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Viertes Kapitel.
ОглавлениеVon Befürchtungen gefoltert, schritt Rittberg merklich beeilt den Korridor entlang auf das Turmzimmer seiner Tante zu. Er kannte nur allzu wohl die dämonische Einwirkungskraft der nach den höchsten Bildungsstufen ringenden Frau, um nicht alles Schreckliche erwarten zu müssen, und seine Einbildung malte ihm einen Auftritt, der sich auf dieses Feld ihrer Herrscherlaune bezog. Dass die Beleidigung seines Schwagers weit tiefer ins Herz schneidend sein könne, dachte er trotz der sichtlichen Verstörtheit des Grafen doch nicht.
Indem er im Begriffe war die Türe des Kabinetts zu öffnen, hörte er sich rufen, und zurückschauend bemerkte er den Junker Wolf, der, ebenfalls von einer Unruhe seltsamer Art befallen, den Ess-Saal verlassen hatte und auf den Hof getreten war, als der Graf jagend das Schloss verließ. Rittberg ging ihm entgegen.
»Um Gotteswillen!« rief der Junker bestürzt, »was ist vorgefallen? Mein Vetter hat in einem Zornanfalle seine Braut verlassen! Was ist geschehen?«
»Ich weiß es nicht!« berichtete Rittberg. »Eilen Sie Ihrem Vetter nach – halten Sie ihn irgendwo auf - benachrichtigen Sie mich – nehmen Sie meinen treuen Johann mit – die schnellsten Pferde – nur schnell – schnell, damit Sie ihn einholen, Wolf!«
Der Junker verbeugte sich und sprang die Treppen wieder hinab.
»Ich fürchte, hier hilft keine Eile,« murmelte er unterwegs; »mir scheint bei dem Brettow’schen heißen Blute alles verloren. Arme Margareth!«
Rittberg trat unverzüglich in das Kabinett. Er fand seine Tante ruhig im Kanapee sitzend, das Lächeln innerlicher Befriedigung auf dem stolzen, noch immer schönen Antlitze, während Margareth mit krampfhaft verschlungenen Händen am Fenster stand und unverwandt ins Tal hinabschaute.
Die Sonne war nun ganz hinabgesunken und nur ein roter Streifen am Horizonte bezeugte noch ihr Verschwinden. Der Nebel breitete seine grauen Flügel über die Erde hinweg, eine heilige Stille begann einzukehren und eine erquickliche Ruhe waltete bald überall. Herr von Rittberg legte im Impulse seiner brüderlichen Würde den Arm um Margareth und sah seine Tante mit einem ziemlich strengen und herausfordernden Blicke an.
Margareth blickte wie eine Träumende in die Weite, wo eben ein Ross mit einem Reiter im Nebellichte des dämmernden Abends verschwand. Ihr Finger deutete dorthin, als sie sich hilfsbedürftig an die Brust des Bruders lehnte und leise flüsternd zu ihm sprach:
»Verloren! Alles verloren!«
Frau von Wallbott kam seiner Frage nach der schweren Bedeutung dieser Worte zuvor, und setzte ihren Neffen mit kurzen, beflügelten Worten von dem Vorgefallenen in Kenntnis.
»Keine Klagen und keine Szenen, mein bester Reinhard,« schloss sie befehlend. »Ich wünsche, dass sich Margareth von jetzt an bis zur Ankunft Alexanders überlassen bleibt, damit sich ihre Seele erst wieder zurechtfindet, damit sich ihr Gemüt beruhigt.«
»Und mein Herz?« fragte das junge Mädchen bitter.
»Dein Herz wird unter den Beschwichtigungen der wiederhergestellten Seelenruhe bald wieder vernünftig pulsieren,« entschied Frau von Wallbott kurz. »Übernimm meine Entschuldigung bei Deinen Gästen, lieber Neffe, und schweige, selbst gegen Elvire, von dem, was hier geschehen ist. Morgen wird sich das Weitere finden. Margareth kann bei mir bleiben.«
Ob Margareth bei ihr zu bleiben Lust hatte, danach fragte sie gar nicht. Aber Rittberg kam seiner Schwester zu Hilfe.
»Wenn Margareth ungestört ihre Seelenruhe wiederzuerlangen suchen soll, so muss sie allein bleiben, und nicht unter den Ratschlägen einer Tante, die ihr Empfindungssystem lenken und leiten kann,« sprach er ernsthaft. »Ich werde meine Schwester in ihr Zimmer geleiten und bei unsern Gästen ihre Abwesenheit durch Kopfweh entschuldigen.«
»Das ist mir auch genehm, denn ich liebe es, meine Gedanken auszuruhen, nachdem ich etwas erlebt habe, was mich tief zu beschäftigen vermag. In einer einsamen Stunde gelingt mir dies besser und außer für Margareth würde ich mein Zimmer für jedermann verschlossen gehalten haben,« entgegnete die Dame etwas pikiert von dem Ernste ihres Neffen, der sich anschickte, mit Margareth das Zimmer zu verlassen.
»Noch eine Frage, liebe Tante, bevor ich Sie verlasse,« sagte er dicht an der Tür stehenbleibend. »Verbinden Sie eine Absicht mit dem für mich unerwarteten Eintreffen des Herrn Alexander von Lottum?«
»Ja, mein hochgeschätzter Neffe,« antwortete sie hochfahrend.
»Sie können doch nicht wollen, dass sich Margareth so leichtsinnig beweisen sollte, statt des Grafen Levin, jetzt den Herrn Alexander von Lottum zu heiraten?«
»Wäre dies leichtsinniger, als eine Heirat mit einem ungebildeten, roh leidenschaftlichen Manne, den Margareth erst seit Wochen kennt, während sie mit Alexanders Individualität seit Jahren vertraut ist?« fragte die Dame mit einer so abweisenden Härte, dass man an Herzlosigkeit dabei denken konnte. »Übrigens habe ich nicht Lust, mich in Antworten zu verstricken, die für ein Verhältnis, das ich nicht bestimmen, sondern nur wünschen kann, ganz unwesentlich sind. Ich enthalte mich aller Einwirkungen auf Margareths Gemüt und fordere von Dir dasselbe. Was dann kommt, ist Gottes Bestimmung!«
Sie reichte dem jungen, still nachsinnenden Mädchen die Hand, küsste sie auf die Stirn und sagte mit ganz verändertem Tone: »Du weißt, ich liebe Dich, mein Kind – schlafe ruhig und süß!«
»Was dann kommt, ist Gottes Bestimmung!« murrte der junge Schlossherr, als er seine Schwester schweigend in ihr Zimmer gebracht und den bestimmten Befehl erteilt hatte, »sie nicht zu stören und niemanden, wer es auch sei, zu ihr zu lassen.« -
»Mir scheint hier eine Gottesbestimmung von Menschenworten zertrümmert zu sein! Hätte ich nur den Grafen nicht fortgelassen! Meine Bestürzung hat mir einen üblen Streich gespielt. Warten wir ab, was Junker Wolf ausrichtet.«
Mit diesem Selbstgespräche schloss er für den Augenblick jeden Gedanken an die fatale Unterbrechung seines Seelenfriedens und bemühte sich, seine Gemütsstimmung vor seinen Gästen zu verbergen.
Es gelang ihm ganz gut. Professor Gellert war in sehr guter Laune und der Oberst von Pröhl schwelgte ordentlich in der Freiheit, an diesem Abende noch ungestört ›donnerwettern und sakrieren‹ zu können. Man trennte sich früh, weil man ermüdet war, und als der Schlossturm die zehnte Stunde verkündete, herrschte schon der lautlose Frieden einer gewünschten Nachtruhe in allen Räumen des Schlosses. Ob aber alles schlief, was still war?
Im nördlichen Turme seufzte ein junges, zartes Stimmchen ganz vernehmlich, als es zehn Uhr schlug, und dasselbe Stimmchen fragte schüchtern: »Schläfst Du, Elvire?« -
»Nein, noch nicht, mein Trudel –« entgegnete Elvire schmeichelnd. »Ich betrachte mir nur still die Bilder, welche der Mond auf meinem Bettvorhang malt.«
Gertrud richtete sich furchtsam in die Höhe.
»Ach! Elvire – mir ist mein Herz so schwer, so übervoll! Ich habe ein Geheimnis! Ich möchte es Dir vertrauen! Ich kann nicht davor schlafen.«
»Nun, so beichte los, Du närrisches Kind,« rief Elvire ermunternd. »Warum hast Du Dein übervolles Herzchen denn nicht schon früher geöffnet?«
»Ach, Elvire – es ist etwas Erschreckliches, was ich Dir zu sagen habe – die Wände dürfen es nicht hören. Erlaubst Du, dass ich zu Dir hinüberkomme?« fragte das Mädchen kindlich.
Elvire lachte.
»Darauf läuft es ’mal wieder hinaus, das Kind fürchtet sich!«
»Nein, gewiss nicht!« beteuerte Gertrud eifrig, verließ aber dessen ungeachtet schleunig ihr großes, mit Vorhängen gespenstisch drapiertes Bett, und nahm eilig von dem Plätzchen Besitz, das Elvire ihr bereitwillig einräumte.
Es fiel dieser jungen Dame gar nicht ein, dass sich wirklich in dem kindischen Herzen der Pflegeschwester ein Geheimnis befinden könne, sie hielt dies Vorgeben nur für einen Kunstgriff, das Alleinschlafen in dem breiten fremden Bette zu umgehen, und war umso mehr erstaunt, als Gertrud heimlich flüsternd begann:
»Hast Du denn nicht bemerkt, dass ich den Speisesaal gleich nach Margareth verlassen habe? Ach, die arme, arme Margareth!«
Elvire stutzte und fragte weiter. Ihr war der leichte Schatten der Verstörung, der das Schloss zu durchdringen schien, nicht ganz entgangen, allein sie schob den Grund dazu auf die Ankunft der Frau von Wallbott, die als höchst anspruchsvoll geschildert wurde.
»Denke Dir, ich war hinaufgegangen in den Salon, um mir mein Klöppelzeug zu holen, das ich auf dem Tische unter den Myrtenbäumen liegen gelassen hatte. Aber, ich will Dir’s gestehen, ich war auch etwas besorgt und neugierig, was Frau von Wallbott zu Margareth sagen würde.«
»Das kann ich mir denken!« schaltete Elvire ein.
»Als ich mich eben hinter der Myrtenwand, wo der Altar stehen soll, niederlassen wollte, da sah ich einen Reiter durch den Fluss sprengen. Ich sage Dir, Elvire, mit einer Hast und Kühnheit, als gälte es sein Leben zu retten, und in demselben Augenblicke öffnete auch Frau von Wallbott eine Tapetentür dicht neben mir, von deren Dasein ich gar keine Ahnung gehabt hatte. Was sie bis dahingesprochen haben, das hatte ich nicht verstehen können, aber was sie jetzt sprachen, das verstand ich, ohne es zu begreifen. Darauf kommt aber gar nichts an, liebste Elvire. Das Schlimmste war, dass ich still hinter der Fensterdraperie sitzen bleiben musste und dass ich plötzlich den Reiter in den Salon treten sah. Es war also der Graf Levin gewesen.«
»Kind, Kind, Du träumtest wohl?« fragte Elvire, sich aufrichtend und dem jungen Mädchen ins Auge schauend. Gertrud schüttelte aber traurig lächelnd den Kopf und versicherte aufs Gewissen, wach gewesen zu sein. Sie erzählte nun die ganze Szene, wie sie sich zugetragen und wie sie geendet hatte, wobei sie nicht unterließ, offenherzig zu erörtern, dass sie zuletzt so kühn geworden wäre, durch die Ritze der Türe zu blicken.
»O, Elvire, und Du hättest den Grafen sehen sollen,« schloss sie begeistert ihre Hände zusammenpressend. »Er sah so prächtig aus, wie ein Gott, als er mutig den Ring in Margareths Hand legte, als er sagte, dass er genug gehört hätte für sein ganzes Leben! Aber Elvire – der Graf Levin tat Margareth Unrecht! Glaube mir, sie liebt ihn viel, viel mehr als den hässlichen, abscheulichen Alexander, den ihre Tante zu ihrem Gatten bestimmt hat.«
»Kennst Du denn Herrn Alexander von Lottum?« fragte Elvire frappiert von den Bezeichnungen, die das junge Mädchen gebrauchte. »Hässlich und abscheulich ist er?«
»Das weiß ich nicht, sondern ich denke mir’s bloß,« eiferte das junge Fräulein. »Hättest Du den Grafen nur gesehen, wie er vor Margareth stand und seine Augen lauter Flammen und Blitze waren. Wenn er nur wüsste, dass nur die weise Dame Wallbott die ganze Verwirrung angerichtet hätte. Margareth konnte ja gar nicht zu sich kommen. Ihre Tante redete immerzu und solche hochtrabende Dinge, dass Margareth gewiss erst erkannt hat, wen sie mehr liebt, als es zu spät war.«
»Ja wohl – zu spät!« entgegnete Elvire trauervoll, tadelte jedoch im Innern die Zaghaftigkeit einer Braut, die nicht gewagt hatte, mit einem Worte voll Energie den Wert des Mannes zu verteidigen, den sie sich zum Gatten erwählt hatte.
»Siehst Du, Elvirchen, das ist mein Geheimnis, weshalb ich nicht schlafen konnte, aber auch meiner Entschlüsse wegen musste ich Dich noch sprechen, bevor ich einschlief. Margareth muss der Frau von Wallbott zum Trotze den Grafen heiraten und muss ihr zum Ärger unaussprechlich glücklich mit ihm leben!«
»Zu der Verwirklichung dieser Träume ist aber blutwenig Aussicht, Kleine!«
»Oho, höre nur meine Entschlüsse!« fiel das Mädchen pathetisch ein. »Ich wähle mir einen Vertrauten. Entweder den Junker Wolf oder den Professor Gellert. Denen sage ich, dass Margareth keineswegs den Alexander von Lottum lieb hat.«
»Wodurch willst Du denn diese Behauptung beweisen?«
»Dadurch, dass ich es behaupte, Elvire!« trotzte Fräulein Gertrud.
»Ach so! Ja, ob jedoch Graf Levin Deinem Worte Gewicht beilegen wird?«
»Elvire, beleidige mich nicht!« fuhr das Fräulein heftig auf. »Der Graf wird und muss mir glauben, wenn ich es sage.«
»Ja freilich, der Verwandtin des Feldmarschall Exzellenz glaubt er es sicher!« spottete Elvire. »Und wenn er es nun auch glaubt, was nützt ihm das bei der Aussicht, Margareth in nächster Zeit als Frau von Lottum begrüßen zu müssen?«
»Eben, Elvire, um dies zu verhindern, muss ich mich schnell einem Vertrauten entdecken und diesen Vertrauten an den Grafen absenden.«
»Zu solchen Missionen möchte sich der Professor Gellert schwer bereitwillig finden lassen, kleine Heldin,« meinte Elvire; »denn da der Graf auf den Flügeln der Abendröte fortgeflogen ist, so möchten wohl die Flügel der Morgenröte nötig sein, um ihn einzuholen.«
»Du hast Recht! Es wird mir nichts anderes übrig bleiben, als den Junker ins Vertrauen zu ziehen!«
»Hast Du dazu Mut?«
»Warum denn nicht?« fragte Gertrud unbefangen. »Onkel Exzellenz würde tüchtig lachen, wenn ich einem Junker gegenüber keinen Mut hätte.«
»Still, still! Dem Onkel Exzellenz dürftest Du mit dieser Geschichte wohl kaum unter die Augen treten, ohne einen Verweis befürchten zu müssen.«
Gertrud schwieg und dachte nach.
»Was fange ich nur an, um Margareth mit dem Grafen verheiratet zu sehen. Sie müssen sich durchaus heiraten! Ich ruhe nicht eher!«
»Vor allen Dingen würde dazu nötig sein, dass sich Margareth nicht überreden lässt, ein neues Bündnis zu schließen,« meinte Elvire. »Das Weitere würde der Zukunft anheimfallen müssen.«
»Ja, Elvire! Du hast das Rechte getroffen!« rief Gertrud lebhaft angeregt. »Überredungskünste der weisen Tante Wallbott müssen außer Kraft gesetzt werden, und dazu kann der Professor uns verhelfen. Ich werde ihm in frühester Frühe einen Besuch auf seinem Zimmer machen, ihm meine Erlebnisse mitteilen–«
»Ganz speziell?« fragte Elvire dazwischen.
»Ja, ganz speziell und ohne Rückhalt. Nicht ein Wort werde ich ihm verhehlen. Ganz ehrlich, wenn ich mich auch meines Horchens schämen muss, will ich ihm die Wahrheit sagen und es ihm überlassen, auf welche Weise er helfen will. Er muss Margareths Ritter werden, denn er hat es mir gelobt!« schloss Gertrud mit Begeisterung und schmiegte ihren Kopf sehr zufrieden mit sich selbst in die weichen Kissen.
»Bist Du fertig mit Deiner Beichte, Kleine?« fragte Elvire, die ihre Anstalten zum Schlafen sehr gut zu deuten wusste.
»Ja, Elvirchen, ja! Nun bin ich müde!« antwortete sie schon schlaftrunken.
»Dann wirst Du gut tun, erst wieder Dein Bett aufzusuchen!«
»Ach – lass’ mich hier schlafen – wir haben Platz – bitte, schönste Elvire!«
Elvire lachte, erteilte der Schmeichlerin einige Klapse auf die Hände, welche sie um ihren Hals zu schlingen suchte, und spottete: »Du rühmst Dich beständig Deines Mutes, und fürchtest Dich, allein zu schlafen?«
»Ja, das ist auch ganz etwas anderes,« seufzte das Fräulein und legte ihr Köpfchen dicht an ihre Pflegeschwester heran. Noch eine Minute – und ihr tiefes Atmen zeigte, dass der Schlummergott sie herzhaft geküsst hatte.
Elvire betrachtete mit stiller Freude das frische, rosige Gesicht neben sich, das selbst in der halben Beleuchtung des Mondes nichts von seinem lebensvollen Reize einbüßte. Eine Flut von Gedanken überstürzte sie dabei und ihr Herz bebte im Mitgefühle, wenn sie der Trostlosigkeit Margareths gedachte, die durch eigene und fremde Schuld in eine Lage versetzt worden war, welche keinen erfreulichen Ausweg zeigte.
»Ob Margareth wohl schläft?« fragte sie sich gedankenschwer, und der Wunsch stieg in ihr auf, das Vertrauen ihrer zukünftigen Schwägerin gewinnen zu können, um ihr mit Rat und Tat zu helfen. –
Als der erste Morgensonnenstrahl vom nordöstlichen Horizonte sich durch das Fenster stahl, über das Bett hinflog und das Gesicht der beiden holden Schläferinnen streifte, da schlug Gertrud verwundert die Augen auf, und fand sich zu ihrem Erstaunen neben Elviren. Schnell schlüpfte sie in ihr eigenes Bett zurück und kroch sogleich lachend unter die Bettdecke, als Elvire ihr spottend nachrief:
»Was würde wohl der sächsische Feldmarschall zu der Tapferkeit seiner Muhme Gertrud von Spärkan sagen, wenn er dies nächtliche Abenteuer erführe!«–
Um dieselbe Zeit, wo Fräulein Gertrud mit erleichtertem Herzen den Armen des Schlummers sich übergab, saß Margareth von Rittberg noch immer bewegungslos in ihrem Zimmer und grübelte über die Tagesereignisse nach.
In der nächtlichen Stille sammelten sich die Geister der Erinnerung und bestürmten ihr Herz mit tausend süßen Verheißungen. Die Schwerkraft des Kummers läuterte ihre Zweifel und erleuchtete die dunkeln Stellen ihres Innern, die ihre Entzweiung mit sich selbst veranlasst hatten. Ihr Charakter bildete sich in dieser nächtlichen Selbstschau schneller und sicherer aus, als durch jahrelanges Stillleben.
Was sie dabei litt, wurde ihr durch Hoffnungen versüßt, und selbst für den Fall, dass sie die Vereinigung mit demjenigen, welchen sie liebte, noch auf unbestimmte Zeit vertagt sah, fühlte sie in der Gewissheit seiner leidenschaftlichen Zärtlichkeit einen Balsam, der ihr genügsam wünschendes Herz befriedigte.
Aber es türmten sich Berge von Widerwärtigkeiten vor ihr auf, wenn sie die notwendige Sichtung ihrer Verhältnisse überblickte, und die eben gemachten Erfahrungen hatten sie belehrt, welch’ ein schwaches Rohr sie im Sturme des Konfliktes abgab. Was dunkel als Wunsch den ganzen Abend über in ihr geschlummert hatte, das wachte in der heimlichen Ruhe der Nacht zu einem leidenschaftlichen Verlangen auf. Sie musste ihren Bruder sprechen! Sie musste an seinem treuen, liebevollen Herzen Schutz suchen und ihr Herz mit allen Falten vor seinen Augen entschleiern. Dass er nicht zu ihr gekommen und sie mit zarter Sorge befragt und beruhigt hatte, das lag in dem Versprechen, welches er seiner Tante geleistet; aber was band sie denn, den Platz zu suchen, wo die reinste Zuneigung ihr eine Stätte bereithielt. Was hinderte sie, jetzt in der ungestörten Einsamkeit der Nacht ihn aufzusuchen zu ihrem Troste?
Lauschend trat sie an die Tür. Kein Laut drang zu ihren Ohren. Das Gesinde hatte die Räume des Schlosses längst verlassen. Totenstille lagerte in den weiten Hallen. Rasch entschlossen nahm sie eine Kerze vom Tische und ging durch die Vorhalle hindurch nach dem andern Flügel, wo ihr Bruder wohnte. Sie klopfte leise an seine Tür – er öffnete sogleich, und ein freudig aufglänzender Blick bewies, dass er denselben Gedanken gehegt hatte, wie sie.
Einige Fragen und einige Antworten genügten, um zwischen den Geschwistern alles klar zu machen, und wenn Graf Levin jetzt Ohrenzeuge bei diesem Gespräche hätte sein können, so würde er zufriedener gewesen sein.
Die Mitternachtsstunde war längst vorüber, als Rittberg seine Schwester sorgsam wieder zu ihrem Zimmer begleitete. Margareth hatte geweint, heftig, anhaltend und bitter geweint, aber ihre Tränen waren geflossen, als sie von eines Bruders Armen umschlungen an einem teilnehmenden Herzen geruht hatte.
»Bete zu Gott, dem starken und mächtigen Vater aller Wesen, um Gnade, meine teure Margareth,« flüsterte er beim Abschiede. »Er allein kann die Wirrnisse eines unseligen Augenblickes zum Guten wenden. Dein Unglück kann ich verhindern, allein das verscherzte Glück zurückrufen kann, darf und werde ich nicht! Wir wollen tragen, was das Schicksal für uns bereithält, und Dein frischer Jugendmut wird vielleicht die Wunde leichter heilen, als wir jetzt hoffen. Deine Wünsche, die Du jetzt in meine Brust niedergelegt hast, werde ich treulich erfüllen! Ruhe sanft aus von dem ersten schweren Lebenstage, der mit einem schwarzen Kreuze gezeichnet ist!«
Er küsste sie innig und ließ sie in großer Bewegung aus seiner brüderlichen Umarmung.