Читать книгу Dinotherium bavaricum vs. Predator - Lukas Wolfgang Börner - Страница 5
ОглавлениеMaria, gebenedeit seien die Früchte deines Leibes
Ich möchte diesen Cliffhanger nutzen, um dir kurz eine Übersicht über mich und mein Leben zu geben, hochgeschätzter Leser. Am wichtigsten für solche Zwecke ist der Name. Und mein Name ist Hugo Ramsauer. So heiße ich schon, so weit ich mich zurückerinnern kann. Ich besuche momentan – also nicht wirklich momentan, denn die Geschichte, die ich dir gerade erzähle, findet eigentlich in der Vergangenheit statt – momentan stehe ich nämlich im Badezimmer und warte sehnsüchtig auf die Ermattung meiner Morgenlatte, denn ich muss echt dringend bieseln, aber ich möchte, dass es für dich so wirkt, als ob wir uns in der Gegenwart befänden. Also nochmal: Ich besuche momentan die sechste Klasse des Ganghofer-Gymnasiums, das nach Ludwig Ganghofer benannt wurde – einem talentfreien Heimatkünstler, den niemand kennt und dem die Welt nichts und rein gar nichts zu verdanken hat.
Besuchen ist vielleicht nicht das richtige Wort, denn das würde ja voraussetzen, dass man freiwillig in die Schule ginge. Und das tut man natürlich nicht. Das wäre genauso, wie wenn ein Knasti sagen würde, er besuche das Gefängnis Stadelheim, zweite Etage, siebenunddreißigste Zelle, immer den Kakerlaken nach. Nein, nein, nein, ein Besuch ist und bleibt freiwillig.
Andererseits muss man ja auch seine Verwandten hin und wieder besuchen und das ist doch in den wenigsten Fällen freiwillig. Vor allem, wenn die Verwandten in einem fremdsprachigen Dritte-Welt-Land nahe der russischen Grenze wohnen. In Sachsen nämlich.
Aber genug zu mir und meinem Leben. Du kennst meinen Namen und meine Schulbildung, alles andere ist nicht von Bedeutung. Ob ich nun blond bin oder brünett, ob Rapper oder Metaller, ob schwarz oder weiß oder eigenartig curryfarben, ob trendig oder schimmelig, ob Mann oder Frau – das sind doch alles Oberflächlichkeiten. Bastle dir einfach den Hugo zurecht, den du am liebsten haben willst.
Nur bitte keinen Hugo mit rosa Dreadlocks, gescheckter Orangenhaut und behaarten Brüsten im Jutesack. Das würde dann doch ein falsches Licht auf mich werfen.
Apropos Brüste. Jetzt möchte ich dir von Maria erzählen.
Am Samstag – also dem Samstag, an dem sich Cleo einmal mehr danebenbenommen und mir Irg auf den Leib gehetzt hat – bin ich noch einige Zeit wütend und fassungslos in der Stadt herumgetigert. Ich hatte eigentlich nix zu tun und auch nur wenig Geld bei mir, aber ich ging trotzdem in jedes Geschäft und starrte die Kaufartikel an, die ich mir nicht leisten konnte. Und auch nicht mehr hätte kaufen können, selbst wenn ich genügend Geld bei mir gehabt hätte.
Ich spreche von Spielzeug. Die sechste Klasse, vor allem, wenn sie fast vorbei ist, ist eine Lebensphase, die man nicht mehr mit Spielsachen verbringen darf. Selbst wenn man das eigentlich noch möchte. So wie ich insgeheim.
Ich gehe durch die Regale, starre versonnen Lego- und Playmobilkartons an, während mein Blick immer wieder verstohlen nach eventuellen Beobachtern schielt, die „Haha, seht nur! Der Jugendliche da spielt noch mit Playmo-Tierchen!“ rufen könnten.
Und dann gibt es Läden, wo es Filme oder Zeitschriften gibt, die – wie sage ich es am besten? – explizit erotische Darstellungen bieten. Wenn ich mich durch solche Regale schleiche, muss ich nicht weniger auf der Hut sein als beim Spielzeug. Das ist für einen Sechstklässler ebenso verboten. Im Grunde ist mein ganzes Leben eine einzige Verfolgungsjagd geworden. Immer muss ich fürchten, entdeckt zu werden, immer fürchten, ausgelacht oder angemotzt zu werden. Immer stehe ich nur einen Fingerbreit von einem Fettnäpfchen entfernt.
Und gehe ich mal in einen Süßigkeitenladen, der einzige Laden, in dem man unbehelligt aufatmen kann, die einzige Ticke in diesem schrecklichen Versteckspiel, kommen irgendwelche arschgeborenen Mitschüler herein und meinen gehässig, dass es ja logisch wäre, dass man mich in einem Süßigkeitenladen antreffen würde, quasi an der Quelle – dabei bin ich gar nicht dick … ein bissel kräftig vielleicht. Ach was: Ein gestandnes Mannsbild bin ich, verdammt nochmal!
Ja, so trist ist das Leben eines Teenagers. An keinem Ort darf er sich aufhalten, überall lauert Gefahr, immer muss er auf der Hut sein. Einmal wöchentlich werde ich von Kaufhausdetektiven geschnappt, weil die immer denken, dass ich was gezwickt hätte. Aber das habe ich nicht. Einer sagte einmal, ich würde so auffällig unauffällig durch den Laden huschen, dass er seinen Hintern darauf verwettet hätte, ich wäre ein Dieb. Unterdessen kenne ich alle Kaufhausdetektive der Stadt. Vielleicht sollte ich wirklich mal was stehlen, jetzt wo ich weiß, auf welche Personen ich achten muss. Dann stehle ich einen motorisierten T-Rex und einen Erotikfilm. Und gleich noch ein paar gebrannte Erdnüsse dazu, zefix!
Apropos Erotik. Jetzt möchte ich dir von Maria erzählen.
Ich war also am Samstag unterwegs und stand gerade vor den Zeitschriften. Ich hatte mir in einem unbeobachteten Moment ein Herrenmagazin gegriffen und eine Micky-Maus-Zeitschrift darüber ausgebreitet, um ab und zu einen heimlichen Blick auf nackte Frauenhaut werfen zu können, während ich die witzigen Zwistigkeiten von Donald Duck und Zacharias Zorngiebel las. In dieser misstrauischen Seligkeit stand ich lange, während ich mich in Gedanken vom Detektivdasein verabschiedete. Ich stellte mir vor, dass man zuletzt sicherlich als unterbezahlter Kaufhausdetektiv enden würde, dessen ganze Bestimmung es ist, spielzeug- und busengeile Teenys zu filzen. Was für ein bejammernswertes Dasein!
Plötzlich stand Maria neben mir.
Ich blickte auf, sah sie, blickte wieder auf die beiden Zeitschriften, begriff endlich, was ich da gesehen hatte, blickte wieder auf, sah sie und wurde beinahe ohnmächtig.
Noch hatte sie mich nicht erkannt, gerade noch ließ sie den Blick zu mir herüberschweifen, es war noch exakt eine Sekunde, bevor sie mich erkennen würde. Noch exakt eine Sekunde, bevor sie mich und die beiden Zeitschriften in meinen schweißnassen Händen erkennen würde. In der einen Hand eine Heftseite mit einem aufreizenden weiblichen Geschöpf, das gerade oben ohne durch die Wüste Gobi spazierte unter der Headline Heiße Begegnungen, in der anderen Hand die aufgeschlagene Pupskissen-Seite der Micky Maus. Wie schnell kann der Mensch reagieren? Wie schnell kann er seinen Kopf aus der Schlinge ziehen, frage ich dich.
Sehr schnell, lieber Leser. Sehr schnell, wenn er so schlau und gewieft ist wie Hugo Ramsauer.
Ich ließ blitzartig meine Hände von den Zeitschriften, packte ein Magazin von oben und schlug es über den anderen auf. Gerade noch rechtzeitig.
„Oh, Hugo“, sagte Maria. Sie war nicht freundlich, nur überrascht. Unwillkürlich stieg mir der Duft ihres schwarzen Lockenhaars in die Nase. Es war ein Gemisch aus Rosenshampoo und Liebreiz. Ich roch nur nach Schweiß und Angst. „Ist das Casting schon gelaufen?“
„Das Casting?“, keuchte ich. Sie war immer noch wegen der Macho-Geschichte beleidigt. Das hätte selbst ein Blinder herausgehört. „Ach so, jaja, aber das wird nichts.“
„Wieso nicht?“
„Keine geeigneten Kandidaten.“
Ich musste mich zwingen, nicht nervös zu wirken und ihr fest in die Augen zu sehen. Augen, die nicht groß waren, aber doch herzerwärmend schön, vor allem, wenn sie lachte. Dann bildeten sich kleine, nach oben gewölbte Mondsicheln oder … womit könnte ich ihre lachenden Augen wohl poesiemäßig vergleichen? Mit Vanillekipferln?
Bitte, lach doch einmal, nur einmal, dachte ich und überlegte kurz, ob ich sie mit dem Pupskissen bespaßen könnte.
„Tja“, erwiderte Maria voller Genugtuung, „wenn ihr halt keine Mädchen haben wollt, dann wundert’s mich nicht.“
Ich wischte mir die Hände an meiner Hose ab, sie waren nass wie vollgesaugte Badeschwämme. Aber mein Geist, der nur von dem einen Wunsch, ihre lachenden Vanillekipferlaugen zu sehen, beherrscht wurde, war hellwach. „Der Cleo wollte keine Mädchen haben, ich hätte gerne eine weibliche Hand dabei gehabt.“
Das war eine Meisterleistung, Hugo. Jawohl, eine Meisterleistung. Sicherlich kann man stolzgeschwellter Brust zu seinen Fehlern stehen, aber man kann auch einfach klug sein und die Schuld auf jemand anderen abwälzen.
„Vielleicht könnten ja wir beide, also, ich meine, du und ich, ein eigenes Detektivbüro gründen …?“ Diese Frage stellte ich tatsächlich! Noch so eine Meisterleistung! Es heißt ja: Wer wagt, gewinnt.
„Nein“, erwiderte sie prompt und von meinem frisch entfachten Löwenmut war plötzlich nichts mehr da als feuchte Asche. „Habt ihr euch jetzt verstritten deswegen oder was?“
Ich überspielte meine Enttäuschung so gut es ging: „Ja, leider. Deshalb macht jetzt jeder von uns sein eigenes Detektivbüro auf. Er mit zwei so Schwachmaten und ich, tja, ich suche immer noch nach geeigneten Mitstreitern.“
„Ja, ich sehe schon, dass du gerade schwer am Suchen bist“, meinte Maria und endlich huschte ein schalkhaftes Lächeln über ihre Augen. Mit einem Kopfnicken deutete sie auf die Zeitschrift vor mir. Ich folgte ihrem Blick … und bekam einen Herzkasper. In der Eile hatte ich offenbar eine Doppelseite mit einer Liste von Liebeskontakten aufgeschlagen, die man bei Bedarf hätte anschreiben oder anrufen können. Darüber stand neben einem pinken Herzchen: Er sucht ihn.
„Hei, das habe ich gar nicht gesehen“, lispelte ich. Panik stieg in mir auf. Maria hob ungläubig die Augenbrauen.
„Ich wollte nur mal so schauen“, fuhr ich fort, klappte hastig die Zeitschrift zu und fand mich vor einem Titelbild mit zwei einander zärtlich umschlingenden Herren wieder, die mit Nichts als einer engen Lederhose bekleidet waren. Landburschen hieß das satanische Blatt.
Mein bester Leser, du kannst meine Beschämung und meine Pein sicherlich gut nachempfinden, auch wenn du gewiss noch nie in eine solche Situation geraten bist. Das will ich dir auch gar nicht wünschen. Wie dem auch sei, versuch dir jetzt aber mal Marias Reaktion auf die Landburschen vorzustellen. Du wirst sicherlich genauso verdutzt sein wie ich, wenn ich sie dir schildere.
Plötzlich kam sie mir mit ganz ernster Miene entgegen, ja, sie fasste mich sogar an. An der Schulter. Und dann strich sie mir noch über den Rücken, als hätte sie gerade vom Tod meiner Oma Inge erfahren.
„Hey, das ist völlig ok“, sagte sie, indem sie mir bis zu den Füßen in die Augen stierte – sekundenlang, minutenlang. Irgendwie sah das aus, als ob sie mich küssen wollte. Ich zwang mich dazu, ihrem Blick nicht auszuweichen, sondern sie fest im Auge zu behalten und das Folgende abzuwarten.
„Seit wann weißt du das schon?“, fragte sie irgendwann. Was für eine weibliche Blödsinnsfrage, dachte ich mir. Seit wann sollte ich schon wissen, dass ich mein eigenes Detektivbüro gründen wollte?
„Ja, seit vorhin halt“, gab ich zur Antwort und Maria sagte, dass sie sich das insgeheim schon länger gedacht hätte. Ich wäre mit Cleo immer so supereng gewesen und Sophie hätte das auch schon gesagt.
„Hm … da wart ihr wohl schlauer als ich“, erwiderte ich. Aber eigentlich wollte ich gar nicht reden, zumal man sich doch nicht eher verstreitet, nur weil man eine enge Freundschaft miteinander pflegt – das ist doch ein Krampf. Klar, dass die dumme Sophie das auch denkt. Nein, ich wollte nicht reden, ich wollte geküsst werden, wo sie mir schon mit so viel Zärtlichkeiten den Mund wässrig gemacht hatte.
Aber wahrscheinlich hätte ich sie küssen sollen oder was meinst du, lieber Leser?
Aber das traute ich mich nicht. Überdies wurde ich in dem Moment, da der Kuss fällig gewesen wäre, von einem käsegesichtigen Mann mit einem schwarzen Pflaster auf dem Auge angerempelt – was mich so verwirrte, dass ich gar nichts mehr tun und wagen konnte.
Aber es passierte etwas anderes sehr Schönes, das mir den beschädigten Samstag prompt reparierte. Ach, was sage ich reparierte? Das war ja der schönste Tag meines Lebens! Abgesehen vielleicht nur von ein paar Tagen, die ich letztes Jahr mit einem italienischen Mädchen verbracht hatte … aber die war busentechnisch gar nicht vergleichbar mit dieser schwarzgelockten Oberweitenfee.
Sie sagte nämlich, ohne ihren forschenden Blick nur für einen Wimpernschlag zu unterbrechen, geschweige denn meine Schulter loszulassen: „Vielleicht wäre ich ja doch kein so schlechtes Mitglied für dein Detektivbüro … ich habe bestimmt das Zeug zu einer guten Detektivin, wenn du mir noch ein paar Kniffe beibringst.“
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