Читать книгу Jahr der Ratten - L.U. Ulder - Страница 8
Kapitel 5
ОглавлениеBrüssel.
NATO-Hauptquartier.
Gemütlich schlenderte Anna-Lena den langen Flur entlang. Sie kam von der Toilette, heimlich hatte sie in der letzten Kabine am Fenster eine Zigarette geraucht und danach in aller Ruhe ihr Make-up gerichtet, so, als hätte sie alle Zeit der Welt. Jetzt zeigte sie nicht den geringsten Ehrgeiz, sonderlich schnell an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Der Tag war schließlich noch lang genug.
Da kam sie wieder, die Nische im Gang, an der sie vorbeigehen musste. Nur noch wenige Schritte.
Angestrengt versuchte sie, geradeaus zu schauen. Aber schließlich blieb sie doch stehen, wie jedes Mal.
Wie ein Exhibitionist, der seinem nichts ahnenden Opfer auflauert, plötzlich vorspringt und den Trenchcoat aufreißt, stand er da. Eine blechgewordene Versuchung, die ihr jeden Tag aufs Neue auflauerte und den Gang zur Toilette, dem einzigen Ort, an dem sie in Ruhe eine Zigarette rauchen konnte, zur Qual werden ließ.
Resignierend blieb sie stehen und drehte sich zur Seite. Interessiert schaute sie sich das Angebot an, wie jeden Tag. Sie kannte es bereits in und auswendig. Und wie an beinahe jedem Tag warf sie eine Münze ein.
Während sich das Geldstück mit gedämpften Klickergeräuschen den Weg durch den Snackautomaten bahnte, betrachtete Anna-Lena sich in der Spiegelung der glänzenden Oberfläche des Gerätes. Sie drehte sich nach allen Seiten und strich über ihre Figur. Das Ergebnis schien sie nicht zufrieden zustellen. Ihr Mund verzog sich zu einem Flunsch, als sie das Hüftpolster eindrückte.
„Na, kneift es?“
Der spöttisch-süffisante Unterton brachte ihre Ohren augenblicklich zum Glühen. Anna-Lena wirbelte erschrocken herum. Sie war so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass ihr die herannahenden Schritte völlig entgangen waren.
Ellen, ihre belgische Kollegin aus der Personalabteilung, stolzierte schnurstracks in Richtung Toilette vorbei. Den Kopf zur Seite gedreht, das Gesicht eine überfreundliche Maske, ein starker Kontrast zu ihren ätzenden Worten.
Ein dunkelblondes Etwas aus Haut und hervortretenden Knochen, das, so wie es aussah, keine Gedanken an Kalorien verschwenden musste. Das Ellen ist kein Mensch, hatte Anna-Lena einmal in einer Mischung aus Neid und Frust zu Valerie gesagt. Das Ellen hat den Stoffwechsel einer Möwe. Und ergänzte ungerührt, als Valerie erstaunt aufblickte und auf eine Erklärung wartete, fressen und scheißen.
Annas Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen, sie öffnete den Mund, wollte diese Frechheit reagieren, aber sie war sprachlos, auf die Schnelle fehlten ihr die Worte. Ellen war längst im langen Flur verschwunden.
Verärgert strich sich Anna die Bluse glatt und stapfte zurück ins Büro. An den Euro im Automaten verschwendete sie keinen Gedanken mehr.
An ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt, schaute sie resignierend auf den Stapel neu eingegangener Akten, die vom Büroboten während ihrer Abwesenheit zurückgelassen worden waren. Sie seufzte. Zur Fremdsprachenkorrespondentin hatte sie sich ausbilden lassen und jetzt verwaltete sie schon seit einigen Jahren an einem winzigen Schreibtisch in einem Großraumbüro des NATO-Hauptquartiers in Brüssel Personalakten von aktiven und ehemaligen Soldaten. Ihre Karriere hatte eigentlich einen anderen Verlauf nehmen sollen, wie sie Valerie wiederholt vorjammerte. Aber der Job wurde ganz passabel bezahlt und überarbeiten brauchte sie sich auch nicht, zwei gewichtige Argumente, um nicht hinzuwerfen.
Mal sehen, was haben wir denn hier? Sprach sie mit sich selbst.
In ihrer Hand hielt sie die dürre, amtliche Mitteilung über einen Todesfall. Eine nichtssagende Nachricht in spröden Worten, ohne jede Pietät. Die Sachbearbeiterin rief das Programm auf und tippte einen Namen ein. Es dauerte einen kurzen Augenblick, dann spuckte der Computer aus der gigantischen Datensammlung die entsprechende Akte aus und stellte die Daten zur Verfügung. Eher desinteressiert arbeitete sich Anna-Lena durch die bereitgestellten Informationen.
Dann fiel ihr Blick auf den Ordner, der die Bilder des Verstorbenen verwaltete. Er enthielt nur Aufnahmen für dienstliche, militärische Zwecke. Passfotos für mehrere nacheinander erstellte Wehrausweise, die die persönliche Entwicklung des Mannes nachvollziehen ließen. Ein junger Kerl noch und ausgesprochen attraktiv dazu. Lange schaute sie das Foto des schlanken, dunkelhaarigen Mannes an, selbstbewusster Blick, kantige Züge.
Florian Rosbacher, ehemaliger Angehöriger des österreichischen Bundesheeres, bis 2004 Freiwilliger der SFOR im Camp Butmir, Sarajewo, Bosnien und Herzegowina.
Neugierig blätterte Anna-Lena in der dünnen, nur wenige Seiten umfassenden Todesmitteilung.
„Mit dem Motorrad abgestürzt, am Großglockner“ las sie stirnrunzelnd den kurzen Bericht laut vor und schüttelte den Kopf. Sie lachte glucksend auf, schämte sich aber gleich dafür.
„Ein Motorrad auf einem Berg“.
Was sie dann aber weiter las, nahm ihre Aufmerksamkeit mehr und mehr in Anspruch. Rosbacher war Mitglied einer kleinen Patrouilleneinheit gewesen, die Mitte November 2004 in der Nähe von Pale, Bosnien und Herzegowina, in einen Hinterhalt geraten war. Es hatte eine wüste Schießerei gegeben, bei denen mehrere Soldaten und bosnische Freischärler auf der Strecke geblieben waren.
Aber das schien es nicht allein zu sein, was ihre Aufmerksamkeit in den Bann zog.
Sie legte die Akte auf den Schreibtisch, ließ sie aber nicht aus den Händen. Ihre Augen waren auf die Wand vor ihr gerichtet, aber ihr Blick war leer, sie überlegte angestrengt.
Anna-Lena legte die Akte schließlich doch zur Seite und bückte sich hinunter zu den Schubladen. Sie kramte sich durch die einzelnen Schubladen, bis sie endlich in der untersten fündig wurde. Versteckt unter Bergen vom Stanniolpapier der Süßigkeiten, die sich fortwährend in den Mund schob, lag sie, ihre Eingangs-und Ausgangsliste. Natürlich verfügte auch ihr Computerprogramm über eine derartige Listenfunktion, aber Anna-Lena war durch und durch misstrauisch. Schon gar nicht mochte sie sich unpersönlicher Technik anvertrauen. Deshalb führte sie, ganz altmodisch und vorsorglich, eine handgeschriebene Liste, nebenbei, versteht sich. Denn sicher ist sicher.
Sie ließ den Finger die Zahlenreihen hinuntergleiten, bis sie die gesuchten Eintragungen gefunden hatte. Sie schrieb sich die Aktenzeichen auf und ging damit an den großen Wandschrank, in dem die eingegangenen Todesmitteilungen abgelegt wurden. Schnell wurde sie auch hier fündig und zog zwei Aktenordner aus dem Regal, ebenso dünn wie die von Florian Rosbacher.
Ja, da waren sie, Piet Lijsen und Felix Jacquemin, beide aus der gleichen Einheit wie der Österreicher und beide genauso tot, las sie in den knappen Notizen.
Es kamen ständig Mitteilungen über NATO-Soldaten herein und das jemand davon starb, war für sich genommen noch nicht ungewöhnlich. Aber drei tote Soldaten im besten Alter, die gemeinsam Dienst gemacht hatten, wenn das nicht auffällig war.
Und ausgerechnet bei dieser Einheit. Zwei Wochen vor dem Ende des SFOR-Mandats in Bosnien war es zu diesem Zwischenfall gekommen, der im Hauptquartier der NATO kräftige Blasen gezogen hatte. Der Überfall war im ganzen Haus das beherrschende Thema gewesen, die Gerüchteküche kochte hoch. Die abstrusesten Theorien wurden gehandelt, von Korruption und Verrat war die Rede gewesen. Dann urplötzlich, als wäre von jemandem ein Schalter umgelegt worden, herrschte das große Schweigen.
In diesen unruhigen Tagen trat Anna-Lena ihre neue Tätigkeit bei der NATO an. Interessiert verfolgte sie die Versuche ihrer neuen Kollegen, an Informationen zu gelangen. Aber obwohl die hektischen Aktivitäten der Diplomaten und Verbindungsoffiziere der einzelnen Nationen die Gerüchteküche schürten, es drangen so gut wie keine Details ans Tageslicht. Die NATO-Führung gab ein offizielles Kommuniqué über diesen Zwischenfall heraus, wonach es sich um einen Angriff von Rebellen auf eine SFOR-Patrouille gehandelt habe. Mehr war niemals durchgesickert. Jedem Insider war klar gewesen, dass diese Mitteilung nicht das Papier wert gewesen war, auf dem sie abgedruckt wurde. Aber wie immer, wenn irgendetwas zum Himmel stinkt, hörten auch hier die Fragen mit der Zeit auf. Neue Schlagzeilen schoben sich in den Vordergrund und verdrängten die alten. Und irgendwann legte sich der Schleier des Vergessens über die Affäre.
Drei ehemalige Angehörige ausgerechnet dieser geheimnisumrankten, fast vergessenen Militäraktion schieden kurz hintereinander aus dem Leben. Die ersten beiden Todesfälle lagen gut zwei Wochen auseinander, das Unglück auf dem Großglockner hatte nicht ganz solange auf sich warten lassen. Das konnte kein Zufall sein.
Neugierig arbeitete sich Anna-Lena durch die anderen Akten und bemühte ihren Computer.
Piet Lijsen – autoerotischer Unfall.
Ihre Augen glänzten, sie erinnerte sich an die Meldung und an Valeries Ausführungen zum Thema Autoerotik bei Männern. Sie las wieder und wieder in der Akte, fand aber keine Antwort, die ihren Wissensdurst zu stillen schien.
Dann der Franzose.
Felix Jacquemin war von einer Brücke gehüpft, direkt vor einen Lkw.
Selbstmord.
Sie alle waren durch irgendwelche obskuren Unfälle oder durch einen Selbstmord ums Leben gekommen.
Aufgeregt wischte sich Anna-Lena die Haare aus dem Gesicht, das eine deutliche Rötung angenommen hatte. Schnell nahm sie einem Schluck aus dem Glas Orangensaft, das auf ihrem Schreibtisch stand.
Ihren leuchtenden Augen war deutlich anzusehen, dass sie etwas ausbrütete.