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»Wem haben Sie noch von Ihrer Cobrador-Theorie erzählt?«, fragte Gamache Matheo.

Es war früher Nachmittag, und die Besucher hatten ein paar Dorfbewohner zum Tee in die Pension eingeladen. Gamache hatte den Journalisten zur Seite genommen, damit sie in Ruhe ein paar Worte miteinander wechseln konnten.

»Niemandem. Ich wollte, dass Sie es als Erster erfahren.«

»Bon. Belassen Sie es bitte dabei.«

»Warum?«

»Ohne konkreten Grund. Ich will nur nicht, dass die Leute wegen unbestätigter Gerüchte noch nervöser werden.«

»Es ist bestätigt«, sagte Matheo leicht gereizt. »Das habe ich Ihnen doch gesagt.«

»Ihre Aussage allein reicht genauso wenig wie meine, Monsieur, und muss überprüft werden.«

»Und wie soll das gehen?«

»Einer meiner Leute überprüft, was Sie uns berichtet haben. Ich habe ihm das Foto gemailt. Die Bestätigung wird bald eintreffen. Dann können wir offen darüber reden.«

»Gut.«

»Merci.«

»Beeilung«, rief Ruth vom Sofa. »Ich sitze auf dem Trockenen.«

»Du warst seit 1968 nicht mehr trocken«, sagte Gabri und goss ihr Scotch in eine dünnwandige Porzellantasse.

»Nixons Wahl«, sagte Ruth. »Sehr ernüchternd.«

»Ist euch aufgefallen, dass jetzt überall auf dem Ding Vögel sitzen?«, fragte Clara.

»Sieht wie eine Statue aus«, sagte Reine-Marie.

»Ich hoffe, sie scheißen es voll«, sagte Matheo.

Mit den Spatzen, die auf dem Kopf und den Schultern der Gestalt hockten, hätte sie eigentlich komisch aussehen müssen, aber die Vögel verstärkten den Eindruck des Makabren. Sie glich einer schwarzen Marmorstatue auf einem Friedhof.

»Alles in Ordnung?«, fragte Reine-Marie.

Armand starrte wie alle anderen die Gestalt auf dem Dorfanger an. Er war in eine Art Trance gefallen.

»Ich hatte gerade ein sehr merkwürdiges Gefühl«, flüsterte er. »Einen Moment lang habe ich mich gefragt, ob wir das alles falsch verstanden haben und er nicht hier ist, um jemandem zu schaden, sondern um zu helfen.«

»Sie sind nicht der Erste, der den Cobrador heroisiert«, sagte Matheo, der neben ihnen stand und seine Worte gehört hatte. »Eine Art Robin Hood, der ein Unrecht wiedergutmacht. Aber das da«, er deutete mit dem Kopf zum Fenster, »ist etwas anderes. Man kann die Fäulnis geradezu riechen.«

»Das ist Mist«, sagte Gabri und schenkte Matheo Wein nach. »Monsieur Legault düngt seine Felder damit.« Genüsslich atmete er tief ein und stieß die Luft wieder aus. »Ahhhh. Riecht nach Scheiße. Wie haben Sie dieses Ding genannt? Cobrador?«

»Das ist nur ein Wort«, sagte Matheo. »Ein Spitzname.«

Er ging weg, bevor Gabri ihn weiter löchern konnte.

»Er hat ihm einen Spitznamen gegeben?«, fragte Gabri die Gamaches.

Armand zuckte die Schultern und beobachtete Matheo, der sich jetzt mit Clara unterhielt. Und er fragte sich, ob Matheo die Gestalt absichtlich Cobrador genannt hatte, und das ausgerechnet vor Gabri. Unmittelbar nachdem Gamache ihn gebeten hatte, es für sich zu behalten.

War es ein Versehen? Vorsatz? Strategie?

»Wo ist Katie?«, fragte Myrna.

»Vor ein paar Minuten war sie noch da«, sagte Patrick und sah sich um.

»Sie wollte zu der kleinen Brauerei in Sutton, um Nachschub zu holen«, sagte Lea und hob ihr Glas. »Der Beweis, dass Gott uns liebt und will, dass wir glücklich sind. Benjamin Franklin.«

Gamache betrachtete Lea Roux und fragte sich, ob er in nicht allzu ferner Zukunft unter ihr arbeiten würde. Die nächste Premierministerin von Québec.

Gabri, der Ruth mit der Scotchflasche folgte wie ein viktorianischer Diener, sagte: »Ich verabscheue Bier. Das kommt mir nicht ins Haus. Es stört das Gesamtbild.«

»Und die Ente nicht?«, fragte Patrick und beäugte Rosa.

»Wir machen Ausnahmen«, erwiderte Gabri. »Die Ente und die Schnepfe gehören zur Familie.«

»Eigentlich haben wir Ruth und Rosa gerne um uns. Gegen sie wirkt der Rest von uns normal«, erklärte Clara.

»Nun ja …«, sagte Lea.

»Glashaus«, sagte Ruth, drückte Rosa an sich und funkelte Lea an.

Geistesabwesend legte sie eine geäderte Hand auf Rosas Rücken mit den eng angelegten Flügeln. Wie ein kleiner Erzengel. Solange sie nicht den Schnabel aufmachte.

Lea holte Luft und lächelte. »Sie haben recht. Ich bitte um Entschuldigung.«

»Und Sie irren sich.«

»Wie bitte?«

»Benjamin Franklin hat das nicht über Bier gesagt«, erklärte Ruth.

»Wer dann?«, fragte Myrna.

»Franklin«, sagte Ruth.

»Aber Sie haben doch gerade gesagt …«, setzte Patrick an.

»Es geht nicht um Bier«, sagte Ruth. »Er hat in einem Brief an einen Freund über Wein geschrieben. Das Zitat haben Leute verdreht, die es besser fanden, den Intellektuellen und Diplomaten wie einen Mann des Volkes aussehen zu lassen. Ein Biertrinker statt ein Weinfreund. So läuft das in der Politik, non?« Sie wandte sich wieder Lea zu. »Illusionen.«

»Da haben Sie recht«, sagte Lea und prostete der älteren Frau mit ihrem Bier zu.

Aber der belustigte Ausdruck war aus ihren Augen verschwunden.

Ja, dachte Gamache, das Glas Scotch, das Gabri ihm eingeschenkt hatte, in der Hand, ohne davon zu trinken, hier ging auf jeden Fall mehr vor sich, als auf den ersten Blick zu erkennen war.

»Kommt er euch bekannt vor?«, fragte Reine-Marie.

Niemand musste fragen, wen sie meinte.

»Kann man so sagen, nachdem er jetzt schon länger als einen Tag hier herumsteht«, sagte Clara.

»Nein, schau noch mal hin.«

Schweigend betrachteten sie die verhüllte Gestalt, die allein im grauen Novembertag stand.

Die Stille schien sich über den Raum hinaus auszubreiten. Über die Pension hinaus. Sie legte sich über das gesamte Dorf. Es war, als würde sich die Glasglocke ausdehnen. Immer mehr von Three Pines bedecken.

Zwei Tage zuvor hatten auf dem Dorfanger Kinder gespielt, gelacht und getobt. Jetzt war da nichts mehr. Kein Leben. Keine Bewegung. Nicht einmal die Vögel auf den Schultern der Gestalt rührten sich. Es war, als hätten sie sich durch die Berührung mit dem Ding in Stein verwandelt.

»Er sieht aus wie der heilige Franz von Assisi«, sagte Clara.

»Das habe ich auch gerade gedacht«, sagte Reine-Marie. »All die Vögel.«

»Machen Sie sich nichts vor«, sagte Lea. »Das ist kein Heiliger.«

»Hast du den Erzengel Michael nach unserem Besucher gefragt?«, erkundigte sich Gamache bei Ruth.

Reine-Marie drehte sich zu ihm um, überrascht von der Frage. Und gleichzeitig neugierig auf die Antwort.

Niemand glaubte, dass die verrückte alte Dichterin tatsächlich von einem Erzengel besucht wurde. Eigentlich. Sie glaubten nicht einmal, dass sie es glaubte. Eigentlich.

Trotzdem waren sie neugierig.

»Hab ich.«

»Und?«

In diesem Augenblick tauchte oben auf dem Hügel ein Auto auf.

»Das muss Katie sein«, sagte Patrick. »Ach nein. Ist nicht unser Auto.«

Das Auto hielt neben der Gestalt. Die steinernen Vögel ergriffen die Flucht, die verhüllte Gestalt nicht.

Dann fuhr das Auto wieder an.

Es war Jean-Guy, und er brachte Neuigkeiten.

»Was hatte Inspektor Beauvoir herausgefunden?«

Der Verhandlungstag näherte sich dem Ende, und der Staatsanwalt trieb den Chief Superintendent zur Eile an. Wollte diese Information noch einholen, bevor die Richterin die Verhandlung vertagte.

Er wollte, dass sie sich als Letztes in den Köpfen der Geschworenen festsetzte, bevor sie zu den terrasses und in die Brasserien eilten, um sich an diesem heißen Sommernachmittag ein Bier zu gönnen.

Der Staatsanwalt nickte dem Gerichtsdiener zu. »Noch einmal Beweisstück A, s’il vous plaît

Und es erschien das Dorf mit dem dunklen Fleck in der Mitte. Dieses Mal folgte statt Stille oder des einen oder anderen langen Seufzers leises Gemurmel, als die Zuschauer es mit einer gewissen Aufgeregtheit wiedererkannten.

Der erste Schrecken war einer Mischung aus Vertrautheit und Spannung gewichen. Die Angst hatte sich gelegt. Sie fühlten sich jetzt beinahe wohl damit und waren stolz darauf, dass sie der seltsame Anblick nicht mehr irritierte.

Es war ja nur ein Bild. Nicht echt.

Und ihre Lässigkeit war aufgesetzt. Nicht echt.

Gamache wusste, dass es ein Fehler war, und sie wussten es vermutlich auch, sich an ein solches Wesen zu gewöhnen. Selbst auf einem Foto.

»Also?«, sagte der Staatsanwalt auffordernd.

Obwohl Gamache mit der Strategie, Tempo zu machen, einverstanden war, wusste er von vielen Zeugenvernehmungen vor diesem hohen Gericht, dass es ein verhängnisvoller Fehler war, zu hetzen und Fragen unbeantwortet zu lassen. Der Verteidigung Schlupflöcher zu lassen, die sich dehnen ließen, sodass ein Schuldiger entkommen konnte.

Jetzt befand Armand Gamache sich in der heiklen Situation, Klarheit und Geschwindigkeit miteinander verbinden zu müssen.

Und es gab Dinge, von denen nicht einmal der Staatsanwalt etwas wusste. Und von denen er auch nichts erfahren durfte.

»Inspektor Beauvoir hatte den Samstag damit verbracht, über den Cobrador del Frac zu recherchieren. Als er seiner Meinung nach genug Informationen gesammelt hatte, kam er nach Three Pines.«

»Warum ist er hingefahren? Warum hat er nicht einfach angerufen oder eine E-Mail geschickt?«

»Er wollte das Ding mit eigenen Augen sehen. Um sicherzugehen. Bis dahin kannte er ja nur das Foto, das ich ihm geschickt hatte. Er musste es selbst sehen.«

Was Gamache nicht sagte, war, dass Jean-Guy es außerdem nötig fand, ihm die Informationen von Angesicht zu Angesicht zu übermitteln. Weil er seine Reaktion sehen wollte.

»Und?«

»Wie viel weißt du, patron?«, fragte Beauvoir.

Sie saßen im Wohnzimmer der Gamaches in Three Pines. Jean-Guy, Reine-Marie und Armand.

»Nur das, was Bissonette erzählt hat und was ich an dich weitergegeben habe«, sagte Armand. »Der Cobrador del Frac.«

»Der Schuldeneintreiber«, sagte Beauvoir. »Ja. Aber nicht das Original.«

Er stellte seine heiße Schokolade ab und zog einen Ordner aus seiner Schultertasche. Dem Ordner entnahm er einige Blätter, hauptsächlich Fotos, und breitete sie auf dem Beistelltisch aus, schob sie ein paarmal hin und her, sodass er an einen Hütchenspieler erinnerte.

Als er endlich fertig war, lag ein Fächer aus Fotos vor den Gamaches.

»Das«, Beauvoir hob ein gesondert liegendes Foto hoch, »ist ein Cobrador del Frac.«

Es zeigte das inzwischen vertraute Bild eines Mannes in Frack und Zylinder. Weiße Handschuhe. Aktentasche. Darauf in großer Schrift: Cobrador del Frac.

»Aber was ich euch zeigen will, ist das hier«, sagte Jean-Guy.

Er schob das erste Foto der Reihe näher zu Gamache.

»Es stammt aus dem Jahr 1841. Ein Dorf in den Pyrenäen. Eine der ältesten erhaltenen Fotografien. Eine Daguerreotypie.«

Das Bild war grau, verschwommen. Es zeigte eine schmale kopfsteingepflasterte Straße, die sich zwischen Häusern aus grob behauenem Stein durchschlängelte. In der Ferne waren Berge zu erkennen.

»Es sind keine Menschen oder Tiere zu sehen«, erklärte Beauvoir. »Die Platte musste zehn Minuten lang belichtet werden. Alles, was sich in dieser Zeit bewegt hat, ist verschwunden.«

Armand setzte seine Brille auf und beugte sich über das Foto. Reglos saß er da. Hätte Monsieur Daguerre Armand Gamache fotografiert, wäre er zu sehen gewesen.

Schließlich hob er den Kopf und sah Jean-Guy über den Rand seiner Brille an.

Und Beauvoir nickte.

»Er wird als Cobrador bezeichnet«, sagte Jean-Guy beinahe im Flüsterton. »Das del Frac wurde erst viel später von einem schlauen Marketingfritzen angehängt. Das ist jedenfalls der echte. Das Original.«

Reine-Marie beugte sich vor. Sie konnte die Gebäude sehen, die Straße, die Landschaft dahinter. Aber sonst nichts. Ihre Augen suchten das Foto ab, bewegten sich rasch hin und her.

Sie sah es erst, als ihr Blick zur Ruhe kam.

Es kam auf sie zu, trat aus dem Bild heraus. Langsam. Löste sich davon. Wurde immer klarer.

Immer dunkler.

Bis es unverkennbar war.

Dort, an eine der Mauern gelehnt, stand ein Mann. So reglos, dass ihn die Belichtungszeit von zehn Minuten oder länger erfasst hatte. Und nur ihn.

Alles andere Lebendige, Pferde, Hunde, Katzen, Menschen, war verschwunden, als wäre es aus dem Dorf geflüchtet. Zurückgeblieben war nur dieses Ding in dem schwarzen Umhang mit Kapuze und mit dem dunklen ausdruckslosen Gesicht.

Es erinnerte an eines dieser grauenvollen Bilder nach dem Abwurf der Atombombe auf Hiroshima, als Menschen verglühten und ihr Umriss in eine Mauer eingebrannt wurde. Ein bleibender Schatten. Aber kein Mensch mehr.

Dort, in dem kleinen spanischen Dorf, stand ein Schatten. Es gab weder Zorn noch Trauer, weder Freude noch Mitleid oder Triumph. Kein Urteil. Das Urteil war bereits gefällt worden.

Er trieb etwas ein. Er war dort, um etwas einzutreiben.

»Die Besonderheit des Fotos ist erst vor kurzem jemandem bei den Vorbereitungen für eine Ausstellung über das Werk von Louis Daguerre in Paris aufgefallen«, sagte Beauvoir. »Das da«, er deutete auf das nächste, etwas schärfere Foto, »stammt aus den zwanziger Jahren, und das«, er nahm das nächste hoch, »ist von 1945. Eine Woche nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa.«

Auf diesem Foto stand die verhüllte Gestalt vor einem Mann mittleren Alters, der heftig protestierte, während andere zusahen.

»Der Mann wurde weggeschleppt und als Kollaborateur gehängt«, sagte Jean-Guy. »Er hatte Freunde und Nachbarn denunziert. Juden Verstecke angeboten und sie dann für Vergünstigungen an die Nazis verraten.«

Beim Anblick des entsetzten Gesichts des Mannes, der eingefallenen, unrasierten Wangen, der flehenden Augen, der zerzausten Haare und der zerrissenen Kleidung war es schwer, kein Mitleid mit ihm zu haben. Bis man an seine Opfer dachte. Die Männer und Frauen, Jungen und Mädchen, die sterben mussten. Seinetwegen.

Der Cobrador hatte ihn gefunden. Und war ihm gefolgt. Hatte ihn gejagt. Bis zum Ende.

»Hat der Cobrador ihn gehängt?«, fragte Reine-Marie.

»Nein. Er hat nur mit dem Finger auf ihn gezeigt«, sagte Jean-Guy. »Den Rest haben die anderen erledigt.«

Ein krummer Finger, dachte Gamache. Vielleicht hatte Ruth recht.

»Nach dem Krieg hat man in Spanien öfter einen Cobrador gesehen«, sagte Jean-Guy. »Und dann lange Zeit gar nicht mehr.«

»Matheo hat gesagt, dass er bei seinen Recherchen niemanden finden konnte, der einem ursprünglichen Cobrador begegnet war«, sagte Armand. »Und diese Fotos hat er auch nicht entdeckt.«

»Wahrscheinlich hat er nicht besonders gründlich gesucht«, sagte Reine-Marie. »Nach meiner Erfahrung im Nationalarchiv haben freie Journalisten enge Terminpläne und suchen in einem sehr engen Feld. In seinem Artikel ging es außerdem um den modernen Cobrador del Frac. Nicht um den alten.«

»Das wird es sein«, sagte Armand.

»Aber in letzter Zeit hat man ihn wieder einige Male gesehen«, sagte Beauvoir. »Das Original.«

»Wie jetzt hier«, sagte Reine-Marie.

Der Cobrador aus der Alten Welt war in die Neue Welt gekommen. In ihre Welt. Und man konnte den Verfall beinahe riechen. Die Fäulnis. Obwohl Gamache sich zu fragen begann, ob der Geruch vielleicht gar nicht von dem Cobrador kam, sondern von jemand anderem. In der Nähe. Von der Person, derentwegen er gekommen war.

»All das hat also im neunzehnten Jahrhundert begonnen«, sagte Reine-Marie und blickte erneut auf die Daguerreotypie. »Ich frage mich, warum.«

»Non«, sagte Beauvoir. »Non, non, non. Nicht im neunzehnten Jahrhundert, sondern im vierzehnten.«

»Vor siebenhundert Jahren?«, fragte Reine-Marie.

»Ja. Ihr habt doch sicher einen Atlas.«

Armand ging zu einem der Bücherregale im Wohnzimmer und kam mit einem großen Band zurück.

»Vor der spanischen Küste liegt eine Insel, zwischen Spanien und Marokko«, sagte Beauvoir und blätterte in seinen Unterlagen, bis er gefunden hatte, wonach er suchte. »Sie hieß Cobrador.«

Gamache beugte sich vor. »Aber da steht nicht Cobrador.«

»Nein, sie wurde umbenannt. Aber damals hieß sie so. Man schickte die Pestkranken dorthin. Und nicht nur die, sondern auch Leprakranke, Irre, Kinder, die mit Missbildungen auf die Welt gekommen waren, Frauen, die von der Inquisition der Hexerei beschuldigt wurden. Die Verbannung auf La Isla del Cobrador galt als schlimmere Strafe als der Scheiterhaufen. Das dauerte wenigstens nur ein paar Minuten. Diese Menschen wurden von der Kirche bis in alle Ewigkeit verdammt. Und zwar«, Jean-Guy tippte auf die Insel im Atlas, »in die Hölle.«

Gamache runzelte die Stirn. »Außer …«

Jean-Guy nickte. »Außer dass nicht jeder das Kleingedruckte gelesen hatte. Dummerweise starben nämlich nicht alle. Die Kirche und die Behörden gingen davon aus, dass entweder die Pest sie umbringen würde oder dass sie das unter sich erledigen würden. Zum Teil war es natürlich auch so. Aber dann passierte etwas. Es begann mit den Frauen. Einige von ihnen begannen, sich um die Säuglinge zu kümmern. Sie zu füttern und gesund zu pflegen. Sie großzuziehen.«

»Die Hexen haben eine Mitzwa befolgt«, sagt Armand.

»Das hat die Inquisitoren bestimmt auf die Palme gebracht«, sagte Reine-Marie.

»Sie hörten auf, einander zu bekämpfen, und fingen an, sich gegenseitig zu helfen«, sagte Jean-Guy. »Sie haben Häuser gebaut, Felder bestellt. Fern von den verseuchten Städten haben sich viele Pestkranke wieder erholt.«

»Bemerkenswert«, sagte Gamache. »Wirklich schön. Auf seine Art. Aber was hat das mit dem Cobrador zu tun?«

Er deutete nach draußen.

Die Gestalt war jetzt seit fast achtundvierzig Stunden da, und die Dorfbewohner, weit davon entfernt, sich daran zu gewöhnen, wurden immer unruhiger. Die Nerven lagen blank. Es kam zu Streitereien. Im Bistro konnte man langjährige Freunde miteinander zanken hören. Wegen Banalitäten.

Man hätte die gereizte Stimmung dem Umstand zuschreiben können, dass sie seit Tagen die Sonne nicht gesehen hatten. Es fühlte sich an wie Wochen. Es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Der Novemberhimmel war dauerbewölkt. Hin und wieder Regen, vermischt mit Schnee, der geradewegs durch die Kleidung und die Haut zu dringen und sich in den Knochen zu sammeln schien.

Aber der Kern des Problems stand auf dem welken Gras des Dorfangers.

Weit, weit weg von einer spanischen Insel aus dem vierzehnten Jahrhundert. Weit weg von zu Hause.

Die Glasglocke hatte sich weiter ausgedehnt, die Welt des Cobrador wurde größer, sein Herrschaftsgebiet wuchs, während das ihre in sich zusammenzufallen schien.

Gamache fragte sich, wie viel Zeit ihnen noch blieb, bevor etwas Furchtbares geschah.

»Einige von denen, die kräftig genug waren, kehrten aufs Festland zurück«, sagte Jean-Guy. »Aber sie waren durch die Krankheit entstellt, deshalb trugen sie Masken und Handschuhe. Und lange Umhänge mit Kapuzen.«

»Warum sind sie zurückgekehrt?«, fragte Reine-Marie.

»Rache«, sagte Gamache. Das war, wie er wusste, eine starke Triebfeder. Oft besiegte sie den gesunden Menschenverstand.

»Das dachte ich zuerst auch«, sagte Jean-Guy und drehte sich zu ihm. »Aber so war es nicht. Sie suchten nach den Leuten, die sie in die Verbannung geschickt hatten. Die sie verdammt hatten. Hauptsächlich Priester, hohe kirchliche Würdenträger. Richter. Sogar Fürsten. Aber so unglaublich es klingt, wenn sie sie aufgespürt hatten, haben sie nichts gemacht. Sie sind ihnen nur gefolgt. Was natürlich auch nicht ohne war, wie sich herausstellte.«

»Was ist passiert?«, fragte Gamache.

»Ich glaube, du weißt es. Ich glaube, sie wussten es«, sagte Beauvoir. Er musste nicht in seinen Notizen nachschauen. Er bezweifelte, dass er jemals vergessen würde, was er gelesen hatte. »Die Ersten wurden vom Pöbel, der sie für die Personifikation des Schwarzen Todes hielt, zu Tode geprügelt. Aber sobald einer starb, tauchte ein Neuer auf. Nach und nach merkte der Pöbel, dass die Leute mit den schwarzen Umhängen und den Masken keinen Schaden anrichteten. Offenbar strahlten sie sogar eine gewisse Würde aus. Selbst wenn sie wussten, dass sie sterben würden, standen sie einfach still da. Sie versuchten nicht, sich zu verteidigen. Sie wehrten sich nicht. Sie starrten einfach weiter denjenigen an, dem sie folgten, bis sie unter den Schlägen zu Boden gingen.«

Gamache drehte sich auf seinem Stuhl herum und warf einen Blick über die Schulter zum Dorfanger.

Eine solche Hingabe an eine Sache war bewundernswert. Aber es war vielleicht auch verrückt.

»Die Priester und die Behörden konnten nicht zulassen, dass das so weiterging«, sagte Beauvoir. »Sie fanden heraus, wer diese Leute waren und woher sie kamen. Man schickte Soldaten auf La Isla del Cobrador, und alle wurden abgeschlachtet, jeder Mann, jede Frau und jedes Kind.«

Gamache sog scharf die Luft ein. Selbst aus der Ferne, über Zeit und Raum hinweg konnte er den Gräuel, den Schmerz spüren.

»Als die Bevölkerung davon erfuhr, gab es einen Shitstorm«, sagte Beauvoir.

Gamache blickte auf die Ausdrucke, er war sich ziemlich sicher, dass dort nicht von einem »Shitstorm« die Rede war.

»Die Gestalten in den schwarzen Umhängen wurden Teil der Mythologie«, sagte Jean-Guy. »Man nannte sie Cobradores, nach der Insel. Aber bei dem ganzen Scheiß, der damals in Europa passierte, war das nur eine Nebensächlichkeit. Die Cobradores waren rasch vergessen.«

»Aber es sind nicht alle verschwunden«, sagte Reine-Marie.

»Nein. Offenbar wurden nicht alle auf La Isla del Cobrador umgebracht. Einige entkamen. Es hieß, dass ihnen Soldaten halfen, die es nicht über sich brachten, die Befehle zu befolgen. Hin und wieder wurde einer gesehen, meistens in den Bergdörfern.«

»Und sie folgten weiterhin Leuten, die etwas Schreckliches getan hatten?«, fragte Gamache. »Etwas, für das sie nicht zur Verantwortung gezogen worden waren?«

»So sieht es aus.«

»Und so wurde aus dem Cobrador ein Schuldeneintreiber.«

»Nein, das sind sie heute. Das ist eine moderne Deutung. Wörtlich übersetzt bedeutet ›Cobrador‹ ›Kassierer‹. Und das haftet ihnen an. Die Schuld. Aber in den Dörfern wurden sie als etwas anderes bekannt. Als Gewissen.«

Auf der Uhr im Gerichtssaal war es kurz nach fünf.

Alle anderen Verhandlungen waren vertagt worden. Man hörte Schritte auf den Fluren und Gemurmel und gelegentlich einen Ruf. Anwälte, die sich noch wenige Minuten zuvor im Gerichtssaal angebrüllt hatten, luden sich gegenseitig zu einem Drink auf der terrasse der nahe gelegenen Brasserie ein.

Im Gerichtssaal von Judge Corriveau herrschte eine angespannte Atmosphäre. Es war stickig. Jeder sehnte sich danach, hinaus in die frische Luft und den Sonnenschein zu kommen. Sowohl der Atmosphäre als auch der immer bedrückender werdenden Geschichte zu entfliehen.

Aber es musste noch eine Frage gestellt und beantwortet werden.

»Chief Superintendent Gamache«, sagte der Staatsanwalt. Ausnahmsweise klang er einmal nicht selbstgefällig oder hochtrabend. Zum ersten Mal an diesem Tag plusterte er sich nicht auf und zog keine Show ab. Seine Stimme war leise, ernst. »Haben Sie aus dem, was Inspektor Beauvoir über den Cobrador herausgefunden hatte, irgendwelche Schlüsse gezogen?«

»Ja.«

»Und zwar?«

»Dass jemand im Dorf etwas so Schreckliches getan hatte, dass ein Gewissen herbeigerufen worden war.«

Hinter den drei Kiefern

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