Читать книгу Jahr der Ratten - L.U. Ulder - Страница 13
Kapitel 10
ОглавлениеDas Herz schlug ihr vor Aufregung, als wolle es zum Hals herausspringen. Tausend Gedanken schossen Valerie durch den Kopf, als ihre Hand den Knauf der Eingangstür berührte. Sie atmete noch einmal tief durch und drückte die Tür auf.
Mit dem schummrigen Gefühl, als würde sie zu einer Prüfung gehen, betrat Valerie die Dienststelle der niederländischen Polizei in Leiden.
Sie war ohne einen offiziellen Auftrag unterwegs. Wenn jemand davon Wind bekam, dass sie privat in irgendwelchen Ermittlungsvorgängen herumschnüffelte, würde es im günstigsten Fall peinlich werden. Über die ungünstigere Variante wollte sie lieber gar nicht erst nachdenken, dazu war später noch genügend Zeit.
Wie sie es befürchtet hatte, saß ihr Anna jetzt im Nacken. Festgebissen in ihrer Theorie über unentdeckte Morde und einer europaweiten Verschwörung. Seit der Mail am frühen Montagmorgen waren ihre Anrufe ununterbrochen im Büro aufgelaufen. Zuerst hakte sie vorsichtig nach, ob sie schon etwas erreicht hätte. Mit jedem Anruf aber wurde sie dreister, fordernder bis an die Grenze zur Unverschämtheit. Nein, es war nicht damit zu rechnen, dass sie irgendwann von allein aufhörte. Schon um Ruhe zu bekommen, würde sie wohl oder übel einige Nachfragen anstellen müssen. Wobei sie Anna in einem Punkt beipflichten musste, die Häufung der Todesfälle in diesem kleinen Kreis war zumindest auffällig.
Es zeigte sich schnell, dass ihre Sorgen unnötig gewesen waren. Kaum dass sich die gut aussehende Frau im Dienstgebäude befand, kümmerten sich mehrere niederländische Kollegen um sie und ihr Anliegen. Es fand sich sofort ein Beamter, der deutsch sprach und sie unter den neugierigen Blicken seiner Kollegen durch das Haus geleitete.
In der ersten Etage schließlich stand Valerie einem baumlangen, etwas dicklichen Mann in einem kahlen, unpersönlich eingerichteten Büro gegenüber. Wäre nicht das Namensschild an der Wand neben der Eingangstür gewesen, sie hätte annehmen müssen, in einem Warteraum oder einem lediglich für Vernehmungen genutzten Raum zu stehen.
Behördenbarock, wohin das Auge schaute. Schreibtisch, Regal, Schrank. Alles in der gleichen tristen Farbe. Nichts Persönliches, weder eine Pflanze auf der Fensterbank noch ein aufgestelltes Bild auf dem Schreibtisch. Noch nicht einmal herumliegende Akten. Nichts, das darauf hindeutete, dass hier ein Mensch einen großen Teil seines Lebens verbrachte.
Nur eine Schreibunterlage und eine längliche Schale mit einigen Stiften und anderen Schreibutensilien. An der Wand hing ein von einer Polizeigewerkschaft gesponserter Dreimonatskalender, der einzige freundliche Akzent im Raum.
Fantasielose Wirkungsstätte eines hoffentlich nicht genauso fantasielosen Menschen.
Und der Mensch war riesig. So groß, dass er trotz ihrer für eine Frau beachtlichen Größe von 1,79 m von oben herab auf sie herunter schauen konnte. Seine Augen strahlten eine feine, kaum merkliche Herablassung aus, als schien er sich nur aus gespielter Höflichkeit zusammenzunehmen.
Valeries Gespür dafür war ebenso fein, trainiert durch die größte Enttäuschung ihres Lebens.
Godelief Prins besaß rotstichiges Haar, eine helle, teigige Haut und so gut wie keinen Bartwuchs. Auch seine weißen Arme waren völlig unbehaart. Über seinem Gürtel wölbte sich ein wabbeliger Bauchansatz. Nicht, dass er übermäßig dick war, aber er wirkte durch und durch schwabbelig und unsportlich. Wie eine Aufblaspuppe, die etwas von ihrem Druck verloren hatte und sich nun weich eindrücken ließ. Bei Frauen war er sicher nicht sonderlich erfolgreich, dürfte sich manche Abfuhr eingefangen haben. Vielleicht trat er deshalb der Kollegin so abweisend entgegen.
Prins hatte die Todesermittlungen im Fall Piet Lijsen geführt.
Er klemmte sich hinter seinen Schreibtisch, erst danach bot er Valerie mit einer knappen Handbewegung Platz an. Stirnrunzelnd hörte er sich an, dass sich ausgerechnet jemand von Europol für den Tod des Mannes interessierte.
„Ich wusste gar nicht, dass Europol selber Ermittlungen anstellt. Ich dachte, ihr sammelt nur Informationen und lasst sie dann verschwinden, damit keiner mehr etwas damit anfangen kann.“
Dabei lachte er aus vollem Hals, lehnte sich zurück und schlug mit der rechten Hand auf den Schreibtisch, dass die Stifte in der flachen Schale fast heraussprangen.
Dem gut und gerne zehn Jahre älteren Kollegen, der sie spöttisch von oben herab betrachtete, antwortete sie trocken:
„Bei manchen Fällen ermitteln wir auch selbst, bevor wir dann die Akten verschwinden lassen.“
Ihr Blick war eisig, der Ton gereizt, ein bisschen aggressiv vielleicht.
Und gar nicht spaßig, wie er besser zu dieser flapsigen Bemerkung gepasst hätte und wie er es in einer anderen Situation mit einem anderen Kollegen auch gewesen wäre.
Manchmal musste man ganz früh zubeißen, um sich Luft zu verschaffen. Und es funktionierte, der Mann zog zurück, er wurde vorsichtiger, handzahmer.
Zum Glück für Valerie, der nicht der Sinn nach einer derartigen Auseinandersetzung stand. Dafür war sie nicht in der richtigen Position und viel zu angespannt..
Er zuckte genervt mit den Schultern.
„Was wollen Sie wissen? Für uns war es eine routinemäßige Todesfallermittlung ohne den geringsten Hinweis auf ein Fremdverschulden. Die Nachbarn haben die Polizei verständigt.“
Sein Deutsch hatte einen ausgeprägten Akzent, er machte keinerlei Anstalten, die Ermittlungsakte zu Hilfe zu nehmen.
„Warum? Haben die etwas gehört oder gesehen?“
„Nein. Nur gerochen. Es hat etwas, sagen wir, unfein gerochen, das ganze Blut auf dem Fußboden. Man kann sogar sagen, dass es ziemlich gestunken hat.“
„Was haben Sie denn nun genau festgestellt?“
Der Kerl ließ sich wirklich jede Einzelheit aus der Nase ziehen. Er verdrehte genervt die Augen, schob seinen Stuhl vom Schreibtisch zurück und beugte sich nach unten.
„Am einfachsten ist es, Sie schauen sich einfach die Tatortbilder an, die sprechen für sich.“
Mit dem Kopf nach unten klang seine Stimme gepresst.
Als er wieder nach oben kam, war sein Gesicht von dem kurzen Moment knallrot angelaufen. Er sah aus, als hätte er sich gerade sportlich betätigt und sich dabei ungeheuer angestrengt.
„Ich habe nur noch unsere Duplikate. Die Originale sind bei dem Untersuchungsbericht.“
In der Hand hielt er einen grauen Aktenordner, den er hinterhältig grinsend vor sich auf den Tisch legte, aufklappte und ganz langsam, als würde er jeden Augenblick genießen, zu Valerie herüber schob.
Sie spürte seinen Blick auf ihrem Gesicht. Er belauerte sie, als sie sich über den Ordner beugte und schien nur auf eine Reaktion von ihr zu warten, um sich in allen seinen Vorurteilen bestätigt zu sehen.
Valerie war wild entschlossen, so cool wie möglich zu bleiben.
Aber sie ahnte bereits, dass es ihr schwerfallen würde, äußerlich teilnahmslos zu bleiben, unglaublich schwer. Schon damals, beim Kriminaldauerdienst, waren Todesermittlungen die Fälle gewesen, die sie die meiste Überwindung gekostet hatten.
Sie atmete unmerklich tief durch und wappnete sich innerlich.
Sie wusste, was auf sie zukam, es waren nur Bilder. Tote Bilder eines toten Körpers, kein Geruch, zum Glück kein Geruch.
Autoerotisch, ausgerechnet. Und dazu ein schmieriger Kollege, der ihr gegenübersaß, jede noch so kleine Regung von ihr registrieren würde und sich an ihrem Entsetzen aufgeilen wollte.
Valerie verfügte nicht annähernd über genügend Fantasie für das, was auf sie zu kam. Das Grauen, das diese Bilder transportierten, überstieg ihre Vorstellungskraft um ein Vielfaches.
Ein schlanker, drahtiger Mann hing in einer Vorrichtung. Auf den ersten Blick sah es aus wie ein Ritualmord, eine Kreuzigung. Als ihn das Leben verließ, verblasste die Haut zu Wachs. Der Kopf ruhte auf der Brust, vom Gesicht war auf dem ersten Bild nicht viel zu erkennen. Der linke Arm war ausgestreckt und mit Riemen an etwas festgeschnallt, das aus der vorhandenen Perspektive nicht zu erkennen war. Der rechte Arm war nur von der Schulter bis zum Ellenbogen angeschnallt. Der Unterarm baumelte nach unten. Eine bizarre Haltung, als mache er eine bedauernde Geste. Am rechten Handgelenk hing ein kleines schwarzes Gerät, wie ein Schaltkasten, aus dem ein Kabel herauskam.
Dieses Kabel führte aus dem Bild hinaus, ins Nirgendwo. Erst beim Umblättern sah Valerie ein technisches Gerät von der Größe eines Schuhkartons, auf einem kleinen Schränkchen, das vor dem Mann stand, mit einer Art Klemme befestigt.
Sie hatte nicht viel Ahnung von technischen Dingen, für sie sah das Gerät aus wie ein Elektromotor. Das nächste Bild, eine Detailaufnahme, zeigte einen Plastikriemen, einen innen gezahnten Plastikriemen, der kräftig genug war, in jeder Position seine ovale Form beizubehalten. Er saß auf dem Motor, das andere Ende ragte ins Freie, wurde von einem Gewicht seltsam verdreht.
Etwas Dunkles, Fleischiges hing an diesem Riemen, unregelmäßig, unwirklich.
Auch das nächste Bild, deutlich vergrößert, wollte noch keinen Aufschluss bieten, zu absurd war der Gedanke, der Valerie durch den Kopf schoss.
Dann, nach dem Umblättern eine Großaufnahme des Unterkörpers, gab es keinen Zweifel mehr.
Sie hielt die Luft an und starrte ungläubig auf das Bild. Sie fühlte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg und versuchte, dagegen anzukämpfen.
Der Mann besaß keinen Penis mehr.
An der Stelle, an der sich das männliche Geschlechtsteil befunden hatte, war nur noch ein unregelmäßiges, gezackt ausgefranstes Loch. Sehnen und Gewebeteile hingen heraus. Das dunkle Loch bildete einen unheimlichen Kontrast zum gläsern wirkenden restlichen Körper.
Nur die Hoden hingen noch, mit geronnenem, schwarz angelaufenem Blut verschmiert, an ihrer Position. Überflüssig gewordene Keimdrüsen.
Der Mann schien vollständig ausgeblutet zu sein, eine riesige Blutlache schimmerte dunkel auf dem Boden.
Valerie spürte wieder den Blick des niederländischen Ermittlers auf sich ruhen, sie schaute hoch und schob die Akte zurück. Es reichte ihr, der Mann war tot genug.
„Das ist ja grauenhaft“, sagte sie mehr zu sich. Ihr Magen fing an, zu rebellieren.
„Ja, ziemlich üble Geschichte“, pflichtete ihr er bei und schaute sehr zufrieden dabei aus.
„Und das hat er sich wirklich selbst angetan? Er war doch gefesselt.“
„Das sieht erst mal unwahrscheinlich aus, ich weiß. Aber wir haben das durchgespielt, es geht, wenn man etwas beweglich ist. Er hat sich die Beine gefesselt, danach diesen Kunststoffriemen an seinem Penis befestigt und mit dem Motor verbunden. Dann ist er mit den Armen in die Schlaufen geschlüpft, die an der Metallstange angeschraubt waren. Sie waren gerade so weit eingestellt, dass er hindurchrutschen konnte. Hier,“ er stand auf, kam um den Tisch herum und zeigte mit der Spitze seines Stiftes auf die Stelle eines Bildes. „Hier läuft die Kette des Flaschenzuges, an der er hängt. Daneben ist die Endloskette, sie läuft über das Rad, das den Flaschenzug antreibt. Er kam gerade soweit an sie heran, um sie zu bedienen. Er zog daran und der Haken begann, ihn nach oben zu ziehen. Bis er schließlich so weit in der Fesselung hing, dass ihn sein eigenes Gewicht in den Schlaufen festhielt. Um sich zu befreien, hätte er sich erst wieder nach unten herablassen müssen. Kommen Sie soweit mit?“
Valerie schloss für einen winzigen Moment die Augen, stellte sich das bizarre Szenario vor. Dann nickte sie.
„Und als die Illusion der Hilflosigkeit perfekt war, ging es weiter mit diesem kleinen Teil.“
Er blätterte um. Die Stiftspitze tippte auf den kleinen schwarzen Kasten.
„Das ist die Schalteinheit für den Elektromotor. Damit er sie nicht aus der Hand verlieren konnte, um wieder ganz von vorn anfangen zu müssen, hat er das Kabel an sein Handgelenk gebunden. Er hat an alles gedacht. Und dann wollte er sich einen schönen Abend machen, der aber nach hinten losgegangen ist.“
Godelief lachte wieder breit und sah Valeries verständnislosen Blick.
„Den Motor konnte er mit der kleinen Fernbedienung vorwärts und rückwärts laufen lassen.“
Immer noch runzelte Valerie die Stirn, ihre Miene drückte Ratlosigkeit aus.
Der niederländische Kollege deutete ihren fragenden Gesichtsausdruck falsch. Er krümmte seine Hand, als würde er eine Stange umfassen und bewegte die Hand hoch und runter.
Dazu griente er süffisant, wartete auf eine Reaktion von ihr.
„Vor zurück, vor zurück, vor zurück, vor zurück.“
Endlich kehrte sie in die Realität zurück.
„Ja, ich hab’s begriffen. Und dann?“
„Dann ist es ihm aus dem Ruder gelaufen. Er hat die Kontrolle verloren. Vielleicht, weil es so schön war.“
„Und das haben Sie wirklich alles nachgespielt? Auch die Sache mit dem …?“
Sie beendete den Satz nicht. Ohne eine Miene zu verziehen, zielte die Spitze ihres Zeigefingers mit dem langen, gepflegten Fingernagel provozierend auf Godeliefs Genitalbereich unterhalb seines wabbeligen Bauches.
Er lächelte unsicher, ihr Zeigefinger so unmittelbar vor seinen Kronjuwelen schien ihn aus dem Konzept zu bringen.
„Alles mussten wir nicht nachspielen“, beeilte er sich zu sagen. „Es war ausreichend, seine Bewegungsmöglichkeiten auszuloten.“
Mit gerunzelter Stirn fuhr der niederländische Kollege fort.
„Vielleicht hat er in der Ekstase die Richtung verwechselt. Anstatt zurückzufahren hat der Motor alles weiter in die Länge gezogen. Dieser Kunststoff war sehr scharfkantig und schnitt tief in das Fleisch hinein.“
Er sah Valerie ins Gesicht, die ihn wie entrückt anstarrte.
„Da war er ab, der …“
Godelief suchte nach dem passenden Wort.
„Schwanz“, vollendete Valerie trocken. „Unglaublich.“
„Genau. Weil er erigiert war, ist schlagartig eine große Menge Blut ausgetreten. Er hat Panik bekommen und wie wild an seiner Fesselung gezerrt und gerissen. Sehen Sie“, er beugte sich vor und zeigte auf eines der nächsten Fotos. „Das linke Handgelenk ist von der Schlaufe bis auf das rohe Fleisch aufgescheuert worden. Der Blutverlust dürfte ziemlich schnell gewesen sein, er wurde schwächer und schwächer. Irgendwann ist er ohnmächtig geworden und ist dann weiter ausgeblutet, wie ein Schlachtvieh.“
„Was ich nicht verstehe, ist das Klebeband um den Mund. Das ist ungewöhnlich, meinen Sie nicht auch? Wer verklebt sich damit seine Haut und die Haare? Er hat sich doch nach Ihrer Theorie selbst in diese Lage gebracht, warum sollte er dann laut schreien? Und dafür ist die Knebelung ausschließlich da, laute Geräusche zu verhindern.“
Der Niederländer fixierte sie finster. Es war offensichtlich, dass er ihre Fragen nur dahin gehend verstand, dass sie fortwährend seine Ermittlungen infrage stellte.
„Es war sein Fetisch. Er stand auf Fesselungen und Knebelungen. Je perfekter die Inszenierung, umso größer war der Lustgewinn. Wir haben in der ganzen Wohnung verstreut entsprechende Magazine gefunden.“
Valerie atmete tief durch. Sie vermied, weiter auf die Bilder zu sehen. Die Übelkeit in ihrem Magen machte sich immer vehementer bemerkbar. Um dagegen anzukämpfen, versuchte sie, sich in Piet Lijsens Gedankenwelt hinein zu versetzen.
„Dass er das alleine angestellt hat“, überlegte sie laut. „Das ist doch ein enormer technischer Aufwand gewesen.“ Sie schüttelte den Kopf. Die grauenvollen Tatortbilder hatten ihre anfängliche, vage Skepsis nicht beseitigen können.
„Gibt es nicht irgendeine Auffälligkeit, etwas Unnormales?“
„War das nicht schon unnormal genug?“
„War er alkoholisiert?“
„Ja, sehr stark.“
„Und wie viel Promille hatte er im Blut?“
„Das wissen wir nicht.“
„Wie, das wissen wir nicht? Wieso wissen Sie das nicht? Haben Sie keine Blutprobe entnommen?“
„Nein, natürlich nicht.“
Valerie musste sehr verständnislos geschaut haben.
„Kosten. Unnötige Kosten. Wenn eindeutig ein Selbstverschulden vorliegt, sparen wir uns die Blutentnahme. Wozu soll sie gut sein? Ob er nüchtern gestorben ist oder betrunken, macht keinen Unterschied mehr, jedenfalls nicht für die Ermittlungen. Bestenfalls die Unfallversicherung hätte etwas davon. Das ist übliche Praxis, bei Ihnen in Deutschland übrigens auch.“
„Ja, bei Verkehrsunfällen vielleicht, aber in so einem Fall ... .“
„Es war doch so etwas wie ein Verkehrsunfall, nur ohne Fahrzeug.“
Da war es wieder, dieses penetrante, schmierige Grinsen des Niederländers.
„Aber dass er betrunken war, wissen Sie trotzdem.“
„Ja natürlich, sehr stark. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Zeugen, die ihn an dem Abend noch gesehen haben, aus der Kneipe zum Beispiel, in der er getrunken hat.“
Immerhin, Zeugen wurden befragt.
„Und in diesem Zustand war er in der Lage, sich in diese Position zu bringen und diese komplizierte Apparatur zu installieren? Ist das nicht merkwürdig?“
„Er hat sich jeden Abend vollgesoffen, manchmal bis zum Abwinken. Das hat uns der Wirt seiner Stammkneipe bestätigt. Jemand, der Alkohol gewohnt ist, ist bis zu einem gewissen Grad in der Lage, kontrolliert zu handeln.“
Godelief machte eine kleine Pause, bewegte dann seine Arme wie zur Entschuldigung nach oben.
„Es gibt keinerlei Hinweise auf eine fremde Person in der Wohnung, einen Mörder. Darauf wollen Sie doch hinaus. Er wohnte im ersten Stock, keine Einbruchsspuren, nichts, rein gar nichts.“
„Und wenn es jemand war, den er ins Haus gelassen hat?“
„Ein Nachbar ist mit seiner weiblichen Begleitung gleichzeitig mit ihm nach Hause gekommen, es war nach Mitternacht und er war allein.“
„Allein und betrunken“, sprach Valerie grüblerisch vor sich hin.
„Weitere Untersuchungen haben Sie nicht angestellt? Ich meine, ob er vielleicht noch etwas anderes im Blut hatte zum Beispiel.“
Der Niederländer schnaufte und verdrehte die Augen.
„Ich wiederhole mich ungern, es gab keinen Grund dafür. Er war betrunken und geil. Er hat es sich selbst besorgt und dabei ist etwas schief gegangen. Vielleicht wollte er es besonders hart. Wer weiß das schon. Er war pervers und so ist er gestorben. Es gibt nichts, das es nicht gibt.“
Godeliefs Ton war eine Nuance unfreundlicher geworden. Er hob die Arme und breitete sie in der Luft aus..
„C’est la vie“.
Er stand auf und bewegte sich langsam in Richtung Tür. Er brauchte nichts mehr sagen, seine Körpersprache und Gestik war deutlich genug. Er hatte die Nase voll davon, sich gegenüber einer neugierigen Kollegin zu rechtfertigen und wollte sie loswerden.
Valerie beeilte sich, seinem Rauswurf zuvorzukommen. Auch sie hatte genug gehört, zufriedenstellendere Antworten waren nicht zu erwarten.
****
„Und? Hast du mit deinen Kollegen gesprochen?“
„Ja, begeistert war der nicht.“
„Wieso?“
„Weil ihm meine Fragen wie Klugscheißerei vorgekommen sind, als wollte ich seine Ermittlungen bewerten. Ist doch logisch.“
Anna ging darauf nicht ein.
„Und? Hast du etwas heraus bekommen?“
„Es gibt keinen Hinweis darauf, dass es kein Unfall gewesen ist.“
„Jetzt redest du mit mir, als wärst du im Dienst.“
Ihr Tonfall klang beleidigt.
„Was soll ich dir stattdessen sagen. Es ist so. Es deutet viel auf einen Unfall hin.“
„Also glaubst du nicht, dass jemand nachgeholfen hat. Und die anderen, die auch tot sind. Wie erklärst du dir das? So viele Zufälle kann es nicht geben. Es muss einen Zusammenhang geben.“
„Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich glauben soll. Er wohnte allein, im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses. Es gab keine Einbruchsspuren. Er war stark betrunken an diesem Abend. Aber ob jemand, der so betrunken ist, in der Lage ist, sich so zu fesseln wie auf den Bildern ... ?“
Valerie ließ den Satz offen. Die Bilder hätte sie nicht erwähnen sollen, aber da war es bereits zu spät.
„Bilder? Du hast die Bilder gesehen? Nun erzähl schon, was hast du gesehen?“
Valerie beschrieb ihr so nüchtern es ihr möglich war die Situation auf den Fotos.
„Und? War er groß?“
„Du regst mich auf mit deinem „und“. Wer soll groß gewesen sein? Schau doch in deine Akte, dann weißt du es.“
„Ich meine doch nicht den Kerl. Ich meine seinen, du weißt schon.“
Valerie verschlug es fast den Atem.
„Du bist unmöglich, also wirklich.“
„Warte kurz, es kommt jemand.“
Anna legte den Hörer an die Seite, unterhielt sich mit jemandem. Valerie konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde.
Die kurze Pause gab ihr Gelegenheit, ihre Gedanken zu sortieren.
Gegenüber der Freundin verhielt sie sich absichtlich betont zurückhaltend, was ihre Einschätzung des Falles anging. Anna würde sonst zu euphorisch reagieren.
Ihr Eindruck war, dass es sich der niederländische Kollege mit Blick auf seine Aufklärungsstatistik etwas zu einfach gemacht hatte. Keine Obduktion, keine feingeweblichen Untersuchungen, die Aufschluss über den Adrenalinanstieg im Körper des Toten hätten geben können. Noch nicht einmal eine einfache Blutuntersuchung.
Zur Ehrenrettung des Niederländers trug bei, dass er nichts von den anderen Todesfällen wusste.
Aber ein Betrunkener, kann der sich eine derart komplizierte Selbstbefriedigungsmaschine anschließen?
Es gibt für alles eine Theorie und eine Gegentheorie.
Ja, er kann, deshalb ist es schief gegangen.
„Hast du ihm etwas von den anderen Toten erzählt?“
„Nein. Ich wollte erst einmal schauen, ob es Ungereimtheiten gibt, ohne es gleich an die große Glocke zu hängen.“
„Du hast Angst dich zu blamieren, weil du denkst, ich spinne“, platzte es aus Anna heraus.
Valerie musste lachen.
„Nein, natürlich nicht. Oder vielleicht doch, ein kleines bisschen schon.“
Sie musste an Gesis Reaktion denken. Die hatte auch herzhaft gelacht und sich sofort an sämtliche Spinnereien von Anna erinnert.
„Und, was ist? Machst du weiter?“, rissen Annas Worte sie wieder aus den Gedanken.
„Ich weiß nicht so recht, wie ich ansetzen soll“, versuchte sich die Oberkommissarin zu winden.
„Heute sind zwei leitende Mitarbeiter des Direktionsbüros in unsere Abteilung gekommen.“ Anna-Lena senkte ihre Stimme, jetzt flüsterte sie beinahe.
„Sie wollten die Akten der Todesfälle haben, alle. Da waren natürlich auch unsere Toten dabei. Haben alles raus geschleppt. Ohne eine Begründung. Das ist noch niemals geschehen. Valerie, hier stinkt etwas. Die versuchen, etwas zu vertuschen, genauso wie damals, als dieser angebliche Überfall geschehen ist.“
Sonderbarerweise war keinerlei Furcht in Annas Stimme heraus zuhören? Sie klang trotzig und abenteuerlustig, mit einem ordentlichen Schuss „jetzt erst recht“.
Sagte sie die Wahrheit oder griff sie zu einer Notlüge, um Valerie bei der Stange zu halten?
Die versprach ihr seufzend, am Ball zu bleiben.