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Kapitel 3

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Metz, Frankreich.

Der Abend verlief in einer entspannten, ausgelassenen Atmosphäre. Fünf Ehepaare, seit vielen Jahren miteinander bekannt, manche von ihnen enger befreundet, trafen sich zu einem gemeinsamen Abendessen.

Odette freute sich bereits die ganze Woche auf diese Verabredung, war ihretwegen zum Friseur gegangen und hatte sich ein neues Kleid gekauft. Endlich war es dem Ehepaar Jacquemin wieder möglich, Verabredungen dieser Art gemeinsam genießen. Felix Dienst beim französischen Militär schloss sie lange Zeit vom gesellschaftlichen Leben aus. Besonders seine Auslandseinsätze bei der SFOR hatten ihr schwer zu schaffen gemacht. Als einzelne Frau in einer Gruppe von Ehepaaren fühlte sie sich schnell wie das sprichwörtliche fünfte Rad am Wagen. Um keine Eifersüchteleien zu provozieren, zog sie sich während seiner Abwesenheit immer weiter zurück, bis sie sich isoliert vorkam. Seit Anfang des Jahres war ihr Ehemann wieder Zivilist, der Armeedienst war endlich beendet. Er arbeitete nun in dem kleinen Handwerksbetrieb ihres Vaters, einem Installateur. Ihr gemeinsames Leben sollte jetzt wieder in geordneteren Bahnen verlaufen.

Marguerite, die Gastgeberin, eine attraktive Rothaarige mit üppigen Rundungen, verwöhnte ihre Gäste mit einem exzellenten Menü.

Nach dem Essen wurden Zigaretten angezündet, Musik lief im Hintergrund. Bei Rotwein und Cognac wurde die Stimmung immer ausgelassener. Marguerite war es dann auch, die an der Stereoanlage hantierte. Plötzlich dröhnte laute Partymusik durch den Raum und übertönte die Gespräche.

Die ersten Paare tanzten auf der schmalen Fläche zwischen dem Wohnraum und dem Esszimmer. Auch Felix und Odette drehten ein paar Runden, setzten sich aber bald wieder an den Tisch. Es dauerte nicht lange und die angeheiterte Gastgeberin zog Felix mit einem verlockenden Grinsen einfach vom Tisch weg. Odette registrierte es mit zusammengekniffenen Brauen. Nach einem Tanz versuchte sie, Blickkontakt mit ihrem Mann aufzunehmen, aber der reagierte nicht und tanzte ausgelassen weiter. Marguerites Ehemann saß ihr gegenüber und schien ihren Unmut bemerkt zu haben. Er verwickelte sie in ein Gespräch und lenkte sie damit eine Weile ab. Als sie wieder herüberschaute und registrierte, was sich auf der Tanzfläche abspielte, zogen sich ihre dunklen Augen zu wütenden Schlitzen zusammen.

Die Tanzpartnerin ihres Mannes hatte die Vierzig schon vor Jahren überschritten und war damit deutlich älter als die anderen Damen, die gerade an die Dreißig heranreichten. Vielleicht setzte sie deshalb zur Steigerung ihres Selbstwertgefühls ihre unübersehbaren Reize gezielt ein. Mit ihrem eng anliegenden schwarzen Kleid schmiegte sie sich dicht an Felix, der ihre Hüfte mit beiden Händen umfasste und dabei schon viel zu tief nach unten gerutscht war. Der Kopf der Frau war leicht nach hinten gestreckt, ihr Mund lächelte verführerisch. Es hatte den Anschein, als präsentiere sie ihm ihr Dekolleté auf dem Silbertablett. Felix stierte wie hypnotisiert auf die Brüste. Odette holte tief Luft und sah Marguerites Ehemann vorwurfsvoll an, der verlegen lächelte.

Die Musik wurde schneller und die Rothaarige drehte auf. Im Rhythmus der Musik schüttelte sie ihren Körper von oben nach unten durch und rieb dabei ihre Brüste aufreizend an Felix Oberkörper.

Das war zu viel für die gebürtige Südfranzösin, sie explodierte förmlich. Odette knallte ihr Glas auf den Tisch, dass die Flüssigkeit heraus schwappte und einen hässlichen Fleck auf der Tischdecke hinterließ. Während die Anwesenden sie verdutzt anstarrten, sprang sie auf, griff ihre Handtasche und schoss los. Elodie und Danielle liefen noch hinterher und versuchten, sie im Flur zurückzuhalten, aber es war längst zu spät. Es gab nichts mehr zu retten. Odette hatte beschlossen, wütend zu sein.

Im strömenden Regen liefen die beiden zum Wagen, der weiter vorn am Straßenrand parkte. Sie tippelte mit kleinen, schnellen Schritten vorweg, die Handtasche hielt sie dabei wie einen schützenden Baldachin über dem Kopf, er lief wie ein begossener Pudel hinter ihr her. Bemüht, sie einzuholen und ihr die Wagentür zu öffnen, damit die Frisur nicht noch weiter ruiniert wurde und er überhaupt keinen Zugang mehr zu ihr fand. Felix hatte zunächst gar nicht wahrhaben wollen, dass für sie der Abend gelaufen war, noch bevor er richtig angefangen hatte. Schließlich war er sich keiner Schuld bewusst, er hatte doch nur getanzt.

„Fahr endlich“, brüllte sie ihn an, als er sie bittend anschaute und keine Anstalten machte, den Motor zu starten.

Die ersten Meter saßen sie nebeneinander und sprachen kein Wort. Bis er an einer Kreuzung anhalten musste und wieder herüberschaute.

„Sie ist eine Nutte“, zischte Odette. „Sie hat eine Familie und macht sich an dich ran.“

„Bitte, das kannst du nicht ernst meinen. Wir haben doch nur getanzt.“

„Aber wie. Du hast sie mit deinen Augen ausgezogen. Es fehlte nicht viel und du hättest sie auf der Tanzfläche gef... .“

Der Rest des Satzes ging in Schluchzen unter, dicke Tränen zerstörten das Make-up und liefen über ihr Gesicht, sie vergrub es in den Händen. Felix legte seine Hand vorsichtig auf ihren linken Arm, aber sie stieß ihn mit Schwung weg.

„Ich werde dieses Haus nie wieder betreten. Ich will diese ..., diese Person niemals wiedersehen.“

Den Rest der kurzen Fahrt schwiegen sie. Nur der Regen prasselte monoton auf die Scheiben, untermalt von den gleichmäßigen Geräuschen der Scheibenwischer.

Das Ehepaar bewohnte einen pavillonähnlichen Bungalow, einige Schritt weit von der Straße entfernt, war er nur über einen Fußweg zu erreichen.

Gewöhnlich hielt Felix deshalb in Höhe des Weges und ließ seine Frau aussteigen. Er fuhr anschließend den Wagen in die Garage, die sich direkt neben dem Gehweg befand.

Der Renault rollte am Bordstein aus. Er stand noch nicht ganz, da flog bereits die Beifahrertür auf.

Trotz des Regens, der auf das Blechdach prasselte, ließ sich der Streit zweier Menschen vernehmen.

Eine Frau in Abendgarderobe sprang aus dem Wagen. Eine kleine, untersetzte Frau mit einem kräftig ausladenden Hinterteil und zu kurzen, viel zu kurzen, stämmigen Beinen, alles andere als eine Traumfigur.

Sie lief, die Handtasche zum Schutz der Frisur über den Kopf haltend, den Weg entlang bis zum Haus. Kurz vor dem Haus erwischte sie mit ihrem Pumps eine tiefe Wasserlache und hüpfte ein paar Schritte auf einem Bein. Der Wagen blieb unverändert stehen. Erst als sie im Haus verschwunden war, setzte er sich wieder in Bewegung. Der Renault wurde vor die Garageneinfahrt rangiert. Eine Fernbedienung ließ das Tor nach oben schwingen. Dann fuhr der Wagen schwungvoll hinein, der Motor erstarb.

Die Ankunft des Ehepaares war von einer dunklen Gestalt beobachtet worden. Den Kopf von einer Kapuze geschützt, schlich sich diese Person im Schutz des Regens heran und lauerte jetzt neben der Außenmauer auf das Herauskommen des Fahrers. Das Klappen der Fahrertür ließ auf sich warten. Plötzlich heulte der Motor wieder auf, genauso schwungvoll wie zuvor wurde das Fahrzeug nun rückwärts aus der Garage herausgefahren. Der Unbekannte fluchte und sprang hektisch in ein Gebüsch, um nicht von den umherirrenden Scheinwerfern erfasst zu werden. Die Rückleuchten verschwanden in der Dunkelheit, während sich das Tor schloss.

Unverrichteter Dinge zog sich der Mann wieder in den weißen Kastenwagen zurück, der wenige Meter entfernt am Straßenrand stand.

Durch die beschlagenen Scheiben war zu erkennen, dass die Kapuze nach hinten geschlagen wurde und die Gestalt in dem Sitz nach unten rutschte, bis sie gerade noch über das Armaturenbrett herausschauen konnte. Die Person schien sich auf eine längere Wartezeit einzurichten.

Keine fünfzehn Minuten später tauchte der Renault wieder auf, stand wartend vor dem aufschwingenden Garagentor und fuhr gleich darauf wieder hinein. Wieder wurde der Motor abgestellt, eine Tür klappte.

Felix stieg aus.

Einen billigen Blumenstrauß in Klarsichtfolie, für Odette hastig an der nächsten Tankstelle besorgt, hielt er in der linken Hand.

Er drückte auf den innenliegenden Schalter.

Als er wegen des herunterlaufenden Tores gebückt aus der Garage heraustrat, traf ihn ein Schlag völlig unvermittelt auf den Hinterkopf. Die Wucht war so stark, dass er benommen einige Schritte nach vorn taumelte und langsam in die Knie sackte. Bevor er sich mit der Hand abstützen konnte, traf ihn der mit Blei gefüllte Lederbeutel ein weiteres Mal hart am Kopf. Er verlor augenblicklich das Bewusstsein und fiel auf den nassen Asphalt.

Der Versöhnungsstrauß, zu einem letzten Gruß verkommen, lag achtlos auf dem Asphalt. Nachdem der schwere Körper in den Lieferwagen gewuchtet war, beförderte ein Tritt die Blumen weiter in die Gosse, wo das Regenwasser sie mitspülte, bis sie am Gitter des nächsten Gullys hängen blieben.

****

„Merde“.

Antoine Baudan schüttelte verärgert den Kopf und zerquetschte mit seiner rechten Pranke die leere Gitanes Schachtel. Er schleuderte sie wütend quer durch das Führerhaus des Lasters. Sie flog auf das Armaturenbrett, hüpfte über die Ablage und blieb in dem Spalt unter der Windschutzscheibe, am äußersten Ende liegen.

Sein Pech nahm einfach kein Ende. Eine Woche war vergangen, seit Antoine mit seinem Vierzigtonner in Richtung Südspanien gestartet war, schwer beladen mit Maschinenteilen. Jetzt befand er sich mit einer Ladung Gipskartonplatten auf dem Rückweg.

Sein Fuß trat das Gaspedal durch bis auf das Bodenblech, er wollte am späten Nachmittag zu Hause sein, um seinen kleinen Sohn vor dem Schlafengehen wenigstens einmal kurz in den Armen halten zu können. Ein schwaches, kaum spürbares Vibrieren im Lenkrad kündigte an, dass sich dieser bescheidene Wunsch in Luft auflösen sollte. Die Unruhe steigerte sich ziemlich schnell zu einem Schlingern, verursacht von einem Reifenschaden am Auflieger. Die Bewegungen des Lastzuges in den Rückspiegeln kontrollierend, rettete sich Antoine mit langsamer Geschwindigkeit auf einen kleinen Parkplatz. So blieb es ihm immerhin erspart, den Reifen mitten im Verkehr auf der Straße wechseln. Aber der Austausch kostete ihn viel Zeit, zu viel, um noch pünktlich heimzukommen. Damit war nun auch der sechste Wochentag verdorben.

Mit seiner Frau telefonierte er per Handy, sie reagierte wie erwartet verschnupft auf die Ankündigung, dass es wieder einmal spät werden würde.

Auch sein Versprechen, den Lastzug nur schnell auf dem Hof der Spedition zu parken, vermochte ihre Stimmung nicht aufbessern.

Jetzt waren ihm auch noch die Zigaretten ausgegangen. Als reichte sein Pech nicht, fuhr er in eine Gewitterfront hinein. Zunächst nur ein paar vereinzelte, dicke Tropfen, die auf die Frontscheibe klatschten, steigerte sich der Regen schnell zu einem nicht enden wollenden, kräftigen Schauer.

Antoine verließ bei der nächsten Raststätte die Autobahn, auf die paar Minuten würde es nun nicht mehr ankommen.

Er suchte sich einen der wenigen freien Plätze, schloss die Fahrertür ab und lief durch den Regen zum Gebäude. Der Zigarettenautomat stand im Eingangsbereich, hastig zog er sich eine Schachtel. An dem Hinweisschild mit dem Pfeil zur Toilette blieb er kurz stehen, neigte grübelnd den Kopf. Der Fernfahrer entschied sich gegen den Toilettenbesuch und beeilte sich, zurück in sein Führerhaus zu gelangen. Das T-Shirt und seine dunklen Haare waren auf dem kurzen Weg patschnass geworden. Er strich sich durch die Frisur und trocknete die Hände an seiner Jeansjacke, die neben dem Sitz hing.

Als die Zigarette brannte, startete er den Motor, schob den Gang hinein und fuhr los. Schwerfällig setzte sich der Sattelschlepper in Bewegung und reihte sich wieder in den schwachen, nächtlichen Verkehr der A 31 ein. Er befand sich jetzt unmittelbar vor Metz. Gleich darauf glitten schemenhaft die Lichter der Stadt an den von den Regentropfen glitzernden Seitenscheiben vorbei.

Ein paar Kilometer hinter Metz wechselte der Lastzug die Autobahn. Die Fahrt ging weiter auf der L’Autoroute de L’Est, die er an der zweiten Abfahrt, gleich hinter Argancy verlassen würde.

****

Der Mann hielt den Kleintransporter mitten auf der Autobahnbrücke an. Durch den heftigen Regen waren die Lichter der wenigen Fahrzeuge, die unter ihm die Autoroute befuhren, nur als verzerrte Punkte zu erkennen. Bessere Bedingungen für sein Vorhaben konnte er sich kaum wünschen. Jeder, der jetzt noch unterwegs war, interessierte sich nur dafür, einigermaßen trocken nach Hause zu kommen. Niemand würde sich für einen mit einer Reifenpanne liegen gebliebenen Kastenwagen scheren, geschweige denn anhalten und bei dem Regen seine Hilfe anbieten.

Es war ein makaberer Zufall, dass Felix die letzte Fahrt seines Lebens ausgerechnet in dem mit Werkzeugen und Ersatzteilen vollgepackten Transporter eines Klempners unternahm. Schließlich arbeitete er selbst auch in diesem Beruf.

Aber er bekam es ohnehin nicht mit, bewusstlos lag er auf dem Boden des Fahrzeugs, in dem schmalen Gang zwischen den Regalen.

Dem Mann, der ihn in diesen Zustand versetzt hatte, war es nur unter äußersten Anstrengungen gelungen, ihn in diese Position zu bugsieren.

Der Fahrer schaute sie noch einmal lauernd nach allen Seiten um, zog sich die Kapuze über den Kopf und stieg aus.

Er ging nach hinten, öffnete die rechte Heckklappe und löste von oben die Flügelschraube des Reserverades, das unter dem Wagenboden hing. Endlich ließ es sich aushaken und klappte nach unten. Er musste es hin und her bewegen, bis es sich aus der Halterung herausziehen ließ. Gut sichtbar lehnte er es an das Heck. Jeder vorbeifahrende Fahrer würde es im Scheinwerferlicht wahrnehmen können, damit erübrigten sich neugierige Fragen. Vom nicht nachlassenden Regen mittlerweile völlig durchnässt, trat er an die rechte Seite des Transporters. Wieder schaute er sich um.

Aber es war weit und breit niemand zu sehen, der den Plan durchkreuzen und Felix Schicksal abwenden konnte. Auf der kleinen Straße war kein Auto mehr unterwegs. Unten auf der Autobahn war der Verkehr ebenfalls spärlich geworden, gelegentlich zog ein Lastzug in einer Gischtwolke monoton seine Bahn.

Mit einem metallischen Geräusch öffnete sich die Schiebetür. Das Opfer lag zusammengekrümmt auf dem schmuddeligen, von derben Handwerkerschuhen geschundenen Fußboden. Es stöhnte schwach, das linke Bein zuckte. Als wolle Felix aus seiner Bewusstlosigkeit erwachen, zurückkehren ins Leben. Aber sein Mörder ging auf Nummer sicher. Wieder krachte der Totschläger auf den Kopf, diesmal auf die Schläfe. Es gab ein sattes Aufschlaggeräusch, das sogar den trommelnden Regen übertönte. Dabei hinterließ das teuflische Werkzeug kaum Spuren. Kein Blut, nicht einmal kleine Tropfen, nur eine Rötung.

Auch die würde bald verschwunden sein.

Das Zucken des Beines unterblieb augenblicklich, Felix dämmerte seinem Tod entgegen.

Am Fuß wollte er ihn aus dem Wagen ziehen, aber das andere Bein knickte ein, der Körper verkeilte sich und bewegte sich schließlich keinen Millimeter weiter. Keine Chance, er musste hineinklettern und über den Mann treten. Nur so konnte er den Oberkörper anheben und ihn aufrichten. Die Schultern festhaltend bugsierte er ihn weiter, bis die Füße zur geöffneten Schiebetür zeigten. Schließlich sah es so aus, als hätte sich Felix für eine kurze Pause in den Wagen gesetzt und an das Regal gelehnt. Der Transporter war so dicht an den Straßenrand gefahren worden, dass die aufgeklappte Hecktür gegen das Brückengeländer stieß. Damit war nach hinten ein akzeptabler Sichtschutz vorhanden. Jetzt musste nur noch die Beifahrertür geöffnet werden und er befand sich wie in einem kleinen Separee, von beiden Seiten der kleinen Landstraße vor neugierigen Blicken geschützt. Die Fahrer auf der Autobahn unter ihm konnten wegen des Regens und der Dunkelheit nicht erkennen, was sich gerade auf der Brücke über ihnen abspielte. Durch die Seitenscheibe des Fahrerhauses hindurch beobachtete der Mann den Verkehr, der die Autoroute in Richtung Osten befuhr. Er wartete mit aller Seelenruhe auf einen Lastzug, der über eine weite Strecke allein angefahren kam. So ließ er mehrere Fahrzeuge, die ihm ungeeignet schienen, passieren. Dann endlich näherte sich in einiger Entfernung ein Lastwagen, dahinter blieb die Autobahn auf einer langen Strecke dunkel, kein anderer Wagen war in gleicher Richtung unterwegs. Auf dem Dach des Führerhauses brannte ein ganzes Lichterband von zusätzlichen Halogenscheinwerfern, das Fahrzeug wirkte wie eine rollende Leuchtreklame.

Der Mann bewegte sich jetzt schneller.

Der Mörder beugte sich in den Transporter, ergriff Felix’ Arm und zog sich den Mann wie einen Sack auf die Schulter. Dann drückte er sich aus der Hocke in den Stand und machte zwei Schritte zum Geländer. Er drehte sich wieder nach hinten, um durch die Scheibe den Laster zu beobachten. Aber der war bereits im toten Winkel verschwunden und nicht mehr zu sehen.

Angestrengt lauschte er auf das Fahrgeräusch des Lastzuges.

Dann ließ er Felix los und gab dem rutschenden Körper mit einer schnellen Schulterbewegung zusätzlichen Schwung. Das Gewicht des Körpers verschwand, der Bewusstlose fiel hinunter ins Dunkel.

Keine Sekunde zu früh. Schon war das Rauschen der Reifen auf dem nassen Asphalt zu hören. Das Motorengeräusch des Lasters wurde durch die kurze Brückendurchfahrt verstärkt.

Der Aufprall des Körpers ging für den Mann auf der Brücke in dieser Geräuschkulisse unter. Er schaute sich für einen kurzen Augenblick das nun folgende Schauspiel an. Über sein markantes Gesicht glitt der Hauch eines zufriedenen Grinsens.

Dann schloss er die Seitentüren, hob das Reserverad in den Innenraum und schlug die Heckklappe zu. Ohne erkennbare Hast startete er den Transporter und fuhr davon. Noch vor der nächsten Ortschaft wurde der Wagen von ihm an einem Feldweg gedreht. Wieder fuhr er über die kleine Autobahnbrücke, verlangsamte dabei aber die Geschwindigkeit nicht. Aus den Augenwinkeln konnte er die Lichter des verunglückten Lastwagen sehen. Befriedigt stellte er das Radio des gestohlenen Transporters an. Der Wagen verschwand im Dunkel der Nacht auf der Landstraße in Richtung Metz.

****

Der Regen war schlimmer geworden. So stark, dass Antoine kaum noch etwas sehen konnte, weit nach vorn gebeugt reckte er sich über das Lenkrad. Die Scheibenwischer liefen in der höchsten Stufe. Vor ihm fuhr ein anderer Lastzug. Weil der etwas langsamer unterwegs war, war Antoine viel zu dicht aufgefahren. Die Quittung dafür war die volle Gischt, die auf die Scheibe hochgeschleudert wurde. Er trat das Gaspedal voll durch, aber es änderte sich weder das Motorengeräusch noch die Geschwindigkeit.

Mit der schweren Ladung würde er höchstens einen oder zwei Kilometer mehr draufbekommen als der Kollege vor ihm. Der Überholvorgang würde ewig dauern.

Hektisch zog er an seiner Zigarette und blieb hinter dem anderen Lastwagen.

Bei Argancy wurde ihm die Entscheidung abgenommen, der Fahrer vor ihm setzte den Blinker und verließ die Autobahn.

Antoine hatte wieder freie Fahrt.

Mit unverminderter Geschwindigkeit näherte er sich einer kleinen Brücke, die die Fernstraße überspannte. Im Schutz des Bauwerkes änderte sich für einen winzigen Augenblick schlagartig die Geräuschkulisse. Das nervtötende Trommeln des Regens auf der Frontscheibe verschwand. Die Musik aus dem Radio war plötzlich wieder verständlich, außerdem konnte er endlich wieder klar sehen, wenn auch nur für einen verschwindend kurzen Augenblick.

Am Ende der Brücke erwischte ihn der Regen umso heftiger, wie aus riesigen Kübeln klatschte es auf die Front. Gleichzeitig nahm er vorn rechts einen dumpfen Schlag wahr. Ein Schlag, untermalt von einem splitternden Geräusch. Ungläubig starrte er schräg nach vorn, sah, dass die riesige Windschutzscheibe vor dem Beifahrersitz eine fußballgroße Beschädigung aufwies. Er konnte es nicht fassen. Wie ein überdimensioniertes Spinnennetz wölbte sich die Scheibe nach innen. Während er noch entgeistert auf den Schaden guckte, spürte er eine Unruhe im Fahrzeug. Es rumpelte an der Vorderachse. Die Zugmaschine fuhr über etwas hinweg. Etwas, das groß genug war, um das schwere Fahrzeug in eine hüpfende Schlingerbewegung zu versetzen. Diese Aufwärtsbewegung setzte sich wellenartig fort, bis auch die letzte Achse des Lastzuges über den unbekannten Gegenstand gerollt war.

„Merde.“

Im Grunde war es längst zu spät für eine Reaktion, die alles nur noch schlimmer machte. Aber der Schreck ließ Antoine mit voller Wucht auf das Bremspedal treten. Auf der nassen Fahrbahn blockierten die Räder sofort. Durch die Schlingerbewegung war der Geradeauslauf nicht stabil, die rechte Seite überbremste. Der Lastzug knickte ein, das Heck der Zugmaschine drückte sich ein wenig nach links, wodurch die Front in Richtung des Straßenrandes wies. Der schwer beladene Auflieger schob sie unaufhaltsam weiter in Richtung Graben.

Antoine ließ die Bremse los und kurbelte wie wild am Lenkrad, aber der einmal in Gang gesetzte Mechanismus ließ sich nicht mehr stoppen. Die Reifen der rechten Fahrzeugseite kamen von der befestigten Fahrbahn ab und gerieten auf den weichen Seitenstreifen, der durch den Regen jegliche Stabilität verloren hatte. Die Räder sackten tief ins Erdreich ein und bremsten den Lastzug bis zum Stillstand sanft ab. Der Lkw aber neigte sich weiter und weiter nach rechts zur Seite. Unentschlossen, als könne er sich nicht entscheiden, was er als Nächstes machen wolle, stand der Zug schief am Fahrbahnrand. Die Gipskartonplatten im Laderaum drückten gegen die Sicherungsgurte und brachten sie zum Reißen. Die Ladung verrutschte nach rechts und schob gegen die Plane. Am Ende dieser Kettenreaktion kippte das Fahrzeug schließlich samt Auflieger wie in Zeitlupe zur Seite in den Graben.

Danach herrschte eine gespenstische Ruhe. Der Motor war aus, durch den jähen Stopp abgewürgt. Auch der Scheibenwischer versagte seinen Dienst. Nur das Prasseln der Regentropfen auf der nach oben weisenden Seitenscheibe der Fahrertür war zu hören.

Antoine war durch das Führerhaus gewirbelt worden. Kopf und Knochen schmerzhaft angestoßen, lag er innen auf der Beifahrertür und brauchte eine Weile, um die Situation zu erfassen und den Schock zu verdauen.

Er schien sich an das splitternde Geräusch zu erinnern, sah auf die Windschutzscheibe. Aber im Dunkel des Grabens ließ sich der Schaden nicht einschätzen, nur undeutlich waren weißliche, bizarr geformte Linien im Glas erkennbar. Vorsichtig fasste er an die zu ihm weisende Eindellung der Scheibe. Er konnte sie mit dem Finger eindrücken, das zersplitterte Glas knirschte dabei.

Die Delle besaß die Größe eines Kopfes.

Diese Erkenntnis schien ihm durch den Kopf zu jagen. Hektisch zappelte er, bis er sich drehen und aufrichten konnte. Er stand auf der Innenseite der Beifahrertür und langte so gerade an die Fahrertür heran, seiner einzigen Möglichkeit, das Führerhaus zu verlassen. Mühsam kletterte er weiter nach oben und drückte mit ausgestreckten Armen die schwere Tür nach oben, während gleichzeitig seine Füße auf den Seitenflächen der Sitze Halt suchten. Endlich schaffte er es, wand sich aus dem Türspalt und saß schwer atmend auf der Dachkante des Führerhauses. Augenblicklich war er vom Regen durchnässt. Antoine sprang hinunter auf die Fahrbahn, rutschte aus und schlug schwer auf das Knie. Mit den Händen fing er sich ab, sonst wäre auch das Gesicht unweigerlich auf die Straße geknallt. Beide Hände umfassten das schmerzende Knie, sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen. Fassungslos starrte er auf den im Graben liegenden Lastwagen und schüttelte immer wieder den Kopf. Er humpelte los, nach hinten bis zum Heck.

Im fahlen Licht konnte er erkennen, dass die Gipskartonplatten beim Verrutschen die Plane durchschlagen hatten. Jetzt lagen sie, ausgebreitet wie riesige Fächer, auf dem Grünstreifen hinter dem Graben.

Weiter zurück in Richtung der Brücke, lag etwas auf der Fahrbahn.

Es war kaum zu erkennen und fiel ihm nur auf, weil seine Oberfläche nicht wie die Straße vom Regen glänzte.

Ein längliches Etwas, dunkel, unnatürlich verdreht.

Langsam, wie in einem Albtraum, ging er darauf zu.

Je näher er kam, umso unsicherer wurden seine Schritte mit dem schmerzenden, schräg abgewinkelten Bein. Plötzlich auftauchende und rasch größer werdende Scheinwerfer ließen die Schmerzen verschwinden. Aufgeregt rannte er dem Licht entgegen. Beide Arme über dem Kopf hin und her fuchtelnd lief er auf dem Randstreifen, als ginge es um sein Leben. Im Vorbeilaufen nahm er einen zerschmetterten, entstellten Körper wahr, drehte seinen Kopf zur Seite. Dabei geriet er mit dem Fuß auf einen hellen Gegenstand und knickte um. Der Versuch, sich abzufangen, scheiterte, er rutschte auf einer glitschigen Masse aus und stürzte hart auf den Asphalt. Im gleichen Augenblick rauschten die Räder eines Lastzuges haarscharf an ihm vorbei, die im Sog des Fahrzeuges befindliche Gischt hüllte ihn vollständig ein. Es folgte ein sonderbar schlürfendes, schleifendes Geräusch. Auch dieser Lastzug erwischte den Körper mit ungebremster Wucht und zerstörte das, was noch vorhanden war, vollends.

Aber der Fahrer hatte mehr Glück als Antoine zuvor. Es gelang ihm, sein Fahrzeug unbeschadet zum Halten zubringen. Weit hinter dem verunglückten Sattelschlepper kam er zum Stehen.

Mühsam brachte sich Antoine auf die Knie. Er fuhr sich über das Gesicht, überall fühlte er körnchengroße Schmutzpartikel, die der Sog des Lastwagen in der Gischt mitgeführt hatte.

Ungläubig starrte er auf das, was um ihn verteilt den Boden bedeckte. Eine graue Masse von einer merkwürdigen Konsistenz hatte ihn ausrutschen lassen. Er fühlte über den Asphalt, hielt einen kleinen grauen, wurmähnlichen Gegenstand zwischen seinen Fingern. Dann fiel sein Blick auf dieses seltsame, helle Gebilde, das ihn ausrutschen ließ.

Als er endlich begriffen hatte, um was es sich handelte, schüttelte er angewidert seine Hand, um das kleine, graue Ding loszuwerden, sprang auf und lief. Ohne Ziel, einfach weg. Er kam nur wenige Meter weit, das Grauen ließ ihn am Straßenrand zusammensacken. Auf den Knien kauernd, die Hände nach vorn gestützt, übergab er sich.

Es war die Gehirnmasse eines Menschen, in der er gesessen hatte. Das helle Gebilde, das ihn straucheln ließ, war der obere Teil eines Schädels, wie eine halbe Eierschale lag er auf der Straße.

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5.

Jahr der Ratten

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