir Angst bekommen.«

»Ach tatsächlich«, sagte Clara.

»Tja, da seid ihr nur leider auf dem falschen Dampfer«, sagte Ruth. »Der Tod sieht nämlich anders aus.«

»Woher willst du denn das wissen?«, fragte Clara.

»Weil wir alte Freunde sind. Er besucht mich fast jede Nacht. Wir sitzen in der Küche und plaudern. Er heißt Michael.«

»Der Erzengel?«, fragte Reine-Marie.

»Ja. Alle halten den Tod für eine Schreckgestalt, aber in der Bibel ist es Michael, der die Sterbenden aufsucht und ihnen in ihrer letzten Stunde beisteht. Er ist schön und hat die Flügel auf dem Rücken zusammengefaltet, damit er nicht versehentlich die Möbel umwirft.«

»Habe ich richtig gehört? Der Erzengel Michael besucht dich?«, fragte Reine-Marie.

»Habe ich richtig gehört?«, sagte Clara. »Du liest die Bibel?«

»Ich lese alles«, sagte Ruth zu Clara, dann wandte sie sich Reine-Marie zu. »Ja, das tut er. Aber er bleibt nicht lange. Er hat viel um die Ohren. Er schaut nur auf einen Drink vorbei und tratscht über die anderen Engel. Raphael ist ein richtiger Mistkerl, kann ich dir sagen. Ein gemeiner alter Fiesling.«

Einem von ihnen entkam ein Hmmm.

»Und was erzählst du ihm?«, fragte Armand.

»Armand«, sagte Reine-Marie warnend, damit er die alte Frau nicht weiter anstachelte. Aber das wollte er gar nicht. Er war tatsächlich neugierig.

»Ich erzähle ihm alles über euch. Zeig ihm eure Häuser und mache ein paar Vorschläge. Manchmal lese ich ihm ein Gedicht vor: Aus der öffentlichen Schule in die private Hölle / Des Familientheaters«, zitierte sie und hob das Gesicht zur Decke, versuchte, sich an den Rest zu erinnern. »Wohin soll ein Junge auf seinem Rad fahren / Wenn die gerade Straße abbiegt?«

Einen Moment lang starrten die anderen sie an, lauschten den Worten nach, die sie zum Schweigen gebracht hatten.

»Ist das von dir?«, fragte Clara.

Ruth nickte und lächelte. »Ich weiß, dass es noch nicht fertig ist. Ehrlich gesagt, ist Michael nicht besonders hilfreich. Er mag Limericks lieber.«

Armand musste unwillkürlich lachen.

»Und vor der Morgendämmerung verschwindet er wieder«, sagte Ruth.

»Und lässt dich zurück?«, fragte Clara. »Das ist nicht nett.«

»Pass auf, was du sagst«, murmelte Reine-Marie.

»Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Nicht annähernd. Er ist gerne bei mir, weil ich keine Angst habe.«

»Wir haben alle vor etwas Angst«, sagte Armand.

»Ich meinte, dass ich vor dem Tod keine Angst habe«, sagte Ruth.

»Vielleicht hat ja der Tod Angst vor ihr«, sagte Clara.

»Ich hätte gerne zwei davon«, sagte Katie Evans und deutete auf die Brownies. Verziert mit geschmolzenen Marshmallows.

Sie erinnerten sie an früher.

»Und Sie, Madame?«

Jacqueline wandte sich an die andere Frau. Lea Roux.

Sie erkannte sie, aber das war nichts Ungewöhnliches. Roux war Mitglied der Nationalversammlung und tauchte oft in den Nachrichten auf. In französisch- und englischsprachigen Talkshows in der ganzen Provinz wurde sie um ihre Meinung in politischen Fragen gebeten. Sie konnte gut reden, war aber nicht arrogant. War witzig, ohne sarkastisch zu sein. Warmherzig, ohne süßlich zu sein. Sie war zum neuen Liebling der Medien aufgestiegen.

Und jetzt war sie hier. In der Bäckerei. In Lebensgröße.

Beide Frauen waren großgewachsen, ohne allzu kräftig zu sein. Auf jeden Fall hatten sie Ausstrahlung und überragten die winzige Bäckerin um einiges. Aber mochten sie auch Ausstrahlung haben, Jacqueline hatte Selbstgebackenes. Und sie hatte den Verdacht, dass ihr das im Moment Macht über die beiden gab.

»Ich glaube«, sagte Lea und begutachtete das aufgereihte Gebäck hinter der Glasscheibe, »ich nehme eine Tarte au citron und ein Millefeuille.«

»Seltsam«, sagte Katie und trat zu Sarah, der die Bäckerei gehörte und die gerade die Auslage mit Biscotti auffüllte.

Keiner musste fragen, was sie meinte.

Sarah wischte sich die Hände an der Schürze ab und nickte mit einem Blick aus dem Fenster.

»Ich wünschte, es würde verschwinden«, sagte die Bäckerin.

»Hat einer eine Ahnung, was das soll?«, fragte Lea zuerst Sarah, die den Kopf schüttelte, dann Jacqueline, die den Kopf schüttelte und wegsah.

»Es ist schlimm«, sagte Sarah. »Ich verstehe nicht, warum niemand etwas unternimmt. Armand sollte etwas unternehmen.«

»Ich glaube nicht, dass man da sehr viel unternehmen kann. Auch Monsieur Gamache nicht.«

Lea Roux hatte in dem Komitee gesessen, das Gamache als Leiter der Sûreté bestätigt hatte. Sie hatte erklärt, dass sie ihn kannte, flüchtig. Dass sie sich einige Male begegnet waren.

Wobei fast alle in dem Zwei-Parteien-Komitee Armand Gamache kannten. Er bekleidete schon lange eine hohe Position bei der Sûreté und hatte bei der Aufdeckung dieses gewaltigen Korruptionsskandals mitgewirkt.

Es hatte nur eine kurze Diskussion und keine Debatte gegeben.

Vor zwei Monaten war Armand Gamache dann als Chief Superintendent der mächtigsten Polizeieinheit in Québec vereidigt worden. Vielleicht der mächtigsten in ganz Kanada.

Doch trotz all seiner Macht, wusste Lea Roux, konnte er wegen dieses Wesens auf dem Dorfanger nichts unternehmen.

»Sie wissen, dass Sie diese Sachen auch im Bistro bestellen können«, sagte Sarah, als sie gingen, und deutete auf die kleinen Schachteln in ihren Händen. »Wir beliefern Olivier und Gabri.«

»Merci«, sagte Katie. »Wir nehmen sie mit in die Buchhandlung, um sie uns mit Myrna zu teilen.«

»Sie mag die Brownies«, sagte Sarah. »Seit Jacqueline da ist, sind sie ein echter Verkaufsschlager.«

Sie warf der sehr viel jüngeren Frau einen mütterlich stolzen Blick zu.

Bis auf die Sache mit dem Baguette war Jacqueline die Antwort auf Sarahs Gebete. Sarah war mittlerweile Ende sechzig, und es wurde ihr zu viel, jeden Morgen um fünf Uhr aufzustehen, um Brot zu backen und den ganzen Tag auf den Beinen zu sein.

Die Bäckerei zu schließen, kam nicht infrage. Und sie wollte sich auch noch nicht ganz aufs Altenteil zurückziehen. Nur das laufende Geschäft wollte sie übergeben.

Und dann war vor drei Monaten Jacqueline gekommen.

Wenn sie nur lernen würde, wie man ein gutes Baguette buk.

»Mmm, das sieht gut aus«, sagte Myrna, während sie den Tee einschenkte und Lea das Gebäck auspackte.

Dann setzten sich die drei um den Holzofen in Myrnas Buchladen, auf das Sofa und die Sessel im Erker, von wo aus sie die verhüllte Gestalt sehen konnten.

Nachdem sie ein paar Minuten lang darüber geredet hatten, ohne zu einem Schluss gekommen zu sein, wandten sie sich Katies neuestem Projekt zu. Ein Glashaus auf den Magdalenen-Inseln.

»Ehrlich?«, sagte Myrna, deren überraschter Ausruf durch den Brownie in ihrem Mund gedämpft wurde. »Auf den Maggies?«

»Ja, dort scheint im Moment ziemlich viel Geld in Umlauf zu sein. Das Hummergeschäft läuft offenbar gut.«

Lea hob eine Augenbraue, sagte aber nichts.

Es gab eine völlig neue Ware, die Reichtum schuf, wo einstmals harte Arbeit und Armut geherrscht hatten.

»Ein Glashaus auf den Inseln zu bauen, ist bestimmt schwierig«, sagte Myrna.

Die nächste halbe Stunde sprachen sie über Wetter, Geographie, Architektur und über das Zuhause. Das Thema Zuhause im Unterschied zu Haus faszinierte Myrna, und sie hörte den beiden jüngeren Frauen mit großer Bewunderung zu.

Sie fand Katie interessant. Mochte sie. Aber mit Lea verband sie, dass sie vor vielen Jahren ihre Babysitterin gewesen war.

Damals war Myrna sechsundzwanzig gewesen, hatte gerade ihren Abschluss gemacht und kratzte alles Geld zusammen, um ihren Studienkredit abzubezahlen. Lea war vier. Winzig, wie eine Maus. Ihre Eltern lebten in Scheidung, und Lea, ein Einzelkind, hatte sich fast nicht mehr aus dem Haus getraut vor Angst. Vor Unsicherheit.

Myrna war für sie eine große Schwester geworden, Mutter, Freundin. Beschützerin und Förderin. Und Lea war für sie eine kleine Schwester geworden, Tochter und Freundin.

»Ihr solltet Anton kennenlernen«, sagte Myrna und sah zufrieden zu, wie Lea das Gebäck verdrückte.

»Anton?«

»Oliviers neuen Geschirrspüler.«

»Er gibt seinem Geschirrspüler einen Namen?«, fragte Katie lächelnd. »Meiner heißt einfach Bosch.«

»Ach ja?«, sagte Lea. »Meiner heißt Gustav. Er hat nur schmutziges Zeug im Sinn.«

»Haha«, sagte Myrna. »Anton ist ein Mensch, wie ihr ganz genau wisst. Er möchte Koch werden. Am liebsten würde er eine Küche kreieren, die ausschließlich auf einheimischen Produkten beruht.«

»Bäume«, sagte Katie. »Gras.«

»Anglos«, sagte Lea. »Lecker. Den würde ich gerne kennenlernen. Wahrscheinlich gibt es Förderprogramme, an die er sich wenden könnte.«

»Tut mir leid«, sagte Myrna. »Du wirst wahrscheinlich die ganze Zeit so etwas gefragt.«

»Ich helfe gerne«, sagte Lea. »Und wenn ich dafür zum Essen eingeladen werde, umso besser.«

»Prima. Wie wär’s mit heute Abend?«

»Heute Abend kann ich nicht. Wir fahren zum Abendessen nach Knowlton. Aber es wird schon klappen, bevor wir wieder heimfahren.«

»Wann wird das sein?«

»In ein paar Tagen«, sagte Katie.

Das war, dachte Myrna, seltsam vage für jemanden, der bestimmt einen straffen Zeitplan hatte.

Als alle Kunden gegangen waren, schob Jacqueline die Kekse in den Ofen und stellte den Küchenwecker.

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich …«

»Nein, gehen Sie nur«, sagte Sarah.

Jacqueline musste nicht sagen, wohin sie ging. Sarah wusste Bescheid. Und sie wünschte ihr alles Gute. Wenn sie und der Spüler heirateten und er Koch würde, dann würde auch Jacqueline hierbleiben.

Sarah war nicht stolz auf diese selbstsüchtigen Gedanken, aber wenigstens wünschte sie Jacqueline nichts Böses. Es gäbe bestimmt Schlimmeres, als Anton zu heiraten.

Wenn Anton nur dasselbe für Jacqueline empfände. Wenn sie nur Baguette backen könnte, dachte Sarah und wischte über die Theke. Ja. Das wäre gut.

In Sarahs Welt war ein gutes Baguette ein Zauberstab, mit dem sich alle Probleme lösen ließen.

Jacqueline eilte nach nebenan in die Küche des Bistros. Es war früher Nachmittag. Sie mussten das Abendessen vorbereiten, aber für einen Spüler war es eine recht ruhige Zeit.

»Ich wollte gerade zu dir«, sagte Anton. »Hast du es gesehen?«

»Ist ja kaum zu übersehen.«

Sie küsste ihn auf die Wange, und er erwiderte den Kuss, aber so hätte er auch Sarah küssen können.

»Sollen wir etwas sagen?«, fragte Jacqueline.

»Was denn?«, sagte er und senkte die Stimme. »Wem denn?«

»Monsieur Gamache, natürlich«, sagte sie.

»Nein«, sagte Anton bestimmt. »Tu das nicht, versprich es mir. Wir wissen ja nicht, was es ist …«

»Wir haben eine ziemlich konkrete Vermutung«, sagte sie.

»Aber wissen tun wir es nicht.« Er senkte die Stimme noch mehr, als der Koch zu ihnen herübersah. »Wahrscheinlich verschwindet er wieder.«

Jacqueline hatte gute Gründe, sich Sorgen zu machen, aber im Moment ging es ihr darum, wie Anton auf die Gestalt reagierte.

Armand saß im Bistro und las.

Er spürte Blicke auf sich. Alle mit derselben Botschaft.

Unternimm was wegen des Dings auf dem Dorfanger.

Sorg dafür, dass es verschwindet.

Was hatte man vom Leiter der gesamten Sûreté als Nachbarn, wenn er einen nicht beschützen konnte?

Er schlug die Beine übereinander und lauschte dem Knistern des offenen Feuers. Er spürte die Wärme, roch das Ahornholz und merkte, wie die Blicke seiner Nachbarn sich in ihn bohrten.

Er hatte nicht den bequemen Sessel am offenen Kamin gewählt, sondern sich ans Fenster gesetzt. Wo er das Ding sehen konnte.

Wie Reine-Marie hatte Armand gemerkt, dass er im Laufe des Tages aufgehört hatte, an die Gestalt auf der Wiese als »er« zu denken. Sie war zu einem »es« geworden.

Und Gamache wusste besser als die meisten, wie gefährlich das war. Jemanden zu entmenschlichen. Denn unter diesem Gewand steckte ein Mensch, so seltsam er sich auch verhalten mochte.

Seine eigene Reaktion fand er ebenfalls interessant. Er wollte, dass es wegging. Er wollte hinaus auf den Dorfanger gehen und es verhaften. Ihn.

Weswegen?

Weil er seinen Frieden störte.

Es brachte nichts, wenn er allen erzählte, dass keine Bedrohung bestand. Weil er nicht wusste, ob das stimmte. Was er dagegen wusste, war, dass ihm die Hände gebunden waren. Der Umstand, dass er Leiter der Sûreté war, verhinderte sogar eher, dass er etwas tat.

Reine-Marie hatte an seiner Seite gestanden, als er den Eid geleistet hatte. Gamache in seiner Ausgehuniform, mit den goldenen Epauletten und den goldenen Tressen und dem goldenen Gürtel. Und mit den Orden, die er nur ungern trug. Jeder erinnerte ihn an ein Ereignis, von dem er wünschte, es wäre nie geschehen. Aber es war geschehen.

Resolut und entschlossen hatte er dagestanden.

Sein Sohn und seine Tochter sahen zu. Auch seine Enkelkinder sahen zu, als er die Hand hob und schwor, dass er für Amt, Anstand und Gerechtigkeit eintreten werde.

Unter dem Publikum im voll besetzten großen Saal der Nationalversammlung waren ihre Freunde und Nachbarn.

Jean-Guy Beauvoir, sein langjähriger Stellvertreter und inzwischen auch sein Schwiegersohn, hielt seinen Sohn auf dem Arm. Und sah zu.

Gamache hatte Beauvoir gefragt, ob er mit ihm ins Büro des Chief Superintendent wechseln wolle. Um erneut Stellvertreter zu sein.

»Ist das nicht Vetternwirtschaft?«, hatte Beauvoir gefragt. »Eine lang gepflegte Tradition in Québec.«

»Du weißt, dass mir Traditionen sehr viel bedeuten«, sagte Gamache. »Aber du zwingst mich zu dem Bekenntnis, dass du für die Arbeit am besten geeignet bist, Jean-Guy, und die Ethikkommission stimmt zu.«

»Muss komisch für dich sein.«

»Oui. Die Sûreté ist jetzt eine Meritokratie. Also …«

»Bau keinen Scheiß?«

»Ich wollte sagen, vergiss die Croissants nicht, aber das andere passt auch.«

Und Jean-Guy hatte oui gesagt. Und merci. Nun sah er zu, wie Chief Superintendent Gamache mit dem Obersten Richter von Québec Hände schüttelte und sich dann zum Publikum umdrehte.

Er stand einer Behörde mit Tausenden Beamten vor, zuständig für den Schutz einer Provinz, die Gamache liebte. Einer Bevölkerung, in der er weder Opfer noch Bedrohung sah, sondern Brüder und Schwestern. Seinesgleichen, die es zu achten und zu schützen galt. Und manchmal zu verhaften.

»Offenbar gehören zu diesem Job mehr als nur Cocktailpartys und Wohltätigkeitsveranstaltungen«, hatte er zu Myrna während eines ihrer ruhigen Gespräche gesagt.

In der Tat hatte er die letzten Monate damit verbracht, intensive Gespräche mit den Leitern verschiedener Abteilungen zu führen und sich durch Dossiers über das organisierte Verbrechen, Drogenhandel, Morde, Cyber-Kriminalität, Geldwäsche, Brandstiftung und Dutzende andere Probleme zu arbeiten.

Schon bald war klar, dass die Lage sehr viel schlimmer war, als selbst er es sich vorgestellt hatte. Und immer schlimmer wurde. An dieser zunehmenden Verschärfung war der Drogenhandel schuld.

Die Kartelle.

Sie waren die Keimzelle des Bösen. Für die Morde, die Überfälle. Die Geldwäsche. Die Erpressungen.

Die Einbrüche, die sexuellen Übergriffe. Die blinde Gewalt von verzweifelten jungen Männern und Frauen. In den Innenstädten hatte sie sich bereits ausgebreitet. Aber sie beschränkte sich nicht darauf. Inzwischen suchte sie auch ländliche Gebietet heim.

Gamache hatte gewusst, dass es ein wachsendes Problem gab, aber von dem Ausmaß hatte er keinen Begriff gehabt.

Bis jetzt.

Tagsüber watete Chief Superintendent Gamache durch einen Morast des Abscheulichen, Gottlosen, Tragischen, Grauenvollen. Und dann fuhr er nach Hause. Nach Three Pines. In sein Refugium. Um sich zu seinen Freunden an den Kamin des Bistros zu setzen oder zusammen mit Reine-Marie in sein behagliches Wohnzimmer. Henri und die lustige kleine Gracie zu ihren Füßen.

Gesund und munter.

Bis dieses schwarze Ding auftauchte. Und nicht mehr verschwand.

»Haben Sie noch einmal das Gespräch gesucht?«, fragte der Staatsanwalt.

»Um was zu sagen?«, fragte Chief Superintendent Gamache im Zeugenstand. Von seinem Platz aus konnte er sehen, wie sich die Leute in den Zuschauerreihen mit Papier Luft zufächelten, um wenigstens die Illusion eines Lüftchens in der erstickenden Hitze zu erzeugen.

»Sie hätten beispielsweise fragen können, was er vorhat.«

»Das hatte ich schon. Unter anderen Umständen würden Sie mich, einen Polizeibeamten, fragen, warum ich einen Bürger belästige, der nichts anderes tut, als arglos in einem Park herumzustehen.«

»Einen maskierten Bürger«, sagte der Staatsanwalt.

»Ja«, sagte Gamache. »Und um mich zu wiederholen: Es ist nicht gegen das Gesetz, sich zu maskieren. Seltsam, das ja. Und ich muss Ihnen nicht sagen, dass es mir nicht gefallen hat. Das hat es nicht. Aber mir waren die Hände gebunden.«

Das rief bei den Zuschauern Gemurmel hervor. Zum Teil stimmten sie ihm zu. Zum Teil waren sie überzeugt, dass sie sich anders verhalten hätten und dass der Chef der Sûreté auf jeden Fall etwas hätte tun sollen.

Gamache erkannte den Tadel in ihrem Raunen und war sich auch darüber klar, woher er kam. Aber diese Leute saßen in einem Gerichtssaal und wussten, was geschehen war.

Er dagegen wusste, dass er nichts hätte tun können, um es zu verhindern. Sobald der Tod sich erst einmal auf den Weg gemacht hatte, konnte man ihn nur schwer aufhalten.

»Was haben Sie dann gemacht?«

»Wir aßen zu Abend und blieben noch eine Weile auf und sahen fern, dann ging Madame Gamache zu Bett.«

»Und Sie?«

»Ich schenkte mir eine Tasse Kaffee ein und ging in mein Arbeitszimmer.«

»Um zu arbeiten?«

»Ich schaltete das Licht nicht ein. Ich saß im Dunkeln da und habe hinaus auf den Dorfanger gesehen.«

Eine dunkle Gestalt, die die andere beobachtete.

Während er so dasaß, hatte Armand Gamache den Eindruck, dass sich etwas verändert hatte.

Die dunkle Gestalt hatte sich bewegt, ein wenig zur Seite gedreht.

Und beobachtete nun ihn.

»Wie lange sind Sie dort geblieben?«

»Eine Stunde, vielleicht etwas länger. Ich konnte kaum etwas erkennen. Er war eine dunkle Gestalt im Dunkeln. Als ich noch einmal mit den Hunden nach draußen ging, war er weg.«

»Dann hätte er irgendwann vorher verschwinden können? Vielleicht sogar, gleich nachdem Sie sich hingesetzt hatten. Sie haben nicht gesehen, wie er verschwand?«

»Nein.«

»Ist es möglich, dass Sie eingenickt waren?«

»Das ist möglich, aber ich habe nicht das erste Mal jemanden überwacht.«

»Andere beobachten. Das ist etwas, das Sie mit ihm gemeinsam hatten«, sagte Zalmanowitz.

Die Bemerkung überraschte Chief Superintendent Gamache, und er hob die Augenbrauen, nickte aber dabei. »Ja, das kann man so sagen.«

»Und am nächsten Tag?«

»War er zurück.«

Hinter den drei Kiefern

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