Читать книгу Hinter den drei Kiefern - Louise Penny - Страница 5
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ОглавлениеJudge Corriveau fand, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für eine Mittagspause gekommen war.
Der Chief Superintendent würde noch viele Tage im Zeugenstand sein. Wo er befragt und ins Kreuzverhör genommen werden würde.
Es war stickig im Gerichtssaal, und beim Hinausgehen bat sie den Wachmann, während der Mittagspause die Klimaanlage einzuschalten.
Als Maureen Corriveau an diesem Morgen auf dem Richterstuhl Platz genommen hatte, war sie froh gewesen, dass ihr erster Mordprozess ziemlich unkompliziert war. Mittlerweile hatte sie ihre Zweifel.
Die gesetzliche Seite war ihr natürlich klar. Das war ein Kinderspiel. Selbst das Erscheinen der verhüllten Gestalt im Dorf war, bei aller Seltsamkeit, vom Gesetz her klar zu beurteilen.
Was sie dagegen, mehr als die unerträgliche Hitze, zum Schwitzen brachte, war die unerklärliche Feindseligkeit, die sich so rasch zwischen dem Staatsanwalt und seinem eigenen Zeugen entsponnen hatte.
Es war nicht irgendein Zeuge. Nicht ein x-beliebiger, für die Festnahme verantwortlicher Polizeibeamter. Es war, verdammt noch mal, der Leiter der Sûreté.
Der Staatsanwalt maßregelte den Chief Superintendent nicht bloß, er ging ihn regelrecht an. Und das gefiel Monsieur Gamache kein bisschen.
Sie war keine erfahrene Richterin, aber als Verteidigerin hatte sie gelernt, menschliches Verhalten zu beurteilen. Und die menschliche Natur.
Da passierte noch etwas in ihrem Gerichtssaal, und Judge Corriveau war entschlossen herauszukriegen, was.
»Seh nur ich das so, oder läuft dieser Prozess schon jetzt etwas aus dem Ruder?«, fragte Jean-Guy Beauvoir, als er seinen Chef auf dem Flur des Palais de Justice traf.
»Aber nein«, sagte Gamache und wischte sich mit seinem Taschentuch übers Gesicht. »Alles läuft rund.«
Beauvoir lachte. »Womit du sagen willst, dass alles merde ist.«
»Genau. Wo ist Isabelle?«
»Sie ist vorausgegangen«, sagte Beauvoir. »Sie sieht im Büro nach dem Rechten.«
»Gut.«
Gamache höchstpersönlich hatte Isabelle Lacoste als Leiterin der Mordkommission ausgewählt, als er den Posten räumte. Es hatte Murren gegeben, als Gamaches Nachfolge bekannt gemacht wurde. Man warf ihm Begünstigung vor.
Alle kannten die Geschichte. Gamache hatte Lacoste vor einigen Jahren angeworben, als man sie aus der Sûreté vertreiben wollte. Weil sie anders war. Weil ihr das Gehabe ihrer Kollegen zuwider war. Weil sie versuchte, Verdächtige zu verstehen, und nicht, sie zu brechen.
Weil sie sich in Anwesenheit anderer Beamter neben der Leiche einer Frau niederkniete und versprach, ihr dabei zu helfen, Frieden zu finden.
Man hatte sich über Agent Lacoste lustig gemacht, sie an den Pranger gestellt, auf subtile Weise zurechtgewiesen und schließlich ins Büro ihres Vorgesetzten beordert, wo sie auf Chief Inspector Gamache getroffen war. Er hatte von der seltsamen jungen Beamtin gehört, über die sich alle lustig machten, und wollte sie kennenlernen.
Statt auf die Straße gesetzt zu werden, wurde sie von Gamache in die prestigeträchtigste Abteilung der Sûreté du Québec geholt. Sehr zum Verdruss ihrer ehemaligen Kollegen.
Und dieser Verdruss nahm zu, als sie die Karriereleiter hochkletterte und Chief Inspector wurde. Doch statt auf die Nörgler einzugehen, wozu sie einige innerhalb ihrer Abteilung aufgefordert hatten, hatte Lacoste einfach ihre Arbeit gemacht.
Und diese Arbeit war, so ihre feste Überzeugung, einfach, wenn auch nicht leicht.
Mörder dingfest machen.
Der Rest war nebensächlich.
Am Ende des Tages ging Chief Inspector Lacoste nach Hause zu ihrem Mann und ihren kleinen Kindern. Aber einen Teil ihrer Arbeit nahm sie mit, sorgte sich um die Opfer und die Mörder, die immer noch dort draußen waren. So wie sie auch immer ihre Familie mitnahm, wenn sie zur Arbeit ging. Die Sorge, in welchen Kreisen, welcher Gesellschaft sie sich wiederfanden, wenn sie ihr sicheres Zuhause verließen.
»Ich habe gerade eine SMS bekommen«, sagte Beauvoir. »Isabelle hat alle im Besprechungszimmer versammelt. Sie hat Sandwiches bestellt.«
Beide Informationen schienen dieselbe Wichtigkeit für ihn zu haben.
»Merci«, sagte Gamache.
Die Gerichtssäle des Palais de Justice leerten sich über Mittag, und auf den Fluren drängten sich Gerichtsdiener, Zeugen und Zuschauer.
Hin und wieder war eine Gestalt in einer schwarzen Robe zu sehen.
Anwälte, die Gamache kannte. Oder Richter. Die es auch eilig hatten, etwas zu essen zu bekommen.
Der eigentlich vertraute Anblick ließ ihn jetzt zusammenzucken.
Inspector Beauvoir sagte nichts zu Gamaches Zeugenaussage am Vormittag. Allein der angestrengte Ausdruck auf dem Gesicht seines Chefs verriet ihm, ob alles nach Plan lief. Oder nicht.
Chief Superintendent Gamache verschanzte sich hinter einem hohen, festen Wall aus höflicher Zurückhaltung, den selbst sein Schwiegersohn nicht überwinden konnte.
Beauvoir wusste genau, was sich hinter diesem Wall befand und hervorbrechen wollte. Und er wusste auch, dass der Staatsanwalt nicht wirklich wollte, dass es hervorbrach.
Rasch liefen sie durch die kopfsteingepflasterten Straßen von Vieux-Montréal, ein vertrauter und oft gegangener Weg zwischen ihrem Büro und dem Gerichtsgebäude. An hell erleuchteten Restaurants mit niedrigen Decken vorbei, in denen sich die Mittagsgäste drängten.
Jean-Guy sah hinein, blieb jedoch nicht stehen.
Vor ihnen lag das Hauptquartier der Sûreté, das sich inmitten der Altstadt erhob. Über sie wachte.
Kein schönes Gebäude, dachte Beauvoir. Aber es erfüllte seine Funktion. Und es hatte eine Klimaanlage.
Die beiden traten aus einer schmalen Straße auf den offenen Platz vor der Basilika Notre-Dame und machten einen Bogen um die Touristen, die sich vor der Kathedrale gegenseitig fotografierten.
Wenn sie in vielen Jahren die Fotos betrachteten, dann würden sie den herrlichen Bau sehen und eine Menge verschwitzter Leute in Shorts und leichten Sommerkleidern, die in der sengenden Hitze dahinschmolzen, während die Sonne auf das Kopfsteinpflaster brannte.
Klimatisierte Luft schlug ihnen entgegen, kaum hatten sie die Sûreté betreten. Nur war sie nicht angenehm erfrischend, keine Erleichterung, sondern fühlte sich wie ein Schneeball mitten ins Gesicht an.
Die Polizisten in der Eingangshalle salutierten vor dem Chef, während Gamache und Beauvoir zum Aufzug gingen. Als sie im obersten Stockwerk angekommen waren, waren sie schweißgebadet. Seltsamerweise brachte die kalte Luft sie erst recht zum Schwitzen.
Sie betraten Gamaches Büro mit seinen deckenhohen Fenstern, die über Montréal blickten und weiter über den Sankt-Lorenz-Strom zu den fruchtbaren Ebenen und den Bergen am Horizont. Dahinter lag Vermont.
Das Tor in die USA.
Gamache blieb einen Moment stehen und starrte auf die Gebirgskette. Sie war durchlässiger, als sie aus der Entfernung wirkte.
Dann öffnete er eine Schublade und bot Beauvoir ein frisches Hemd an.
Beauvoir lehnte dankend ab. »Brauch ich nicht. Ich war nicht im Zeugenstand.« Er ging zur Tür. »Ich geh schon mal in den Besprechungsraum.«
Gamache wechselte schnell sein Hemd, dann gesellte er sich zu Beauvoir, Lacoste und den anderen.
Sie standen auf, als er das Zimmer betrat, und er forderte sie mit einer Geste auf, sich zu setzen, bevor er selbst Platz nahm.
»Erzählen Sie, was Sie haben.«
Die nächste halbe Stunde hörte er zu und nickte. Stellte ein paar Fragen. Ließ das Gehörte sacken.
Diese Männer und Frauen, die er aus verschiedenen Abteilungen abgezogen hatte, waren handverlesen. Und das wussten sie.
Es war eine neue Ära. Eine neue Sûreté. Gamache wusste, dass sein Job nicht darin bestand, den Status quo aufrechtzuerhalten. Oder in Ordnung zu bringen, was nicht gut lief.
Sein Job bestand darin, etwas Neues aufzubauen. Institutionelles Gedächtnis und Erfahrung waren dabei zwar wichtig, aber wesentlich wichtiger war ein solides Fundament.
Die Beamten in diesem Raum waren dieses Fundament, auf dem sich eine ganz neue Sûreté du Québec erhob. Stark. Transparent. Verantwortlich. Anständig.
Er war der Architekt und maßgeblicher an dem Aufbau beteiligt als seine Vorgänger, von denen einige das frühere korrupte System installiert hatten und andere es einfach laufen ließen, indem sie wegsahen. Oder Angst hatten, etwas zu sagen.
Gamache sah genau hin. Und er verlangte von seinen erfahrenen Kollegen, dass sie dasselbe taten.
Er verlangte von ihnen, Fragen zu stellen. Ihn infrage zu stellen. Die Pläne. Ihre Kollegen. Sich selbst. Und tatsächlich hatten viele den neuen Chef heftig infrage gestellt, als er, kurz nachdem er die neue Stelle angetreten, ihre Dossiers gelesen und sich ihre Briefings angehört hatte, sie mit der neuen Realität konfrontiert hatte.
»Es wird schlimmer«, hatte er gesagt. »Sehr viel schlimmer.«
Das war vor fast einem Jahr gewesen. In ebendiesem Besprechungszimmer.
Sie hatten ihn angesehen, als er ihnen auseinandersetzte, was »sehr viel schlimmer« bedeutete. Manche begriffen es nicht. Andere verstanden ihn sehr genau. Auf die Ungläubigkeit in ihren Gesichtern folgte der Schock.
Er hatte sich ihre Einwände und ihre Argumente angehört. Und dann sagte er etwas, von dem er gehofft hatte, es sei nicht nötig. Er wollte ihr Selbstvertrauen und ihren Tatendrang nicht zerstören. Oder ihre Entschlossenheit untergraben.
Aber es wurde ihm klar, dass sie es wissen mussten. Sie verdienten es.
»Wir haben verloren.«
Verständnislos sahen sie ihn an. Und dann wurden einige, die seinem Bericht ohne Vorbehalte gefolgt waren, blass.
»Wir haben verloren«, wiederholte er, und seine Stimme klang gelassen. Ruhig. Fest. »Der Krieg gegen die Drogen wurde vor langer Zeit verloren. Schon das war schlimm, aber dann ist ein Dominoeffekt eingetreten. Denn wenn wir die Drogen nicht mehr unter Kontrolle haben, verlieren wir die Kontrolle über alle Verbrechen. So weit ist es noch nicht. Aber es wird dazu kommen. Bei dem Tempo, in dem sich die Dinge entwickeln und verstärken, werden wir in einigen Jahren überrollt werden.«
Natürlich hatten sie widersprochen. Es nicht sehen wollen. Nicht akzeptieren. Genauso wie er selbst, bevor er die Informationen zusammengetragen und in Verbindung zueinander gebracht hatte. Früher hatten die Abteilungen miteinander konkurriert, hatten ihr Territorium verteidigt. Nur widerstrebend hatten sie Daten und Statistiken miteinander geteilt. Vor allem solche, die sie womöglich nicht gut aussehen ließen.
Gamache hatte den Eindruck, er war der Erste, der alle Informationen zusammentrug. Miteinander verknüpfte.
Er fragte sich, ob sich der Kapitän eines großen Schiffes so fühlte, wenn allein er wusste, dass sie sanken. Alle anderen sahen das Unheil nicht kommen. Für sie lief alles wie gehabt.
Er jedoch wusste, dass langsam, aber sicher ein Sturm aufzog.
Anfangs hatte er es auch nicht sehen wollen. Immer wieder war er die Akten durchgegangen. Die Zahlen. Die Prognosen.
Dann hatte er eines Tages im Frühherbst, in seinem Haus in Three Pines, seine Hand auf das letzte Dossier gelegt, war von seinem Sessel am Kamin aufgestanden und zu einem Spaziergang aufgebrochen.
Allein. Ohne Reine-Marie. Ohne Gracie. Ohne Henri, der verwirrt und enttäuscht an der Tür gestanden hatte. Seinen Ball im Maul.
Gamache war gelaufen und gelaufen. Er hatte sich auf eine Bank oberhalb des Dorfes gesetzt und ins Tal hinuntergesehen. Über die Wälder. Die Berge, von denen manche zu Québec gehörten, andere zu Vermont.
Die Grenze konnte man von hier aus nicht sehen.
Dann hatte er den Kopf gesenkt und ihn in die Hände gestützt. Er war so sitzen geblieben und hatte die Welt ausgesperrt. Das Wissen.
Bis er wieder aufstand und weiterlief. Stundenlang.
Auf der Suche nach einer Lösung.
Was, wenn sie ein größeres Budget hätten? Mehr Leute anwarben? Mehr Ressourcen aufwendeten, um der Krise zu begegnen?
Es musste doch etwas geben, was getan werden konnte. So hoffnungslos konnte die Lage nicht sein.
Er hielt erst inne, als er wieder bei sich selbst ankam. Bei dem Armand, der am Rand der ruhigen Straße stand, mitten im Nirgendwo, und wartete. An der Kreuzung von Wahrheit und Wunschdenken.
Wo die gerade Straße abbog.
Und da wusste er es. Sie würden alle untergehen. Nicht nur die Sûreté, sondern die gesamte Provinz. Nicht unbedingt seine Generation. Aber die nächste. Und die übernächste. Seine Enkel.
Das Wasser stand ihm bis zum Hals. Sie würden in Verbrechen versinken.
Und noch etwas wusste er. Etwas, von dem er wünschte, er wüsste es nicht, das er aber auch nicht leugnen konnte.
Es gab nichts, was sie tun konnten. Sie hatten längst den Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gab, und ihn hinter sich gelassen. Und es war kein Rettungsboot in Sicht. Dafür hatte die Korruption innerhalb der Regierung und der Polizei gesorgt.
»Was sollen wir also tun?«, fragte einer der älteren Polizisten bei diesem Treffen. »Aufgeben?«
»Nein. Ich habe keine Lösung. Noch nicht. Also reißen wir uns am Riemen, machen unsere Arbeit, kommunizieren. Sammeln Informationen und teilen sie miteinander.«
Ernst sah er einen nach dem anderen an.
»Und wir versuchen, kreative Lösungen zu entwickeln. Was Ihnen auch einfällt, kommen Sie damit zu mir. Egal, wie verrückt es sich anhört.«
Er spürte keine Verzweiflung in dem Raum, noch nicht. Noch keine Panik, aber beinahe.
Und jetzt, viele Monate später, saßen sie wieder in dem Besprechungsraum.
Damals hatte alles düster ausgesehen. Jetzt standen sie kurz, ganz kurz vor ihrem ersten bedeutenden Sieg.
Aber es hing von diesem Prozess ab. Wie er endete, aber auch welchen Verlauf er nahm.
Absurderweise hatte die Lage am besten ausgesehen, als sie am schlimmsten war. Québec, die Sûreté hatte funktioniert, wie sie sollte.
Und jetzt, wo es einen Hoffnungsfunken gab, schien alles außer Kontrolle zu geraten.
Führende Politiker und eine Handvoll Presseleute hatten vor nicht allzu langer Zeit bemerkt, dass von der Sûreté-Leitung getrickst wurde.
Die Zahl der Festnahmen war gestiegen. Und eine Weile wurde das vonseiten der Politiker und ihrer Wähler regelrecht gefeiert.
Bis Enquête, ein Fernsehmagazin von Radio-Canada, nachgebohrt und festgestellt hatte, dass die gestiegene Zahl von Festnahmen vor allem mehr oder weniger unbedeutende Verbrechen betraf.
»Erklären Sie mir das«, hatte der Premierminister von Québec gefordert, als er am nächsten Tag Chief Superintendent Gamache in sein Büro in Québec City beordert hatte.
Der Premier hatte auf eine dicke Akte auf seinem Schreibtisch geklopft. Selbst vom anderen Ende des Zimmers aus hatte Gamache gesehen, worum es sich handelte.
Ein Ausdruck des neuesten Monatsberichts über die Aktivitäten der Sûreté.
»Ich habe das geprüft. Es stimmt, was diese Idioten von Enquête sagen, Armand. Ja, die Zahl der Festnahmen ist gestiegen, und Gott sei Dank haben Sie es auch geschafft, ein paar Mörder zu erwischen, aber was ist mit dem Rest? Seit Sie den Laden übernommen haben, gab es in den anderen Abteilungen keine nennenswerten Festnahmen. Keine Motorradgangmitglieder, niemand von der organisierten Kriminalität. Kein Drogenhändler, es wurde nicht mal was beschlagnahmt. Ein paar Kleindealer, aber das war’s auch schon. Was machen Sie eigentlich da drüben?«
»Gerade Sie sollten wissen«, Gamache deutete mit dem Kinn zu der Akte, »dass Statistiken wenig Aussagekraft haben.«
»Wollen Sie damit sagen«, der Premier legte die Hand auf die Akte, »dass das alles gelogen ist?«
»Nein, nicht gelogen. Aber auch nicht die ganze Wahrheit.«
»Bewerben Sie sich etwa für ein Amt oder was soll das Rumgeeiere? Solche Ausweichmanöver bin ich von Ihnen nicht gewohnt.«
Er funkelte Gamache an, der seinem Blick standhielt, aber nichts mehr sagte.
»Was haben Sie vor, Armand? Lieber Gott, sagen Sie mir nicht, dass alles stimmt, was die von Enquête behaupten.«
Man hatte in der Sendung, ohne konkret zu werden, durchblicken lassen, dass Gamache womöglich inkompetent sei oder wie seine Vorgänger auf der Lohnliste des organisierten Verbrechens stand.
»Nein«, sagte Gamache. »Mir ist klar, wie sie zu diesen Schlussfolgerungen oder Mutmaßungen kommen. Aber es stimmt nicht, was bei Enquête behauptet wurde.«
»Sondern? Bitte sagen Sie es mir. Geben Sie mir etwas. Irgendetwas. Jedenfalls etwas anderes als diesen Mist hier.« Er schob die Akte mit solcher Vehemenz über den Tisch, dass sie über den Rand fiel und ihr Inhalt sich auf dem Boden verteilte. »Sie verstreuen Haftbefehle wie Konfetti, um gut dazustehen, bis jemand merkt, dass es nur Bagatellen betrifft. Bis die Idioten von Enquête es merken.«
»Wir verhaften Mörder.«
»Na, herzlichen Glückwunsch«, sagte der Premier.
Sie kannten sich seit langer Zeit. Seit Gamache ein junger Polizist gewesen war und der Premier sein Referendariat in der Rechtshilfe gemacht hatte.
»Sie bezeichnen Sie als den schlechtesten Chief Superintendent der Sûreté seit Ewigkeiten. Das muss man erst mal schaffen!«
»Da haben Sie recht«, sagte Gamache. »Aber glauben Sie mir, ich bin an etwas dran. Wirklich.«
Der Premier hatte ihm in die Augen gesehen, nach der Lüge gesucht.
Dann beugte sich Gamache vor und sammelte den Bericht ein. Er reichte ihn dem Premier, der den Stapel mit den vielen Statistiken und den wenigen konkreten Maßnahmen in der Hand behielt.
»Die Leute aus meiner eigenen Partei werden unruhig, sie haben Blut gewittert«, sagte der Premier. »Ihres oder meines. Das ist denen egal. Sie wollen, dass etwas vorangeht, oder einen Sündenbock. Tun Sie etwas, Armand. Geben Sie ihnen, was sie wollen. Was sie verdienen. Eine Festnahme von Bedeutung.«
»Ich bin an etwas dran.«
»Das« – der Premier legte seine Hand mit erstaunlicher Sanftheit auf den Papierstapel – »ist nicht ›etwas‹. Nicht annähernd. Bitte. Ich flehe Sie an.«
»Und ich flehe Sie an. Vertrauen Sie mir«, sagte Armand leise. »Sie müssen mir Gelegenheit geben, die Ziellinie zu erreichen.«
»Was soll das heißen?«, fragte der Premier im gleichen Flüsterton.
»Das wissen Sie.«
Und der Premier, der Québec ebenso liebte wie die Macht, wurde blass. Er wusste, dass er womöglich eines von beiden aufgeben musste, um das andere zu retten.
Armand Gamache betrachtete den guten Mann vor sich und überlegte, wer von ihnen die nächsten paar Monate überleben würde. Wochen. Tage. Wenn das Feuerwerk an St.-Jean-Baptiste Ende Juni den Himmel erleuchtete, wer von ihnen würde dastehen und das Spektakel genießen?
Wer von ihnen würde noch auf seinem Posten sein?
Chief Superintendent Gamache war mit dem Zug zurück nach Montréal gefahren und vom Bahnhof durch die Altstadt in sein Büro gegangen. Einige Passanten drehten sich nach ihm um, als sie ihn aus der populären Fernsehsendung erkannten, die am Abend zuvor ausgestrahlt worden war.
Vielleicht erkannten sie ihn auch aus früheren Medienberichten.
Bevor er zum ranghöchsten Beamten der Sûreté geworden war, war Armand Gamache der bekannteste Polizist von Québec gewesen.
Doch jetzt lag in den Blicken weniger Anerkennung oder Respekt als vielmehr Misstrauen. Und Amüsement. Es fehlte nicht viel, und er wurde zur Witzfigur.
Aber Armand Gamache konnte an diesen Blicken vorbeisehen, zur Ziellinie.
Das war Mitte Juni gewesen. Fast auf den Tag genau vor einem Monat. Jetzt blickte Gamache auf die Uhr und erhob sich.
»Ich muss zurück ins Gericht.«
»Wie läuft’s, patron?«, fragte Madeleine Toussaint, Leiterin der Abteilung für Schwerverbrechen.
»Wie erwartet.«
»So schlimm?«
Gamache lächelte. »So gut.«
Sie sahen einander in die Augen, und dann nickte sie.
»Sie erwarten einen Bericht von einem Informanten auf den Magdalenen-Inseln«, sagte er. Er versuchte, nicht allzu hoffnungsvoll zu klingen. Oder würde »verzweifelt« es eher treffen?
Den Bericht hatte sie während des Meetings erwähnt. Bei den anderen hatte es nur mäßiges Interesse geweckt. Nur einigen wenigen war klar, was er bedeuten könnte.
»Meinen Sie, Sie wissen bis zum Meeting heute Abend Näheres?«, fragte Beauvoir.
»Hoffentlich. Es hängt im Grunde alles von dem Prozess ab, was?«, sagte Toussaint.
Gamache nickte. Ja. Tat es.
Superintendent Toussaint kehrte in ihr Büro zurück, und Beauvoir und Chief Inspector Lacoste blieben mit Gamache zurück.
»Apropos Prozess«, sagte Lacoste und sammelte ihre Unterlagen ein, »ich glaube, ich habe noch nie miterlebt, dass ein Staatsanwalt seinen eigenen Zeugen derart angeht. Und die Richterin sicher auch nicht. Sie ist neu, aber man sollte sie nicht unterschätzen.«
»Nein«, sagte Gamache, der den scharfen Blick von Judge Corriveau bemerkt hatte.
Sie gingen den Flur hinunter, und der Aufzug kam. Lacoste stieg auf ihrem Stockwerk aus.
»Viel Glück«, sagte sie zu Gamache.
»Ihnen auch«, sagte er.
»Bald sind wir am Ziel, patron«, sagte Isabelle, als die Türen sich wieder schlossen.
Bald, dachte Gamache. Aber er wusste, dass die meisten Unfälle vor der eigenen Haustür passierten.
»Chief Superintendent Gamache, Sie haben heute Morgen ausgesagt, dass die Gestalt auf dem Dorfanger in Three Pines am nächsten Tag wieder da war. Was haben Sie bei ihrem Anblick empfunden?«
»Einspruch. Das ist irrelevant.«
Judge Corriveau überlegte: »Ich werde die Frage zulassen. In der Verhandlung geht es um Tatsachen, aber Empfindungen sind auch Tatsachen.«
Chief Superintendent Gamache überlegte, bevor er antwortete.
»Ich war verärgert, dass der Dorffrieden gestört wurde. Unser Leben beeinträchtigt.«
»Und doch stand er dort.«
»Das stimmt. Sie haben gefragt, was ich empfunden habe, und das war es.«
»Hatten Sie Angst vor ihm?«
»Ein bisschen vielleicht. Unsere Mythen und Sagen sind tief in uns verwurzelt, und er sah aus wie der Tod. Vom Verstand her wusste ich, dass er es nicht war, aber in mir spürte ich eine Eiseskälte. Ganz« – er suchte nach dem richtigen Wort – »instinktiv.«
»Und dennoch haben Sie nichts getan.«
»Wie ich schon vor der Mittagspause gesagt habe, gab es nichts, was ich hätte tun können, außer mit ihm zu sprechen. Wenn ich mehr hätte tun können, dann hätte ich es getan.«
»Tatsächlich? Wenn man nach den jüngsten Berichten über die Sûreté geht, kann man daran seine Zweifel haben.«
Lautes Gelächter im Gerichtssaal war die Antwort.
»Genug«, sagte Judge Corriveau. »Treten Sie vor.«
Der Staatsanwalt folgte der Aufforderung.
»In meinem Gerichtssaal werden Sie niemanden in dieser Weise behandeln, verstehen Sie? Das war beschämend – für Sie, für die Staatsanwaltschaft und für dieses Gericht. Sie werden sich beim Chief Superintendent entschuldigen.«
»Tut mir leid«, sagte der Staatsanwalt, dann drehte er sich zu Gamache. »Entschuldigen Sie. Ich hätte meiner Verwunderung nicht so offen Ausdruck verleihen dürfen.«
Die Richterin seufzte genervt, beließ es aber dabei.
»Merci. Ich nehme Ihre Entschuldigung an«, sagte Gamache.
Dabei sah Gamache den Staatsanwalt jedoch so durchdringend an, dass dieser einen Schritt zurückwich. Weder den Geschworenen noch dem Publikum entgingen der Blick und die Reaktion.
Beauvoir, der auf der Empore saß, nickte anerkennend.
»Dann sprachen Sie ihn also am nächsten Morgen erneut an?«, fragte Zalmanowitz. »Was haben Sie gesagt?«
»Ich sagte ihm noch einmal, er solle vorsichtig sein.«
»Nicht Ihnen gegenüber, offensichtlich«, sagte der Staatsanwalt.
»Nein. Demjenigen gegenüber, auf den er es abgesehen hatte.«
»Dann glaubten Sie mittlerweile nicht mehr, dass es ein Scherz war?«
»Wenn es ein Scherz gewesen wäre, dann wäre er wohl nicht zurückgekommen. Erschreckt hatte er das ganze Dorf bereits mit seinem Erscheinen. Wenn es um einen Scherz oder selbst wenn es um Rache gegangen wäre, dann hätte er sein Ziel erreicht. Nein, hier ging es um mehr. Da war jemand fest entschlossen. Er meinte es ernst.«
»Glauben Sie, er wollte jemandem schaden?«, fragte der Staatsanwalt.
Das war eine schwierige Frage, und Chief Superintendent Gamache überlegte. Dann schüttelte er langsam den Kopf.
»Ich hatte wirklich keine Ahnung, was er bezweckte. Außer dass es irgendeine Art von Unheil sein musste. Er stellte absichtlich eine Bedrohung dar. Aber wollte er jemandem Gewalt antun? Wenn ja, warum sollte er dann den Betreffenden warnen? Warum diese Aufmachung? Warum tat er es nicht einfach im Schutz der Dunkelheit? Den Betreffenden überfallen, vielleicht sogar umbringen? Warum nur in aller Öffentlichkeit dastehen?«
Tief in Gedanken sah Gamache am Staatsanwalt vorbei.
Der Staatsanwalt wirkte perplex. Es kam so gut wie nie vor, dass jemand im Zeugenstand nachdachte. Normalerweise antworteten Zeugen auf Fragen, indem sie in eingeübten Worten die Wahrheit oder eine sorgfältig ausgedachte Lüge erzählten.
Aber nur selten dachten sie nach.
»Wobei man jemanden natürlich auf unterschiedliche Art verletzen kann, nicht wahr?«, sagte Gamache ebenso zu sich wie zum Staatsanwalt.
»Nun, welche Absicht er ursprünglich auch verfolgt haben mag«, sagte Monsieur Zalmanowitz, »die Sache endete jedenfalls mit einem Mord.«
Jetzt konzentrierte Gamache seinen Blick, aber nicht auf den Staatsanwalt. Er drehte den Kopf zur Anklagebank.
»Ja, das stimmt.«
Vielleicht, dachte er, ohne es zu sagen, reichte es nicht, einfach zu morden. Vielleicht ging es gerade darum, zuerst Angst und Schrecken zu verbreiten. Wie die Schotten und ihre kreischenden Dudelsäcke, mit denen sie ins Gefecht zogen, oder die Maori und ihr Haka.
Es ist der Tod. Es ist der Tod, singen sie. Um den anderen in Schockstarre zu versetzen.
Das schwarze Ding war keine Warnung, es war eine Prophezeiung.
»Meines Wissens haben Sie ein Foto von der Gestalt gemacht«, sagte der Staatsanwalt und trat vor seinen Zeugen, stellte sich zwischen Gamache und die Verteidigung. Sodass der Blickkontakt zwischen ihnen unterbrochen wurde.
»Ja«, sagte Gamache und richtete seine Augen wieder auf den Anklagevertreter. »Ich habe es meinem Stellvertreter geschickt. Inspector Beauvoir.«
Der Staatsanwalt wandte sich an den Gerichtsdiener.
»Beweisstück A.«
Auf dem großen Bildschirm erschien ein Foto.
Wenn der Staatsanwalt mit Schreckensrufen aus den Zuschauerreihen hinter sich gerechnet hatte, wurde er enttäuscht.
Es herrschte völliges Schweigen, so als wäre der Gerichtssaal plötzlich verwaist. Die Stille war so vernehmlich, dass er sich umdrehte, um sicherzugehen, dass die Zuschauer noch da waren.
Sie starrten verblüfft auf das Foto. Einige mit offenem Mund.
Auf dem Bildschirm war ein ruhiges kleines Dorf zu sehen. An den Bäumen hingen keine Blätter mehr, sodass die Äste nackt in den Himmel ragten. Drei große Kiefern erhoben sich auf dem Dorfanger.
Im Gegensatz zu dem hellen, sonnigen Sommertag hinter den Fenstern des Gerichtssaals war es an dem Tag, an dem das Foto gemacht worden war, grau und feucht gewesen. Was die Häuser aus Naturstein, Schindeln und rotem Ziegel und mit dem warmen Licht in den Fenstern umso einladender aussehen ließ.
Es hätte ein Bild des Friedens sein können. Der Ruhe und Harmonie. War es aber nicht.
Mitten auf dem Foto war ein schwarzes Loch. Als wäre etwas aus dem Bild ausgeschnitten worden. Aus der Welt.
Hinter dem Staatsanwalt war ein Seufzer zu vernehmen. Lange, laut, so als sickerte das Leben aus dem Gerichtssaal.
Die meisten der Anwesenden sahen das schwarze Ding zum ersten Mal.