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Venedig oder nicht Venedig – Planungsfehler

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Eigentlich wollte nicht nur ich, sondern wir alle schon lange nach Venedig. Lange, bedeutungsschwere Pause. Denn ein Satz, der mit »eigentlich« beginnt, verheißt schließlich überhaupt nichts Gutes. Man kann sich also schon denken, dass aus Venedig nichts wurde. Und das, obwohl ich seit meiner Jugend ganz dringend in diese Stadt reisen will. Ich glaube Venedig nämlich einfach nicht. Das kann doch alles nicht wahr sein! Dieser Inbegriff der romantischen Kulisse, den muss doch jemand erfunden haben! Ich will mir unbedingt diese Kanäle mit den tollen alten Häusern und den Millionen gestreiften Pfosten anschauen. Mit diesen Gondolieri. Den Brücken. Und den vielen Venezianern, die immer alle Karnevalsmasken tragen. Auch beim Einkaufen, beim Sport oder auf dem Klo. Täglich. Außerdem sind die Menschen dort grundsätzlich üppig-historisch gekleidet und tragen Federmasken und Turmfrisuren. Dass das so ist, weiß man einfach. Sieht man schließlich in jedem Reiseführer.

Ich hatte als Kind ein Venedig-Puzzle von Mordillo, falls den noch jemand kennt. Es war das schwierigste Puzzle, an das ich mich jemals gewagt habe, denn alles war geringelt. Die Gondolieri trugen geringelte Shirts, die Katzen an den Stegen waren irgendwie gestreift und aus dem Wasser ragten krumm und schief diese Markierungspfosten wie überdimensionale rot-weiße Weihnachtszuckerstangen. Seitdem will ich dahin und mit eigenen Augen sehen, was es mit dieser Stadt auf sich hat.

»Kann man da angeln?«, will William wissen, als ich ihm von meinem Herzensurlaubsziel erzähle. Denn das ist sein Auswahlkriterium für einen angemessenen Urlaubsort dieser Tage. Geringelt hin oder her, völlig piepegal. Wenn man angeln kann, ist der Urlaubsort okay. Das Problem: Man muss es dann auch machen. Das Dilemma ist also folgendes: Sagen wir, man kann angeln, wird ein kleiner Junge seinen Vater so lange bearbeiten, bis dieser, anstatt sich mit uns die historische Altstadt anzusehen, sich an den Kanalrand setzt und seine Angel ins Wasser hält. Sollte dies nicht erlaubt sein (was wir uns alle wünschen würden), wäre mein Sohn empört und auch schwer nur wieder mit dieser Stadt zu versöhnen. Denn wenn es irgendwo Wasser gibt, gibt es Fische. Und wenn es Fische gibt, muss man angeln. Das ist Pflicht, Gesetz und die Natur der Dinge.

Will man nun nicht unbedingt den weiten Weg nach Venedig auf sich nehmen, nur um dann sicherlich sehr kleine Fische aus einem eher fragwürdigen Gewässer zu ziehen, dann sollte man sich entweder doch für Sightseeing entscheiden oder an irgendeinen See fahren. Weit weg von Venedigs Lagune. Oder in den Schwarzwald. Der ist bei uns quasi vor der Haustüre, ähnlich beliebt bei Japanern wie Venedig und außerdem flächendeckend mit Fischzuchtbetrieben besiedelt.

Ich will aber Sightseeing. Und ich bin kein Japaner. Den Schwarzwald kenn ich schon. Da gibt es keine Sights, die ich noch nicht gesehen habe, und überhaupt sieht es überall dort so aus wie, nun, eben bei uns vor der Haustüre. Brauch ich nicht. Hab ich schon.

Ich. Will. Nicht. Angeln. Ich. Will. Nach. Venedig. Außerdem hat mir mein Mann das zur Hochzeit als Hochzeitsreise versprochen. Ist 18 Jahre her. Und ich war schwanger. Gingen wir eben nur ins Thermalbad. Aber jetzt ist doch der perfekte Moment! Maria muss für die Schule außerdem Tod in Venedig lesen. Da haben wir es. Perfekt! Die Schule ist doch immer wieder der allerbeste Reisegrund. Bildung! Wissen! Erkenntnisse! »Du, Mama?«, fragt die Tochter, »geht es in dem Buch um den quälenden Tod von Teenagern durch übereifriges, zwanghaftes Kirchenbesichtigen?« Äh. Nun. Ich sehe, sie ist schon ganz in die Materie eingetaucht. Dabei bin ich wirklich keine besessene Kirchenbesucherin. Ich will einfach nur wissen, ob auch die Kathedralen in der geschichtsträchtigen Stadt alle geringelt sind. Ich kann auch prima in der Sonne sitzen und Cappuccino trinken. Lilli anscheinend auch, denn sie sagt dazu gar nichts. Das kann man bei einem Teenager durchaus als Zustimmung gelten lassen.

Ich buche. Die erste Nacht wollen wir auf halber Strecke auf einem Agriturismo, einem Bauernhof vor Verona, verbringen. Mit Blick auf die Stadt. »Oh, Verona!«, seufze ich verzückt, »wie gern würde ich einmal dort in der Arena eine Oper hören! Nabucco! Carmen! La Traviata! Aida!«

Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Lilli, Maria und William synchron geschockt die Augen aufreißen.

»Romeo und Julia?«, versuche ich zaghaft doch noch mein Glück bei den Mädchen. Irgendwo tief vergraben müssen die beiden doch wenigstens eine ganz kleine romantische Ader haben? Nein? Haben sie nicht.

»Meinst du diesen komischen schnulzigen Film mit Leonardo di Caprio? Da war der noch voll jung! Voll kitschig! Hat bestimmt so ’ne Frau geschrieben, die keine Ahnung von Action hat!«, sagt Maria.

Äh ja.

»William Shakespeare?« Ich ernte doppeltes Schnauben.

Lilli ergänzt: »Shakespeare? Spielt der auch mit? Na und? Total unrealistisch das Ganze. Und uralt! Mindestens aus den Neunzigern oder so. Was ist damit?« Hilfe!

Bevor William sich nach eventuellen Gewässern in Verona erkundigen kann, lobe ich die Vorzüge des unterwegs gebuchten Landgasthofes: Schafe, Ziegen, Hühner, Katzen, zwei Ponys. Wein. Brot. Käse. Der kulinarische Verführungsversuch gilt eher meinem Mann, der auch ganz gern Opern hört. Hören würde. Und eigentlich gar nicht überredet werden muss.

Überhaupt sind die Interessen meiner Familie gar nicht so leicht unter einen Hut zu bringen. Denn die Angelfrage meines Sohnes ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere heißt: »Kann man da shoppen?« Und wenn man es genau nimmt, hat die Hutzenlaub’sche Urlaubsmedaille sogar noch eine dritte, nämlich die »Gibt’s da WLAN?«-Seite. Angeln und Shoppen gleichzeitig strapaziert meine Vorstellungskraft schon ein wenig, aber nun auch noch WLAN? Ich bin überfordert. Auf dem Bauernhof gibt es kein WLAN und man kann nicht shoppen gehen. Es sei denn, man gehört zu der verschwindend kleinen Pubertistengruppe, die sich shoppingtechnisch für eingemachtes Obst und selbst geräucherten Schinken interessiert. Tut man in unserem Falle nicht. Wenn man es nicht anziehen oder auf die Nägel und ins Gesicht streichen kann, ist es uninteressant für Maria und Lilli.

Wenigstens findet William, dass Ziegen und Schafe ein ganz angemessener Ersatz für Fische sind, und die Mädchen werden sich ja wohl einen Tag auch in der Natur aufhalten können, ohne sogleich an akuter Vereinsamung durch WhatsApplosigkeit sterben zu müssen. Wenn man ihre Gesichter sieht, muss man allerdings mit dem Äußersten rechnen.

Ich beschäftige mich nun seit circa sieben Stunden verteilt auf drei Tage mit dem Thema Venedig und bin ein wenig gereizt ob der mangelnden Begeisterung meiner Kinder und der komplett fehlenden organisatorischen Unterstützung meines Mannes. Aber da es ja mein Wunsch war, dorthin zu fahren, bleibe ich dran. Und weil ich glückliche Menschen um mich haben will, habe ich nach dem Bauernhof vor Verona nun auch noch eine wunderschöne Wohnung mitten in der Altstadt von Venedig für uns gefunden. Hohe Decken, geschmackvolle, moderne Einrichtung, spannende Bilder an der Wand, ein großes Bad und eine super Küche. Nicht zu vergessen die vielen kleinen Läden, die sich in unmittelbarer Nähe befinden. Ach, denke ich so bei mir, alles richtig gemacht.

»Wozu brauchen wir so ein schickes Appartement, wenn wir uns die Stadt anschauen wollen?«, fragt mich da mein pragmatischer Mann ein wenig irritiert ob des nicht ganz so schnäppchenmäßigen Preises dieses Kleinodes. Er kann wirklich überall schlafen und beansprucht keinerlei Komfort für sich.

Grundsätzlich hat er damit natürlich recht, aber er reist mit mir. Und ich will nicht wissen, ob man da angeln kann, auf Shoppen kann ich auch verzichten (obwohl, so ein bis zwei Paar Schuhe aus Italien …?), WLAN ist nett, aber nicht lebensnotwendig, selbst auf Opernbesuche verzichte ich zur Not, ebenso wie auf Shakespeare, wenn nur die Familie glücklich ist. Aber: Ich möchte eine schöne Unterkunft. Ich will mich nicht in einem Bad ekeln oder mich in einem Schlafzimmer unwohl fühlen. Nein, ich möchte in der Designerküche unserer Gastgeberin keine Fünf-Gänge-Menüs kochen (und schon zehnmal keinen in der Lagune selbst gefangenen Fisch!), ich möchte mich nur bei meinem ersten Kaffee am Morgen entspannt an einen unklebrigen Tisch setzen, die Aussicht genießen und abgesehen von einem wohligen »Hach!« nichts sagen müssen. Schon gar kein irritiertes »Huch!«.

Das mit dem Bad ist echt wichtig. Wenn ein Bad nicht sauber ist, dann krieg ich Herpes. Und schlechte Laune.

Wenn es also mein Urlaubsglück positiv beeinflusst, eine etwas teurere, tollere Wohnung zu mieten, dann machen wir das. Zumal ich nun mal die Reiseplanerin bin. Und im Zweifel sage ich eben, es hätte keine andere gegeben. Ha.

Nachdem ich stolz meine Buchungen ansehe und mich schon mal im Voraus auf einen leckeren Cappuccino in der Sonne und anregend unverständliches italienisches Gemurmel freue, runzelt Lilli die Stirn.

»Äh, wann ist das noch mal genau?«

»In den Osterferien. Wieso?«

Nur zur allgemeinen Erläuterung: Die Osterferien beginnen in acht Tagen. Die allgemeinen Baden-Württembergischen Schulferien stehen in unseren Kalendern. Und alle Kinder wissen, wann sie frei haben.

Lilli: »Also, ich habe dir doch gesagt, dass ich da mein Sozialpraktikum im Kindergarten machen muss! Ich kann da nicht weg! Ich muss das machen! Ich …«

Sozialpraktikum? Lilli? Noch nie gehört. Aber okay. Einatmen. Ausatmen. Wundern. Ist es nicht so, dass ich gerade in körperlicher Anwesenheit von Lilli einen Urlaub gebucht habe, zu dem sie nun nicht mitkommen kann, weil ihr plötzlich auffällt, dass sie da arbeiten muss? In den Ferien?

»Wie? Du kommst nicht mit?«, mischt sich nun auch Maria ein. Ich bin einigermaßen beruhigt, dass sie auch leicht säuerlich schaut. Immerhin ist sie sonst »nur« mit Holger, William und mir unterwegs. Keiner zum Shoppen. Alle nur angeln. »Hä? Wie soll denn das gehen?« Entnervt schaut sie mich an, dabei kann ich da doch am wenigsten dafür. Wie soll was gehen? Und woher soll ich das wissen? Ich bin hier nur die Mutter. »Ich habe da meinen Intensivkurs Mathe! Das weißt du doch!«

Weiterer, beleidigter Blick, so als ob ich Venedig gebucht hätte, nur um sie persönlich zu ärgern. Und nein. Ich weiß es nicht. Ich wusste es nicht. Mir hat niemand irgendetwas gesagt. Mir sagt sowieso nie irgendjemand irgendwas. »Also Mama, wir können da jetzt eben beide nicht mit.«

Meine Töchter sind sich nie einig. Bis auf jetzt.

»Wie? Moment: Ihr kommt nicht mit? Ich habe doch alles schon gebucht! Venedig! Nur für euch! Und außerdem – ich lasse euch doch nicht hier allein! Was da alles passieren kann! Und …«

»Ja, Mama. Und du bist sowieso die Allerärmste!«

Hä? Ich bin zwar grundsätzlich derselben Meinung, besonders jetzt gerade, da ich zwei Bauernhofzimmer und eine sauteure Wohnung in Shoppingnähe für fünf Personen gebucht, eine Reiseroute geplant und mehrere Stunden meines Lebens dafür geopfert habe. Nicht zu vergessen die abwertenden Blicke meiner Töchter und das Shakespeare-Fiasko? Aber was hat das denn damit zu tun?

»Ist ja auch egal.«

Nein! Ist es nicht! Es ist nicht egal! Es ist viel schlimmer, denn ich mag ein wenig schwer von Begriff sein, aber blöd bin ich nicht. Und jetzt habe ich sie durchschaut. Es gibt nichts zu beschönigen: Meine von mir zu Ehrlichkeit, Anstand und Respekt erzogenen Mädchen haben das alles von langer Hand geplant. Was hab ich mir da nur eingebrockt, als ich mir selbstständige und kluge Kinder gewünscht habe? Und am besten welche, die ein bisschen so sind wie ich? O Mann. Augen auf bei den Charakterwünschen sage ich da nur. Das hab ich jetzt davon, denn:

»Total easy. Ihr fahrt mit William nach Venedig und wir bleiben hier. Irgendjemand muss ja auch die Katze füttern!« Tolles Argument. In unserer Nachbarschaft gibt es viele hochqualifizierte Katzenfütterer. »Wir könnten ja eh nicht wirklich feiern, weil wir ja beschäftigt sind!« Synchroner Augenaufschlag. Ich glaube kein Wort.

Aber was soll ich tun? Der Mathekurs ist sicherlich sinnvoll und ich erinnere mich dunkel, dahingehend eine Empfehlung von Marias Lehrer bekommen zu haben (woher sollte ich denn wissen, dass er ausgerechnet in den Osterferien stattfindet?), und einen passenden Praktikumsplatz zu bekommen, ist wirklich auch schwierig. Andererseits: Will ich meine Kinder wirklich allein zu Hause lassen? Darf man das überhaupt?

Ein kleines, feines Lächeln liegt auf den Gesichtern von Lilli und Maria. Siegesgewiss zwinkern sie sich zu. Herzloses Pack.

Na warte, irgendwann werdet ihr mich anflehen, mit euch nach Venedig zu fahren, alle beide. Ich weiß es genau. Aber dann nehme ich euch nicht mehr mit. Ich habe ja auch meinen Stolz.

Wofür alle meine Kinder übrigens ihre megawichtigen Termine absagen oder gleich in der Lage sind, vorausschauend zu planen, ist ein Urlaub in Bayern. Um genau zu sein, in Frohmaching.

Ruhe auf den billigen Plätzen!

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