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Kapitel 6

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Slufterstrand, Maasvlakte.

Niederlande

Die beiden vollen Brüste wippten wie große, schwere Bälle auf und ab, der dünne Sport-BH schaffte es kaum, sie unter Kontrolle zu bringen.

Auf dem Parkplatz, nur wenige Schritte entfernt, waren zwei niederländische Kitesurfer aufmerksam geworden, die gerade ihren VW-Bus entluden. Die beiden schlanken, braun gebrannten Jungs ließen ihre Surfausrüstung Surfausrüstung sein und beobachteten wie hypnotisiert die Szene. Die Köpfe bewegten sich simultan zu Annas wogenden, sekundären Geschlechtsorganen.

„Anna, Mensch“, zischte Valerie und deutete, als die Angesprochene herüberschaute, unmerklich mit dem Kopf zu den beiden.

„Die Hälse der Kerle werden immer länger, und wer weiß was noch.“

Aber die Freundin ließ sich durch Publikum nicht beirren, im Gegenteil. Sie hielt kurz inne und schaute hinüber.

„Huhu.“

Mit der Linken hielt sie den Neoprenanzug am Kragen fest, mit der Rechten winkte sie den beiden Langhälsen zu, die den Gruß fröhlich erwiderten. Valerie wäre am liebsten im Boden versunken. Zum Glück fassten die beiden Typen Annas Unbefangenheit nicht als Einladung auf, sondern blieben bei ihrem Transporter und kümmerten sich schließlich wieder um die Sportausrüstung.

Anna machte weiter mit ihrem Versuch, den Surfanzug über die Hüfte zu bekommen. Der widerspenstige Einteiler mit dem Rückenreißverschluss wollte ums Verrecken nicht über das ausladende Hinterteil rutschen.

Es war Samstagmittag und auf der Nordsee wehte ein Westwind, der sich nicht zwischen vier und fünf Beaufort entscheiden konnte. Auf den Wellen waren kleine, weiße Schaumkrönchen, die die Wasseroberfläche wie einen überdimensionierten Cappuccino aussehen ließen. Alle Zeichen sprachen für einen vielversprechenden Tag.

Anna-Lena und Valerie befanden sich am Slufterstrand von Maasvlakte, niederländische Nordseeküste, südlich von Den Haag. Oben auf dem Deichparkplatz hatten sie ihr Surfequipment aus ihren Kombis entladen und bereiteten sich nun auf einen Nachmittag auf dem Wasser vor.

„Ich wusste gar nicht, dass Neopren einlaufen kann“, stöhnte Anna.

Valerie prustete.

„Doch, aber nur in der Breite, in der Länge bleibt es gleich.“

Anna, den Anzug mit Mühe und Not über den Hintern gezogen und einen Arm hineingesteckt, drehte sich langsam zu ihrer Freundin um. Dann lachten beide so laut, dass sich die Kitesurfer wieder aufmerksam wurden und sich umdrehten.

„Los, mach mir mal bitte den Reißverschluss zu“, forderte sie, nachdem auch der zweite Arm im Gummi untergebracht war. „Früher habe ich das noch allein hinbekommen, aber seit ich immer mehr wie dieses Reifenmännchen aussehe, ist es nur noch Quälerei.“

Das mit dem Männchen war zwar maßlos übertrieben, aber es ließ sich nicht abstreiten, dass der hinterlistige Snackautomat seine Spuren auf ihrer Figur hinterlassen hatte.

Valerie schloss den Anzug, drückte die Klettverschlüsse zusammen und befestigte das lange Reißverschlussband auf dem Rücken der Freundin. Gleich darauf saß Anna auf dem Boden, den Fuß an den Surfmast gedrückt und bemühte sich nach Kräften, mit der Trimmschot das Segel zu spannen.

„Also ehrlich, dieses Zusammenbauen vorher verdirbt einem die ganze Vorfreude. Es ist so was von mühselig, da wäre ein Mann wirklich mal nützlich.“

Durch die Anstrengung klang ihre Stimme gepresst.

Valerie lächelte verkniffen in sich hinein, sie hatte sich beim Trimmen des Segels gerade den Nagellack ruiniert.

„So ein Mist.“

„Was ist denn jetzt schon wieder?“

„Nagel abgebrochen“, schimpfte Anna.

So ging es weiter. Während Valerie konzentriert ihre Ausrüstung vorbereitete, lamentierte Anna unentwegt.

„Vielleicht sollten wir es doch mal mit einem Kite versuchen.“ Die beiden Niederländer waren längst die Holztreppe hinuntergegangen und ordneten am Strand die Leinen für ihre Lenkdrachen.

Weil Valerie nicht antwortete, schaute sie auf und sah den genervten Blick der Freundin, mit dem ausgestreckten Daumen hinter sich zeigend.

No Kites.

Wie ein Bannspruch zum Schutz vor Vampiren prangte das durchkreuzte Schild auf den Heckpartien beider Volvos.

Anna zuckte die Schulter und seufzte. Die Aufkleber stammten von ihr. Sie höchstpersönlich pappte sie beiden Autos aufs Heck, nachdem sie sich wieder einmal über die langen Leinen der Lenkdrachen geärgert hatte, die so viel Platz beanspruchten und den halben Strand versperrten.

„Manchmal muss man seine Meinung eben ändern und sich weiterentwickeln.“

Die Oberkommissarin schüttelte nur den Kopf. Sie schnappte sich ihr Sportgerät, den Surfmast in der linken und die Fußschlaufe des Boards in der rechten Hand und balancierte vorsichtig auf der Treppe zum Wasser hinunter. Anna kam japsend hinter ihr her. Ohne weitere Zeit zu verlieren, gingen sie nebeneinander in die Nordsee hinein, bis ihnen das kühle Wasser beinahe an ihre Hüften reichte. Mit beiden Händen am Gabelbaum richtete Valerie das Segel aus und wartete geduldig, bis eine Windböe hineingriff und genügend Druck entstand.

„Sei vorsichtig. Denk an .... .“

„die gefährliche Ringströmung“, hatte sie rufen wollen. Aber Anna stand schon auf dem Brett und zog das Segel dicht. Das Surfboard beschleunigte, schnell schoss sie aufs Meer hinaus. Valerie schüttelte den Kopf und hatte prompt den entscheidenden Moment verpasst. Sie wartete auf die nächste Böe und ließ sich mit dem Segel nach oben auf das Board ziehen. Sofort nahm sie Fahrt auf und hängte sich ins Trapez. Ab jetzt war jeder für sich allein unterwegs.

Der Alltag blieb in der dünnen Schaumblasenspur zurück, die die Finne im Wasser zog.

Einen weiteren abgebrochenen Nagel und knapp zwei Stunden später saßen die beiden jungen Frauen am Strand, die neoprengeschützten Füße ließen sie von den Wellen umspülen. Ihre Frisuren waren von Wind und Wasser zerzaust, Salz klebte in den Haaren und schmeckte auf den Lippen. Hände und Unterarme brannten von der Anstrengung, aber die Laune war bestens.

Valerie streckte sich durch, lehnte sich zurück auf die Ellenbogen und seufzte dann zufrieden.

„Wow, das war besser als Sex.“

Anna stutzte, schaute überrascht und fragte nach, als hätte sie nicht richtig verstanden.

„Moment mal, was war besser als Sex?“

„Das Surfen. Surfen ist besser als Sex. Das hat mal ein Bekannter gesagt und irgendwie hatte er ein bisschen recht.“

Anne guckte ein bisschen mitleidig.

„Da hat er aber eine tolle Ausrede gehabt, was? Ich weiß ja nicht, was du bisher für einen Sex hattest, vor allem mit diesem ominösen Surfkumpel. Aber mich hat das Surfen noch nie zufriedengestellt.“

Über beide Ohren grinsend schaute sie Valerie an. Beide mussten wieder lachen. Danach unterhielten sie sich angeregt über die Dinge, die seit ihrem letzten Treffen vor zwei Wochen geschehen waren.

Anna-Lena Holland und Valerie Leving stammten beide aus Hamburg. Sie kannten sich bereits seit der Kindheit durch die Mitgliedschaft im hanseatischen Segelclub, in dem schon ihre miteinander befreundeten Eltern waren.

„Schau mal, da sind die beiden Jungs von vorhin wieder. Niedlich, oder?“

Die beiden sonnengebräunten Surfer waren in Höhe der Treppe zum Parkplatz damit beschäftigt, ihre Kite-Drachen zusammenzulegen. Immer wieder steckten sie die Köpfe zusammen, tuschelten und schauten herüber. Ihr Interesse an einem Flirt war nicht zu übersehen.

Valerie setzte sich auf und verschränkte abwehrend die Arme, sie schaute alles andere als freundlich drein. Die beiden Jünglinge waren kaum zwanzig, fast noch Kinder in ihren Augen.

„He, das Leben geht weiter, meinst du nicht auch. Es wird höchste Zeit, mal wieder an einen Mann zu denken. Wenn du Surfen schon als Ersatzbefriedigung ansiehst. Andere Mütter haben auch schöne Söhne.“ Aber Valerie war noch längst nicht bereit, ihre selbst gewählte Isolation zu beenden. Zu groß war die Enttäuschung gewesen, zwei Tage vor der geplanten Hochzeit den Laufpass zu bekommen.

Das war jetzt ein halbes Jahr her, und Grund für ihre Entscheidung, Hamburg in Richtung Den Haag zu verlassen.

Die Stimmung war verdorben, jetzt, nachdem Anna dieses Thema angeschnitten hatte und alte Wunden aufgebrochen waren. Valerie sah hinauf zum Himmel. Wie ein dunkles Vorzeichen verdeckten Wolken die Sonne, sie begann zu frösteln und drängte zum Aufbruch. Die Freundinnen packten die Ausrüstung zusammen und beluden ihre Kombis, es wurde höchste Zeit für eine heiße Dusche. Der Rückweg führte sie wieder am Europoort vorbei. Valerie kannte den Surfspot bereits, lange bevor sie nach Den Haag umgezogen war. Der Seehafen mit seinen Containerkränen, die wie riesige, stählerne Insekten auf Opfer zu lauern schienen, löste bei jedem Anblick wieder Beklemmungen bei ihr aus.

Um sich abzulenken, schaltete sie das Radio an. Im Rückspiegel kontrollierte sie mit gelegentlichen Blicken, dass Anna den Anschluss nicht verlor.

Über Europaweg und A 15 fuhren sie nach Den Haag, direkt in Valeries kleine Wohnung.

„Du hast ja immer noch kein Telefon“, stellte Anna vorwurfsvoll fest, als sie die ungenutzte Steckdose gleich neben der Wohnzimmertür sah.

„Ach, was soll ich damit? Ich bin auf dem Handy erreichbar. Hier bin ich ja doch nur zum Schlafen“, antworte Valerie und marschierte weiter in ihr Schlafzimmer, ohne sich umzublicken.

„Na ja, wenigstens sieht es jetzt einigermaßen wohnlich aus. Ich hatte schon befürchtet, du lebst immer noch aus Kartons.“

Ein Ohrensessel mit Hocker, eine Couch, die sich als Gästebett umklappen ließ, ein niedriger Glastisch und an der Wand neben dem Fenster ein Schränkchen mit einer Stereoanlage, obenauf ein Fernseher, bildeten die Einrichtung des Wohnraumes. In der Ecke stand ein grauenhaft hässlicher, messingfarbener Deckenfluter.

„Warst du auf dem Sperrmüll?“, stichelte Anna sogleich.

Valerie steckte den Kopf aus der Schlafzimmertür, nur mit einem umgebundenen Badehandtuch bekleidet.

Ihren fragenden Blick beantwortete Anna mit einem Fingerzeig auf die Stehlampe.

„Ach die. Ich brauchte auf die Schnelle eine Lampe, die ich ohne Elektriker zum Leuchten bringen konnte und billig war sie auch.“

„Du hättest dir lieber einen Elektriker kommen lassen sollen, wer weiß, wofür der sonst noch gut gewesen wäre“, meinte Anna, die ihre Andeutungen nicht lassen konnte.

Während Valerie duschte, schnüffelte ihre Freundin im Kühlschrank herum und fand zielsicher das Stück Pecorinokäse, das Valerie extra für diesen Tag besorgt hatte.

„He, den wollen wir gleich zusammen essen“, schimpfte sie denn auch, als sie Anna kauend auf dem Sessel sitzen sah. Und natürlich hatte sie sich auf dem kuscheligen Möbelstück breitgemacht, das in kürzester Zeit zu ihrem Lieblingsplatz avanciert war.

Bei Pecorino, Baguette und frischem Salat machten sie es sich gemeinsam vor dem Fernseher gemütlich, nachdem auch Anna-Lena unter die Dusche gesprungen war. Sie legten ihr gemeinsames Lieblingsvideo ein und nippten zwischendurch an großzügig gefüllten Rotweingläsern.

„Was war nun mit diesen merkwürdigen Unfällen, von denen du mir erzählt hast? Hat sich das geklärt?“

Anna hob die Hand wie ein Haltezeichen, ohne den Blick vom Fernseher zu lassen.

„Warte kurz, ja? Ich liebe diese Stelle.“

Mit großen Augen verfolgte sie das Geschehen auf dem Bildschirm.

„Ja, genau. Er kann ruhig etwas größer sein. Nein, krumm muss er nicht unbedingt sein. Ach wunderbar, so einen Prinzen wünsche ich mir auch.“

Sie war völlig in den Film eingetaucht und kommunizierte gedankenverloren mit den drei Hauptdarstellerinnen, als wäre sie selbst ein Teil des Geschehens.

Valerie starrte gebannt ihre Freundin an und zog die Augenbrauen zusammen, sagte aber nichts. Sie war der Welt um sich herum so entrückt, dass es keinen Sinn machte, sie auf diesem Trip zu stören.

„Ich gehe in diesen Film immer noch auf, obwohl er schon so alt ist“, sagte Anna gleich darauf, in die Gegenwart zurückgekehrt.

„Vor allen Dingen seine Sprüche. Einen Silberreiher erkenne ich noch nicht einmal, wenn ich auf ihn pisse.

Oder

Nach dem Essen schiebe ich gern ein kleines Nümmerchen. Herrlich, ich auch. Obwohl Nicholson überhaupt nicht mein Typ ist, dieser alte Sack. Eher schon der langhaarige Surfer von vorhin, der mit den blonden Rastalocken.“

Anna-Lena lag in einem viel zu weiten Jogginganzug ausgestreckt im Ohrensessel. Von dem Temperaturunterschied zwischen dem kalten Nordseewasser und der heißen Dusche waren ihre Wangen glutrot. Die Füße flegelten auf dem Hocker und sie seufzte auf vollem Herzen.

Valerie musterte ihre Freundin stirnrunzelnd.

Wenn sie so ihr Lover sehen könnte.

„Und? Was war nun mit dem autoerotischen Unfall? Muss ich mir Sorgen um dich machen?“

„Jein, nicht um mich. Aber um die Morde. Das ist eine merkwürdige Geschichte, ziemlich schwammig, wenn du mich fragst.“

Endlich war Anna der Handlung des Spielfilms entrissen.

Ihre Körperhaltung straffte sich deutlich, sie legte ihre Hand auf Valeries Oberarm und schaute ihr tief in die Augen. Ihre Stimme bekam einen verschwörerischen Ton, als sie begann, von merkwürdigen Todesfällen zu erzählen.

Valeries Sorgen bezogen sich auf Annas ausschweifendes Privatleben, ihre ständig wechselnden Sexualpartner und ihr Verhältnis zu diesem verheiratetem Mann. Deshalb hatte sie nachgefragt. Diese eigenartigen Unfälle interessierten sie eigentlich nicht.

Außerdem irritierten sie die Begriffe wie IFOR, SFOR und EUFOR, mit denen Anna herumwarf. Obwohl sie alle irgendwann einmal in den Nachrichten mit halbem Ohr wahrgenommen hatte, wusste sie nichts Rechtes mit ihnen anzufangen. Schließlich ärgerte sie sich, überhaupt nachgefragt zu haben. Annas Vortrag wollte kein Ende nehmen.

„Die SFOR war die Schutztruppe der NATO in Bosnien und Herzegowina, Stabilisation Force, verstehst du? Die IFOR war ihr Vorläufer. Die EUFOR war dann eine Schutztruppe unter dem Kommando der Europäischen Union als Nachfolger der SFOR. Multinationale Verbände, Soldaten aus verschiedenen Mitgliedsländern. Ganz einfach, eigentlich.“

Valerie zuckte mit den Schultern.

„Die Sache mit dem Motorrad auf dem Großglockner konnte genauso gut ein ganz normaler Verkehrsunfall gewesen sein. Es führt eine Passstraße über den Berg, da hat er einen Unfall gehabt. Wahrscheinlich hat er es in einer Kurve übertrieben. Kommt vor, immer wieder.“

„Ja sicher. Aber der Franzose ist von einer Brücke gesprungen, platsch. Genau vor einen Lkw. Und der Niederländer hatte diesen autoerotischen Unfall. Mit dem hat es angefangen.“

Bei dem Wort ‚autoerotisch‘ konnte sie sich ein verschmitztes Grinsen nicht verkneifen, wurde aber augenblicklich wieder ernst.

„Da stinkt etwas zum Himmel, glaub mir. Ich kann es bis hierhin riechen, sage ich dir. Hör mal, das kann doch kein Zufall sein. Alle drei Soldaten waren im Camp Butmir bei Sarajevo, in Bosnien und Herzegowina, stationiert. Sie waren Teilnehmer einer Patrouille, die in der Nähe von Sarajewo von Unbekannten aus dem Hinterhalt angegriffen wurde. Es sind damals mehrere Soldaten und alle Angreifer gestorben. Das Ganze passierte zwei Wochen, bevor das Mandat der SFOR dort unten beendet wurde und sie von der EUFOR abgelöst wurde. Ich weiß noch genau, was damals im Hauptquartier für eine Aufregung geherrscht hat. Und plötzlich gab es eine Nachrichtensperre, nichts, absolut nichts ging mehr an Informationen raus, direkt gespenstisch. Das hat die Gerüchteküche natürlich zusätzlich angeheizt. Ich weiß das deshalb noch so genau, weil ich damals gerade meinem Job begonnen hatte und dachte, was ist denn hier los? Eines weiß ich genau, so viele Zufälle kann es einfach nicht geben.“

Ihre Hand, die sie zuvor zurückgezogen hatte, legte sich wieder auf Valeries Unterarm, schmerzhaft gruben sich die Fingernägel in die Haut.

„Es ist ein Mörder unterwegs. Ich bin mir sicher, ich spüre es. Drei Männer, die diesen gemeinsamen Background haben, die in dieser merkwürdigen Einheit waren, im allerbesten Alter, topfit, sterben doch nicht plötzlich fast zur gleichen Zeit, innerhalb von einem Monat. Und das fast vier Jahre nach dem Vorfall.“

Valerie schaute erst irritiert auf Annas Hand, dann in das Gesicht der Freundin. Die Augen waren weit aufgerissen, aber der Blick war seltsam entrückt, nach innen gerichtet.

Sie war von ihrer Vermutung vollkommen überzeugt, würde sich davon nicht mehr abbringen lassen.

Anna und ihre Verschwörungstheorien.

Unvergessen, beinahe schon legendär war eine kleine Anekdote, die im gemeinsamen Freundeskreis und darüber hinaus über Jahre hinweg für ausgelassene Heiterkeit bei geselligen Zusammenkünften gesorgt hatte.

Anna fuhr mit dem Auto durch eine kleine, gediegene Hamburger Wohnsiedlung. Im Vorbeifahren beobachtete sie vor einem Haus zwei Männer, die eine Frau an den Armen hielten, anhoben und zu einem Auto trugen.

Aufgeregt fuhr sie weiter, hielt an der nächsten Telefonzelle und gab der Polizei das Kennzeichen des Autos und die Fahrtrichtung durch.

Dann verfolgte sie die Kidnapper, die schon bald darauf von einer bis an die Zähne bewaffneten Polizeieinheit gestoppt wurden. Die völlig überraschten Insassen schauten unvermittelt in großkalibrige Pistolenmündungen.

Es stellte sich schließlich heraus, dass es sich um ein Ehepaar mit beinahe volljährigem Sohn handelte. Die Mutter hatte sich beim Abschied an der Tür nicht von ihrer Bekannten trennen können und war kurzerhand mit sanfter Gewalt in den Wagen bugsiert worden.

Die fröhlichen Gesichter bei der angeblichen Entführung musste Anna ebenso übersehen haben wie die winkenden Gastgeber vor dem Haus.

Wenn Anna-Lena erst mal in Fahrt geraten war, ließ sie sich nur schwer ausbremsen.

Aus diesem Grund ließ sich Valerie diesmal nicht von ihrer Freundin anstecken. Es gelang ihr, die Aufmerksamkeit zunächst wieder auf den Film zu richten. Aber es nutzte nichts, gleich darauf fing Anna wieder an.

„Drei junge Männer mit einem gemeinsamen Background sterben innerhalb kürzester Zeit. Überleg doch mal.“

„Aber es hat doch Todesermittlungen gegeben. Du hast gesagt, bei allen steht Unfalltod oder Freitod in der Akte. Zu diesem Ergebnis muss doch irgendjemand gekommen sein.“

„Na und. Ich möchte nicht wissen, wie viele alte Leutchen Jahr für Jahr als Unfalltote begraben werden und in Wahrheit hat jemand nachgeholfen, dass die Erboma auf der Treppe abgeschmiert ist. Du hast selber mal gesagt, dass es eine Grauzone gibt und dass viele unnatürliche Tode nicht entdeckt werden.“

„Ja, mag sein. Aber wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind, ist die Luft raus. Wenn Gift im Spiel ist, kann man im Nachhinein, wenn sich neue Erkenntnisse ergeben haben, noch feingewebliche Untersuchungen durchführen, die einen Nachweis erbringen könnten. Aber wenn eine objektive Tatortaufnahme nichts erbracht hat, keinen Hinweis auf ein Fremdverschulden, dann wird nachträglich auch nichts anderes herauskommen. Außerdem sind die Vorfälle alle im Ausland geschehen, da habe ich eh keine Chance.“

Anna verzog das Gesicht zu einer Grimasse und äffte ihre Freundin nach.

„Du bist jetzt bei Europol, natürlich kannst du nachforschen. Du musst nach Verbindungen zwischen den einzelnen Unfällen suchen. Ich bin sicher, du findest etwas, wenn du nur suchst.“

Valerie verdrehte die Augen.

„Warum ich? Sag doch auf Deiner Dienststelle Bescheid, die sollen sich darum kümmern.“

Jetzt verdrehte Anna die Augen.

„Bist Du schwer von Begriff, Mensch? Die haben doch schon damals alles vertuscht. Was glaubst Du, was die mit mir machen, wenn sie mitbekommen, was ich alles weiß?“

„Du weißt ja nichts, das ist das Problem. Du spekulierst nur.“

Am nächsten Morgen, gemeinsames Frühstück.

Der Rotwein hatte unangenehme Spuren hinterlassen. In Valeries Kopf rumorte ein pochender Schmerz, während der von der Säure überreizte Magen brannte.

Anna dagegen saß wie ein Stehaufmännchen am Tisch, nur mit Slip und T-Shirt bekleidet. Sie hatte eine geradezu penetrant gute Laune und langte bei den frisch aufgebackenen Croissants kräftig hin. Von ihren verschwörerischen Befürchtungen am Vorabend war nichts mehr zu spüren.

Ein kurzes Klingeln störte die andächtige Stille gemeinsamen Schweigens. Nur ein einziges Klingeln. Wie ein Anruf, bei dem der Anrufer es sich anders überlegt und gleich wieder auflegt. Beide schauten sich an, Valerie überrascht mit krauser Stirn, über Annas Gesicht zog ein spitzbübisches Grinsen. Das Geräusch war aus Richtung der Handtasche gekommen, die im Flur lag.

„Was war das?“

„Mein Handy“, antwortete Anna mit vollem Mund. „Ich habe eine SMS bekommen.“

Sie sprang auf, in zwei, drei Sätzen war sie an der Tasche. Dass sie das Gerät in der Hand hielt, konnte Valerie nur an den Piepstönen der Tastatur ausmachen. Ihrer Freundin zeigte Anna nur ihre Rückansicht. Interessiert betrachtete die eine beginnende Cellulitis, die sich, vom Slip verdeckt, den Oberschenkel hinunter arbeitete.

„Du musst unbedingt etwas tun“, befand Valerie und meinte damit das Problem mit dem Bindegewebe.

„Ja, ich muss los“, antwortete Anna.

„Wieso?“

„Ich muss schnell nach Hause.“

Anna wackelte vielsagend mit dem Kopf. Ihre Knopfaugen leuchteten fröhlich. Sie trug den gleichen verschmitzten Gesichtsausdruck, der am Abend zuvor über ihr Gesicht geblitzt war, als sie von dem autoerotischen Unfall sprach.

Valerie zog die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. Die Haare fielen ihr dabei ins Gesicht.

„Sag nicht, die SMS war von ihm.“

Sie sprach immer nur von ihm, wollte seinen Namen im Grunde gar nicht wissen. Schließlich war der Mann verheiratet, hatte zwei Kinder und traf sich regelmäßig unter der Woche mit Anna in ihrer Wohnung. An den Wochenenden hatte er normalerweise nie Zeit, die waren seiner Familie vorbehalten.

„Doch, es war Pierre. Er will heute Mittag vorbeikommen.“

„Und du rennst gleich los, oder wie?“

„Natürlich, wenn sich schon die Gelegenheit bietet. Ich hab dir doch gesagt, dass Surfen allein nicht ausreicht für mich.“

„Valli, sei nicht sauer“, meinte Anna kurz darauf, ihre Taschen in der Hand.

„Bin ich doch auch nicht, ich .... .“

„Ich schicke dir morgen früh die Unterlagen per Mail. Über die Todesfälle. Überprüf sie, bitte“, fiel ihr Anna eindringlich ins Wort und hauchte ihr zum Abschied einen Kuss auf die Wange.

Valerie stemmte die Hände in die Hüfte.

„Hast du schon mal daran gedacht, dass er dich nur ausnutzt?“

„Vielleicht ist es ja genau andersherum“, entgegnete Anna trotzig ihrer verblüfften Freundin und war auch schon verschwunden.

Valerie schob die Gardine zur Seite und beobachtete, wie Anna nach einer Weile unten auf dem Parkplatz ihre Taschen schwungvoll auf die Rückbank schleuderte und in den Wagen sprang. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, sich anzuschnallen. Zügig fuhr das Auto an, bog aus dem Parkplatz in die kleine Seitenstraße ein. Valerie konnte noch sehen, dass Anna beim Abbiegen in die nächste Straße das Stoppschild nicht beachtete.

Mit einer Tasse Kaffee in der Hand machte sie es sich im Ohrensessel bequem, nahm die Fernbedienung vom Tisch und schaltete damit die Stereoanlage ein.

Leise, verhaltene Musik schlich sich aus den Lautsprechern in den Raum und breitete sich aus, zuerst ein verhaltenes Saxofon, eine zarte Stimme setzte ein. Sades Jezebel trug nicht dazu bei, Valeries' melancholische Stimmung aufzulösen.

Jahr der Ratten

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