Читать книгу Jahr der Ratten - L.U. Ulder - Страница 14
Kapitel 11
ОглавлениеValerie befand sich auf dem Weg nach Österreich.
Am Donnerstag war sie kurzerhand im Büro ihres Vorgesetzten aufgetaucht und hatte darum gebeten, den nächsten Tag dienstfrei zu erhalten. Problemlos war ihrem Wunsch entsprochen worden.
Bereits am frühen Abend legte sie sich zu Bett, um ein wenig vorzuschlafen, aber eine innere Unruhe ließ sie nicht in den Schlaf kommen. Zwei Stunden lang wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Als nichts half, stand sie kurz entschlossen auf und duschte. Nach einem nächtlichen Frühstück setzte sie sich in ihren Kombi und fuhr in gemütlichem Tempo los.
Natürlich hatte Anna keine Ruhe gegeben. Valeries vage geäußerte Zweifel an den niederländischen Ermittlungen waren das gefundene Fressen für sie gewesen. Noch am selben Abend ihres Besuches der Polizeidienststelle in Leiden bombardierte Anna sie mit Telefonaten, kaum war das Gespräch beendet, klingelte das Handy erneut, weil ihr wieder etwas Neues eingefallen war.
Am darauffolgenden Donnerstag raffte sie sich auf und telefonierte mit der Dienststelle in Lienz, Österreich. Sehr schnell war sie mit dem Kollegen verbunden, der mit den Unfallermittlungen im Fall Florian Rosbacher vertraut war.
Im breitesten österreichischem Dialekt erklärte ihr der Hauptmann, dass es kaum etwas zu ermitteln gegeben hatte. Ein Unfall wie jeder andere auch.
„Aber Sie müssen unbedingt in unsere schöne Gegend kommen. Verbindens doch einfach Ihre Ermittlungen mit einem Kurzurlaub und fahren Sie über unsere wunderbare Großglocknerstraße. Und dann kommens vorbei und wir schaun gemeinsam in die Akte. Vielleicht hilft's Ihnen doch ein wenig.“
Die lange Fahrt bot viel Zeit, über ihre derzeitige Situation nachzudenken.
Etwas über ein halbes Jahr war vergangen nach der Enttäuschung mit Jan und der geplatzten Hochzeit.
Die Hospitationsmöglichkeit bei Europol ergab sich kurzfristig, als ein bereits feststehender Bewerber ausfiel. Ob der Kollege erkrankt war oder was immer sonst für Gründe eine Rolle gespielt hatten, sie wusste es nicht und hatte es auch nie erfahren.
Es gab die Option, den Aufenthalt nach der zwölfmonatigen Hospitationszeit auf mehrere Jahre zu verlängern. Wenn sie diese Frage sofort beantworten müsste, käme sicherlich ein klares Nein. Zu kühl und abweisend war der Empfang in der Abteilung gewesen, es hatte den Anschein, als wüsste man nicht so recht, was man mit ihr anfangen sollte.
Ihr direkter Vorgesetzter, First Director in der Abteilung zur Bekämpfung von Geldwäsche, war ein Brite. Ein kleines, schmächtiges Männchen mit dünnen, hellen Haaren und Sommersprossen auf blasser Haut. Beinahe lächerlich seine Versuche, durch eine besonders straffe Haltung größer zu wirken, weil die attraktive Frau ihn überragte. Eine Goldrandbrille verlieh ihm immerhin ein intellektuelles Aussehen.
In den ersten Tagen wusste sie nicht, wie sie den Mann einschätzen sollte. Im persönlichen Gespräch reagierte er merkwürdig ablehnend auf sie. Valerie fühlte sich wie ein mühsam geduldeter Störenfried, wie ein Besucher, der nicht vom Hofhund gebissen wird, weil sein Herrchen daneben steht. Wenn er nicht mit ihr reden musste, beobachtete er sie verstohlen, direkt unheimlich. Sie spürte, dass in dieser Abteilung etwas nicht stimmte. Die Luft knisterte geradezu, so viele negative Schwingungen waren auszumachen. Dann, nach einigen Tagen ihrer Anwesenheit wurde ihre Ahnung bestätigt.
Er begrapschte bei jeder sich bietenden Gelegenheit seine Sekretärin, konnte seine Finger kaum von ihr lassen.
Die beiden pflegten ein inniges Verhältnis miteinander, das sie zu vertuschen suchten. Denn beide waren verheiratet, unglücklicherweise nicht miteinander.
Aber Liebe macht bekanntlich blind, blind und unvorsichtig. Deshalb war es für Valerie ein Leichtes gewesen, die beiden Turteltauben nach wenigen Tagen zu durchschauen. Die Hospitantin, die so plötzlich in die Abteilung versetzt wurde, störte das junge Glück. Beide konnten sich nicht mehr so ungestört hingeben wie zuvor. Und das ließen sie die deutsche Kriminaloberkommissarin deutlich spüren. Sie deckten sie mit den unsinnigsten Aufträgen ein, aus der selbstständigen Ermittlerin war eine Aktenbotin geworden. Ermüdend der Auftrag, Statistiken der verschiedenen Länderpolizeien für das europoleigene System kompatibel umzuarbeiten.
In dieser Abteilung würde sie definitiv nicht bleiben. Ihre Entscheidung für eine Verlängerung des Aufenthaltes in dieser Behörde würde sie davon abhängig machen, ob es ihr möglich sein würde, die Abteilung zu wechseln.
Zu allem Übel lag ihr ihre Mutter in den Ohren, bei der Polizei hinzuschmeißen und wieder das Jurastudium aufzunehmen.
Bei dem Gedanken dachte sie wehmütig an das alte Kapitänshaus ihrer Eltern in Blankenese, nur wenige Schritte vom Elbestrand entfernt.
Mit den beiden verwitterten Holzintarsien in der Eingangstür. In der oberen Hälfte ein altes Segelschiff, unten ein dicker Pottwal, der gerade seine Fluke auf das Wasser klatschen ließ. Wie oft hatte sie auf dem abgewetzten Hausstein gesessen und fasziniert den Wal angeschaut und mit ihren kleinen Fingern über das narbige, von den Jahren gezeichnete Holz gestreichelt. Oder hatte mit einem Blatt Papier vor sich auf dem Trittstein gekniet und den Wal nachgezeichnet.
Sie erinnerte sich, wie ihr Vater einmal früher von seiner Arbeit aus der Kanzlei heimgekommen war und ihr zuschaute, wie der Wal auf ihrem Blatt Formen annahm. Ohne auf seinen teuren Anzug Rücksicht zu nehmen, setzte er sich auf den Boden, nahm sie auf den Schoß und erzählte ihr die Geschichte von Moby Dick, ließ sie mit staunenden Augen und offenem Mund eintauchen in Melvilles' Welt von Kapitän Ahab, dem Matrosen Ismael und dem Harpunier Queequeg. Und als ihr eine Träne über die Wange lief, weil sie den Wal jagten, wischte ihr Vater sie mit seinem Daumen fort.
Ihre Liebe zum Wasser wurde an diesem Tag erweckt. Schon als Kind begann sie zu segeln, als sie größer wurde und nach mehr Action verlangte, fing sie mit dem Surfen an.
Einen kurzen Augenblick gönnte sie sich noch und genoss den überwältigenden Ausblick von der höchsten Stelle der Großglocknerhochalpenstraße, dann machte sie sich auf den Weg. Am südlichen Ende der Ausflugsstraße, in Lienz, war sie mit einem Hauptmann der österreichischen Bundespolizei verabredet.
Der überaus freundliche Beamte hatte ihr in dem Telefonat bereitwillig die Einsicht in die Ermittlungsakten angeboten und die Fahrt über die Hochalpenstraße in den rosigsten Farben beschrieben. Als sie das Gespräch beendet hatte, war sie nicht mehr sicher, ob sie mit der Polizei oder dem örtlichen Fremdenverkehrsverein telefoniert hatte. Ganz nebenbei beschrieb er ihr noch die Stelle, an der der Exsoldat ums Leben gekommen war. Und so stand sie wenig später an der Absturzstelle und schaute mit einem fröstelnden Gefühl hinunter in den Abgrund, der an dieser Stelle eher seicht war und gar nicht so bedrohlich wirkte.
Der Zauber der Fernsicht war dahin. An dieser unscheinbaren Stelle auf dem Weg zum Pasterzengletscher war der Tod zu Hause.
Jemand hatte ein Holzkreuz aufgestellt, mit dem eingelassenen Bild des Verstorbenen. Ein schöner Brauch, dachte sie. Aus der Akte wusste Valerie, dass Florian Rosbacher verlobt gewesen war. Unter dem Vornamen standen das Geburtsdatum und der Sterbezeitpunkt. „Zu Früh“, war darunter geschrieben.
Nachdenklich fuhr Valerie nach unten, noch ein wenig langsamer und vorsichtiger als zuvor.
Der erste Eindruck am Telefon hatte sie nicht getäuscht. Mauritz Obermeier war ein freundlicher Mensch, der mit offenen Armen und herzlichem Lachen auf sie zu ging. Seine braun gegerbte, ledrig wirkende Gesichtshaut mit den tiefen Furchen bildete einen starken Kontrast zu schlohweißen, vollen Haaren und einem ebenso weißen, penibel gestutzten Kinnbart. Helle, unternehmungslustige Augen blitzten sie unternehmungslustig an.
Mit den Worten „und, habe ich zu viel versprochen?“ holte er sie an der Wache im Eingangsbereich ab und begrüßte sie dabei wie eine alte Freundin, die er lange nicht gesehen hatte. Weil sie nicht gleich auf seine Frage reagierte, bohrte er nach.
„Na, unsere Hochstraße meine ich. So etwas Fantastisches haben Sie bestimmt noch nicht gesehen.“
„Ja, wunderbar. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit.“
Er schaute irritiert, vermutlich war er mehr Enthusiasmus gewohnt.
Mit elastischen Schritten ging er dann voran und führte sie in sein Büro. Dabei wirkte er nicht wie ein Beamter, der kurz vor seiner Pensionierung stand, sondern wie ein Skilehrer, der eine neue Gruppe voller Tatendrang an den Hang geleitet.
Valerie riss die Augen auf und runzelte die Stirn, als sie den großzügigen Raum betrat. Es war, als trete sie vom kahlen, schmucklosen Flur in eine andere Welt. Alle Büros der Polizei in den unterschiedlichsten Ländern sehen immer irgendwie gleich aus. Quadratisch, praktisch, hässlich und meistens hellgrau. Wobei der Raum des niederländischen Kollegen in Leiden auf der Skala der größtmöglichen Abscheulichkeiten ganz oben landen würde, dicht gefolgt von der Abstellkammer, in der Valerie in Den Haag ihr Dasein fristen sollte.
Obermeier dagegen hatte sein Büro in ein gemütliches Wohnzimmer umgewandelt. Die Wände waren farbig, in einem zarten Cremeton gestrichen worden, sogar eine umlaufende Zierbordüre war nicht vergessen worden. Ein mächtiger alter Schreibtisch mit lederner Oberfläche dominierte den Raum, dahinter stand ein ebenso wuchtiger Sessel mit zum Tisch farblich passendem Leder. Eine einladende, dunkelbraune Sitzgruppe für seine Besucher rundete die Einrichtung ab.
Selbstverständlich registrierte er Valeries erstaunten Blick, er schien förmlich auf eine Reaktion seiner deutschen Kollegin gewartet zu haben.
„Ich habe mir gestattet, mein Büro mit ausrangierten Möbeln ein wenig persönlicher zu gestalten. Hier verbringe ich schließlich einen großen Teil meines Lebens, und dieser unpersönliche Behördenschnickschnack ist überhaupt nicht mein Ding. Schlimm genug, dass ich hier fast den ganzen Tag eingesperrt bin“, fügte er spitzbübisch dazu.
Er ergriff ihre Hand und schaute in ihre Augen. Valerie zuckte unmerklich, nur mit Mühe konnte sie den Reflex unterdrücken, die Hand zurückzuziehen.
„Leving“, sinnierte er nachdenklich.“Ist das Ihr Geburtsname oder haben Sie ihn nach der Heirat angenommen?“
Als konnte er in ihren Gedanken wie in einem Buch lesen, schüttelte er den Kopf und lachte glucksend.
„Nein, Sie verstehen mich falsch. Ich erkundige mich bei jedem, den ich treffe, nach seinem Namen. Nun ja, vielleicht nicht wirklich bei jedem. Aber Ihr Name ist hochinteressant.“
„Finden Sie. Ich halte ihn eher für nichtssagend.“
„Aber um Himmelswillen. Haben Sie sich nie für Genealogie interessiert?“
Jetzt lachte auch Valerie.
„Ich weiß noch nicht einmal genau, was das ist, wie soll ich mich dafür interessieren.“
„Nachdem sie angerufen hatten, habe ich sofort meine Bücher gewälzt, ich konnte gar nicht mehr ruhig sitzen. Das geht mir jedes Mal so, wenn ich einen neuen Namen höre. Ahnen- und Familienforschung ist eine meiner Leidenschaften. Woher stammen ihre Eltern?“
Obermeier war nicht mehr zu bremsen.
„Mein Vater ist in Hamburg aufgewachsen, meine Mutter auch. Das heißt, Moment, sie hat einige Jahre in Italien gelebt, aber sie ist auch in Hamburg geboren.“
„Leving. Ein norddeutscher Name mit einer Konzentration in Richtung Niederlande. Haben Sie dort Verwandte? Moment, Sie kommen doch aus Den Haag.“
Valerie grinste amüsiert und schüttelte den Kopf.
„Den Haag ist nur der Sitz von Europol. Ich stamme ebenfalls aus Hamburg, wie meine Eltern.“
„Leving ist abgeleitet von Leeuwerik“, ließ der Österreicher nicht locker. „Das bedeutet Lerche. Ein fröhlich trillernder Mensch, den nichts umwerfen kann.“
Wenn du wüsstest, wie fröhlich ich ständig bin, dachte Valerie in einem Anflug von Sarkasmus.
Besonders in letzter Zeit.
„Ich könnte mich noch stundenlang mit Ihnen über Ihren Namen unterhalten. Sie glauben nicht, zu welchen überraschenden Ergebnissen man kommt, wenn man sich ernsthaft mit diesem Thema beschäftigt. Aber ihr Besuch hat ja leider einen anderen Grund“, wechselte er unvermittelt das Thema und wandte sich seinem Schreibtisch zu.
Valeries Blick wanderte derweil durch den Raum.
An den Wänden hingen mehrere Bilder, aufwendig gerahmte Kunstdrucke alter Meister. Interessiert schaute sich Valerie um, sie erkannte zwei Monet an den verschwimmenden Konturen. Daneben hing „Die Versuchung des heiligen Antonius“ von Dali.
Ein Bild in einem kleinen Rahmen, winzig klein und wegen seiner dunklen Grundfarben unscheinbar wirkend zwischen den großen, kraftvollen Bildern, fesselte plötzlich ihre ganze Aufmerksamkeit. Beinahe wäre ihr Blick achtlos vorüber geschweift. Neugierig trat sie einen Schritt näher. Obermeier war ihr Interesse nicht entgangen. Gebannt blieb er mitten in der Bewegung hinter seinem Schreibtisch stehen und beobachtete seinen Gast.
Schön. Anrührend und schön zugleich.
Ein kleines Mädchen. Selbstbewusst stand es da, die Hände in den Manteltaschen, die Füße steckten in schweren Stiefeln, schaute es trotzig zwischen gelocktem, blonden Haar und einer schwarzen Kappe hervor und wirkte dabei doch so zerbrechlich und zart. Azurblauer Mantelstoff. Ein perfekter Lichteffekt, ein die Sonne reflektierender Punkt auf dem braunen Lederstiefel gab dem Porträt die Authentizität einer Fotografie.
„Das bin ich“, sagte Valerie und drehte sich zu Obermeier um, der verblüfft dreinschaute.
„Oder besser gesagt mein Alter Ego.“
Obermeiers Gesicht war ein einziges Fragezeichen, aber er schwieg weiter. Die Arme vor der Brust verschränkt wartete er gespannt auf ihre Erklärung.
„Das kleine blaue Mädchen, so haben wir es jedenfalls in der Familie genannt. Als ich es zum ersten Mal gesehen habe, musste ich unbedingt so einen blauen Mantel haben und ich habe nicht eher Ruhe gegeben, bis ich ihn endlich bekommen hatte. Skagen, das Museum am nördlichsten Punkt Dänemarks, dort hängt es im Original und es ist ein Kroyer, nicht wahr? Peder Severin Kroyer. Ich habe mich immer gefragt, wie er wohl diese Lichtspiegelungen hinbekommen hat, auf seinen anderen Bildern wie dem Strandspaziergang sind sie noch wesentlich ausgeprägter.“
Der Hauptmann zog die Augenbrauen hoch.
„Dass jemand mein Lieblingsbild kennt“, sinnierte er mehr für sich. „Sie sind die Erste überhaupt, die dieses Bild und den Maler aus dem Stegreif kennt. Wie kommt das? Die Mehrzahl der Polizeibeamten sind eher nicht ....“
Er druckste herum, wollte den Satz nicht beenden.
Sie verstand sofort, worauf er hinaus wollte und sprang ihm ins Wort.
„Ich bin oft in der Gegend von Skagen gewesen, zuerst mit meinen Eltern, später dann allein oder mit Freunden. Ich stamme aus Hamburg, da ist die Entfernung nicht ganz so groß. Dort oben kann man wunderbar surfen, wenn man sich weit genug von der Spitze fernhält. Die Strömung, wissen Sie? Und wenn einen mal der Westwind im Stich lässt, ist es nur ein Katzensprung und schon ist man an der Ostsee.“
Wieder schien ihr Blick ihre Gedanken verraten zu haben.
„Wissen Sie, wenn man diese Berge ständig vor den Augen hat. Exotisch ist immer das, was man nicht hat.“
Er lachte dabei und schob eine ganze Reihe von Bilderrahmen zur Seite, um Platz auf der Schreibfläche für seine Akten zu schaffen. Ehefrau, Kinder, Enkelkindern, Kinder mit Hunden und Kinder mit Katzen.
Nachdem Kaffee in den Tassen dampfte, wurde er ernst. In wenigen Worten informierte er sie über die knappen Fakten mit und reichte ihr eine dünne Akte.
Aber viel gab es ohnehin nicht zu sagen. Ein Motorradfahrer, in einer Kurve gestürzt und über das Hochbord in die Schlucht gestürzt.
„Sehen Sie selbst, dafür hat sich Ihre Fahrt sicher nicht gelohnt. Wie kommt es überhaupt, dass sich jemand von Europol für einen Unfall bei uns interessiert? Mir ist neu, dass Europol Mitarbeiter für Außenermittlungen hat.“
„Es wird einiges umstrukturiert, ich bin eine der ersten Mitarbeiterinnen“, log Valerie und fühlte sich unwohl, ausgerechnet diesen Kollegen anzulügen, der sie so freundlich aufgenommen hatte.
„Ich untersuche mehrere Todesfälle von Soldaten, die in einer Einheit zusammen Dienst gemacht haben.“
Sie wollte nicht noch weitere Notlügen gebrauchen und Obermeier gab sich damit zufrieden.
„Gab es denn irgendetwas Ungewöhnliches in Verbindung mit diesem Unfall?“
„Nein, überhaupt nicht. Er hat sich bei dem Sturz das Genick gebrochen. Vielleicht ist auch das Motorrad noch auf ihn gestürzt. Er hatte eine Vielzahl von Verletzungen, das Übliche bei einem derartigen Unfall. Aber tödlich war der Genickbruch.“
„Gab es sonst noch Auffälligkeiten an diesem Tag, etwas, das aus dem Rahmen fiel?“
Er lächelte sie nachsichtig an.
„Meine Liebe, Unfälle wie dieser hier sind unser Tagesgeschäft. Die Strecke ist ein Magnet. Sie kommen allein oder in Gruppen, fahren ihre Rennen mit den abenteuerlichsten Maschinen und überschätzen sich dabei immer wieder. Es reichen ein paar kleine Steinchen auf der Fahrbahn aus. Durch die Temperaturunterschiede bei Tag und bei Nacht gehen hier ständig Steine vom Fels ab und landen auf der Straße. Wir haben regelmäßig schwere Verkehrsunfälle. Der Notarzt könnte in der Hauptsaison gleich oben bleiben. Unsere Leute sind permanent mit Laserpistolen und Radaranlagen unterwegs. Aber es ist die reinste Plage. Hat man einen erwischt, kommen schon wieder zehn Neue. “
Er seufzte und schnappte sich den Aktenordner, der auf seinem Schreibtisch lag. Er schlug ihn auf und blätterte mit seinem braun gebrannten, sehnigen Händen, bis er die Einträge für den richtigen Tag gefunden hatte. Der Tag, an dem Florian Rosbacher starb.
Obermeier gab ihr einen Ausblick in die österreichische Polizeiarbeit an diesem Tag und kommentierte sie gleich mit knorrigen Halbsätzen.
Jede Menge leichter Unfälle, ein paar aufgebrochene Urlauberautos, man muss schließlich seine mobile Navigation schön sichtbar an der Scheibe kleben lassen, damit der Dieb es leichter hat. Verletzte Spaziergänger, die auf den Felsen herumgekraxelt und abgerutscht waren und sich dabei die Haxen gebrochen hatten, diese Deppen. Ein entlaufener Hund. Was schleppen sie auch ihren Köter mit auf den Berg, damit er alles vollscheißt. Ein Zechpreller oben am Restaurant. Schlägt sich den Wanst voll, ohne einen Cent in den Taschen. Alles in allem ein ruhiger Tag, es war halt noch Vorsaison gewesen, und das Wetter war auch nicht so toll. Kein typischer Ferientag oben auf der Hochalpenstraße.
Es war der übliche polizeiliche Routinekram, wie er so oder leicht abgewandelt auf jeder Polizeidienststelle bearbeitet werden musste. Obermeiers bissige Kommentare waren noch das Interessanteste an dem Vortrag.
Valeries Gedanken schweiften ab. Innerlich dachte sie daran, aufzustecken. Wieder nichts Greifbares. Schaute es nur so aus, oder war es wirklich an der Zeit, sich von der Verschwörungstheorie zu verabschieden?
Der österreichische Hauptmann bemerkte nichts davon, er zählte unverdrossen die Einsätze auf, die seine Kollegen in Lienz zu bewältigen hatten.
„Der ausgebrannte französische Porsche“, sagte er wie beiläufig.
Er verhielt kurz und blätterte dann weiter.
„Aber das hatte nichts mit der Strecke oben zu tun.“
Ein französischer Porsche. Ein Porsche aus Frankreich?
„Ein französischer Porsche?“, fragte sie laut. Schlagartig war sie wieder voll konzentriert, rutschte auf ihrem Sessel elektrisiert nach vorn.
„Ja, hier in Lienz. Stand in einer kleinen Nebenstraße und ist völlig ausgebrannt. Die Verkleidung des Hauses, vor dem er parkte, brannte bereits. Es konnte gerade noch rechtzeitig gelöscht werden. Wenn der Zeitungsausträger nicht gewesen wäre, hätten wir vielleicht ein paar Tote gehabt. Es war pures Glück. Die Kriminaltechniker haben bei der Spurensuche festgestellt, dass der Wagen in Frankreich gestohlen wurde. Dafür ist ein paar Straßen weiter ein fast neuer Mercedes von Landsleuten von Ihnen verschwunden. Das Gejammer habe ich jetzt noch in den Ohren.“
„Wo genau in Frankreich ist der Wagen gestohlen worden?“
Valerie beugte sich bei der Frage noch weiter nach vorn und wartete angespannt auf seine Antwort.
„Moment“, sagte Obermeier und schlug die Seite noch einmal um.
Mit seinem Finger fuhr er die Zeilen ab, um keine Information zu überlesen.
„Nein, steht hier nicht drin“, antwortete der österreichische Kollege dann bedauernd und klappte den Ordner zu. “Hier sind nur die bloßen Einsätze festgehalten.“
Valerie fixierte ihn bittend mit ihren grünen Augen und neigte den Kopf zur Seite. Ohne dass sie etwas sagen musste, schnappte er sich seufzend den Hörer und drückte auf eine Kurzwahlnummer.
Seinen Kollegen, der sich am anderen Ende der Leitung meldete, sprach er in einem derartig breitgezogenem Dialekt an, dass Valerie bis auf das Wort Porsche kaum etwas verstand.
„Metz“, sagte er dann wie beiläufig, als er den Hörer in die Gabel knallte.
Metz.
Ein Wort wie ein Stich, ein kurzer, bohrender Schmerz.
In der Nähe von Metz war Felix Jacquemin gestorben. Wie hatte Anna in ihrer unnachahmlichen Art gemeint, hüpft von einer Brücke, platsch, genau vor einen Lkw.
Sofort stellte sich bei ihr dieses undefinierbare Gefühl ein. Immer wenn sie etwas Bedrohliches wahrnahm, breitete sich von einem Punkt im Hinterkopf zwischen den Ohren Wärme aus, wurde immer heißer, wanderte bis hinunter in den Nacken. Schließlich hörte sie das Blut in den Ohren rauschen. Das erste Mal, dass sie sie verspürte, war bei einem nächtlichen Einsatz im Kriminaldauerdienst gewesen. Ein Kneipeneinbruch. Die Polizei fuhr vor, als der Täter gerade aus einem Oberlicht klettern wollte. Er sah die Fahrzeuge und war sofort wieder im Gebäude verschwunden. Es gab also keinen Zweifel daran, dass er noch drinnen war und er kam einfach nicht heraus. Ein Diensthund war in dieser Nacht nicht zu bekommen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Kneipe zu betreten und zu durchsuchen. Ein Scheißgefühl im Magen, stockfinster, nur das Licht der Taschenlampen, weil niemand wusste, wo in dieser verdammten Pinte die Schalter waren. Dann konnte sie ihn hören, trotz des Rauschens in den Ohren, sein Atmen, Adrenalin pur. Er stand versteckt hinter einer Tür. Sie schlich sich weiter heran, dann konnte sie ihn auch riechen.
Eingeschissen hatte er sich, vor lauter Angst. Sie drückte ihm die Taschenlampe an den Hals, mindestens genauso aufgeregt wie er.
Metz.
Dieses eine Wort veränderte alles. Nun war auch Valerie davon überzeugt, dass es einen Zusammenhang gab, geben musste.
Die Antwort konnte nur bei den noch lebenden Soldaten der kleinen Kommandoeinheit zu finden sein. Aber wie sollte sie vorgehen? Drei Todesfälle in drei verschiedenen Ländern, als Unfälle behandelt und von den Ermittlern längst abgehakt.
Und außerdem, die dringlichste Frage bei einem Verbrechen ohne Täter, der wichtigste Ansatzpunkt, das Motiv.
Sie musste zurück nach Den Haag, so schnell wie möglich.