Читать книгу Dinotherium bavaricum vs. Predator - Lukas Wolfgang Börner - Страница 8

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Das Grauen

Cleos Familie wohnt am Stadtrand in einer Doppelhaushälfte. Das heißt, eigentlich wohnen nur seine Mutter und er dort, denn der Vater ist ja nie daheim. Und Geschwister hat Cleo nicht.

Wenn man von mir zu ihm geht, kann man durch ein Gehölz abkürzen. Dabei muss man aber höllisch aufpassen, nicht in einen Hundehaufen zu treten, denn es gibt keinen Fleck in der stadtnahen Natur, der nicht von Hunden zugeschissen wird.

Manchmal frage ich mich ernsthaft, warum sich Menschen solche widerwärtigen Tiere anschaffen. Und wie viele hundert Diskussionen habe ich nicht schon mitanhören müssen, welches Tier nun besser sei – Katze oder Hund. Ich hab ja mit Katzen wenig am Hut, aber so eine Diskussion ist doch außerhalb der Geistesgrenze. Lass mich mal zusammenfassen: Hunde bellen ohrenbetäubend – Katzen schnurren.

Hunde sind hektisch – Katzen sind gemütlich.

Hunde sind unterwürfig – Katzen sind stolz.

Hunde scheißen alles zu – Katzen vergraben ihr Geschäft.

Diskussion beendet.

Ich finde außerdem, dass Katzen schön und Hunde hässlich sind. Das liegt aber vor allem daran, dass die Hunde allesamt überzüchtet sind. Die Wildform, also den Wolf, finde auch ich schön.

Apropos: Hab ich dir eigentlich schon erzählt, dass es seit Neuestem Wölfe in unserem Landkreis gibt? Die geraten immer wieder in Fotofallen. Und die Schwägerin der Bäckereiaushilfe hat auch schon einen gesehen.

Wenn solche Nachrichten kursieren, lese sogar ich ab und zu mal Zeitung. Da gibt es dann immer Wolffreunde und Wolffeinde, die miteinander streiten. Die Wolffreunde werden angeführt von einem Bioförster aus dem Nachbarort, der Winfried Brandstetter heißt, und die Wolffeinde von dem stadtbekannten Schäfer Ernst Raffinger. Da sagt dann der Brandstetter, dass der Wolf in unser Ökosystem gehört, und der Raffinger sagt, dass der Wolf gefährlich ist. Darauf wirft ihm der Brandstetter vor, nur auf seine Schafe und seinen Gewinn zu schielen, und der Raffinger wirft ihm vor, nur auf das alberne Ökosystem zu schielen.

Unterdessen hängen überall in der Stadt Plakate, auf denen Sätze stehen wie „Wolves welcome!“, „Brandstetter = Brandstifter“ oder „Nur nicht mit den grünen Wölfen heulen!“. Dabei sind die ja gar nicht grün.

Ich möchte dich jetzt gar nicht beeinflussen, lieber Leser, oder dich auf irgendeine Seite ziehen. Jeder hat ja seine eigene Meinung zu dieser Thematik und die gilt es zu respektieren. Darum möchte ich neutral bleiben und völlig objektiv darlegen, dass ich Wolffeinde für gewaltige Kackbratzen halte.

Ich bin ein Wolffreund. Die Natur ist nun einmal gefährlich und man kann das Ökosystem nicht bewahren, indem man alles, was einem nicht passt, vom Erdboden tilgt. Wenn es nach mir ginge, müssten alle Tiere, die hier ursprünglich beheimatet waren, wieder angesiedelt werden. Also auch Hyänen und Nashörner und Löwen. Und auf jeden Fall Mammuts, sobald sie erfolgreich geklont worden sind. Wie lange dauert das eigentlich noch?!

Ich und Maria staksten durch das Gehölz, wobei wir angsterfüllt das Gras vor unseren Füßen scannten. Es gibt einfach nix Ätzenderes, als in einen Hundehaufen zu steigen. Dann erreichten wir einen rostigen Zaun. Die alten Römer hatten vergessen, den wieder einzupacken, als sie mit den Elefanten über die Alpen geflohen sind. Er war schon so verbeult und spröde, dass man ihn vermutlich mit der Hand hätte auseinanderreißen können. Aber das war gar nicht nötig, denn man konnte auch bequem drübersteigen.

Hinterm Zaun gibt es keine Hundehaufen mehr. Da liegen nur zersplitterte Ziegelsteine auf dem moosigen Kies und ein paar Birken stehen beisammen wie bestellt und nicht abgeholt. Hier kann man Eidechsen fangen, wenn man das will. Oder gespannt beobachten, wie sie den geflügelten Ameisen die Hochzeit versauen.

„Wo lang?“, fragte Maria.

„Dort lang“, antwortete ich und deutete auf einen Pfad, der sich im Laufe von Cleos und meiner Freundschaft auf dem Boden gebildet hatte. Irgendwann würde dieser Pfad gewiss zu einer tiefen Schneise werden, so oft, wie wir einander besuchten. Und wenn dereinst, dachte ich nun und schniefte ein wenig, kein Pfad mehr zu sehen sein sollte, dann würde es auch nichts mehr geben, was Cleo und mich verband …

Maria ging vor mir und ich konnte mir nicht verkneifen, über ihre Schulter hinweg auf ihre schaukelnde Oberweite zu starren wie ein ausgestopfter Mantelpavian. Ist das normal, dass man derart fasziniert von Brüsten ist? Sicherlich … bestimmt. Aber ist es auch normal, dass man an gar nichts anderes mehr denken kann? Dass man tags daran denkt und nachts davon träumt? Reiß dich zusammen, Hugo!

Es gibt Buben, die Mädchen als Kumpels haben. Die hängen dann miteinander rum und sagen Sachen wie: „Hey Keule!“ Und der andere erwidert: „Hey Kruste!“ Und dann knuffen sie sich, rotzen auf den Boden und benehmen sich, wie sich Kumpels halt benehmen. Lässig und verhältnismäßig keusch.

Ich muss da immer an diese furchtbaren Tier-Kinderfilme denken, wo der liebe Pflanzenfresser dem bösen Fleischfresser das Leben rettet und darum verzichtet der fortan auf seinen Fleischkonsum und wird sein bester Freund. Und man fragt sich als Zuschauer beklommen, wie es zum Beispiel ein Säbelzahntiger aushält, ununterbrochen mit einem Mammut, was seinem Beuteschema entspricht, und einem Faultier, was ebenfalls seinem Beuteschema entspricht, rumzuhängen und sich mit denen auf einer Augenhöhe zu unterhalten. Man fragt sich, wie er es schafft, nicht in plötzlicher Raserei über die Pflanzenfresser herzufallen.

Jetzt, in ebendiesem Moment, als ich Maria betrachtete, wurde mir klar, dass ich niemals eine kumpelhafte Beziehung zu einem Mädchen würde führen können. Ich würde ja wie ein Säbelzahntiger irgendwann die Beherrschung verlieren und sie anschreien: „Hölle noch eins! Das ist Folter!!“

Und dann komm ich in die Geschlossene.

„Schau mal, Hugo, der Backstein da“, kicherte Maria und deutete auf das Meisterversteck. „Wie übertrieben unauffällig er dort liegt. Niedlich, mit den Zweigen drüber!“

Prompt schob sie die Zweige beiseite und hob den Stein an. Ein vergilbtes Heft mit nackerten Weibern lag darunter. „Ha! Hab ich’s nicht gesagt?“, jauchzte sie. Dann argwöhnisch: „Hier sind sicherlich irgendwelche Perverslinge unterwegs.“

„Das ist ja unter aller Sau“, formulierte ich. Maria war in die Hocke gegangen. Mit plötzlicher Neugier musterte sie mich.

„Gefällt dir so was gar nicht?“, fragte sie und deutete auf die sicherlich fröstelnde Cover-Blondine.

„Nein,“ sagte ich, „so was finde ich echt … niveaulos.“

Maria ließ den Backstein wieder auf das Heft fallen und ich hätte beinahe gerufen, sie solle gefälligst vorsichtiger mit unseren Habseligkeiten umgehen. Doch ich schluckte meinen Zorn hinunter und rülpste stattdessen.

„Wä!“, machte Maria, „Jungs sind scheiße!“

„Dann bist du wohl ein Mädchen!“, konterte ich.

„Ja, schon“, sagte Maria.

„Aha!“, sagte ich.

„Das macht keinen Sinn“, sagte Maria.

„Und du bist doof“, sagte ich.

Dann redeten wir nichts mehr, sondern trabten wütend hintereinander her. Das Schaukeln ihrer Oberweite fiel mir jetzt gar nicht mehr auf. Ich bemerkte nur, wie sie ruckartig den seitlichen Fichten- und Birkenästen auswich, als ob sich bei jeder Berührung ganze Armeen von Zecken auf sie stürzen könnten. Mein Gott, die Weiber, dachte ich.

Wir kamen an der Schlucht vorbei. Das ist eine anderthalb Meter tiefe von dichtem Gras bewachsene Bodenmulde – noch nie sind ich und Cleo diesen Weg gegangen, ohne dass wir versucht hätten, uns gegenseitig da runterzuschupfen.

Dann kamen wir am Kletterbaum vorbei. Der ist mausetot und das Klettern darauf ist lebensgefährlich. Und wir kamen am Kolosseum vorbei, einer Art Parterre-Baumhaus, das aus einem Buchenast, drei Brettern und zwei Millionen Nägeln besteht. Da hat mir Cleo einmal mit Tränen in den Augen gestanden, dass er kein Vegetarier bleiben könnte. Er hätte Mangelerscheinungen, Magenbeschwerden und blaue Fingernägel, weil er sich so nach Lyoner sehne.

„Du hast erst gestern Lyoner im Wurstsalat gegessen!“, hatte ich erwidert. „Drei Schüsseln voll!“

„Da siehst du mal, wie dringend ich sie brauche“, beteuerte Cleo.

Ich habe von dem Vegetariertum, offen gestanden, noch nie etwas gehalten. Wer sich in der Evolution auskennt, weiß, dass sich die Affen erst zu Menschen entwickeln konnten, als sie anfingen, Fleisch zu essen. Erst ab diesem Zeitpunkt konnte das Gehirn nämlich wachsen. Kein Fleisch zu essen, führt also unweigerlich dazu, sich früher oder später zum Affenhirn zurückzuentwickeln.

Wir hatten ein paar Bucheckern verbrannt und uns geschworen, über einen Ausweg aus dem Tierliebe-Fleischliebe-Dilemma nachzudenken. „Vielleicht“, grübelte Cleo, „könnte man den Tieren chirurgisch die Beine amputieren …“

Ich hustete Bucheckerqualm. „Wie meinen?“

„Es werden ja häufig Beine amputiert. Aber weil das unter Narkose geschieht, sind die Patienten nicht unglücklich dabei. Stell dir mal vor, man würde Schweinen und Kühen unter Narkose die Haxen abnehmen und durch Holzbeine ersetzen. Da hätten sie gar keine Schmerzen und man könnte guten Gewissens Fleisch essen.“

Ich lupfte die Augenbrauen.

„So machen es ja auch die Imker. Die nehmen den Bienen den Honig weg und geben ihnen Zuckerwasser dafür. Und ihr restliches Leben können die Tiere ja wie davor verbringen. Fressen, Kinder kriegen, Milch geben und so weiter. Aber halt auf Holzbeinen.“

Ich erwiderte: „Aber nur solange, bis der Biber vorbeikommt – der Schaden wäre größer als alles, was ein Wolf je anrichten könnte.“

Cleo überlegte: „Hm … wenn die Beine doch nachwachsen würden …“

Ich sagte: „Schwanzlurche“ – bei diesem Wort wäre ich von jedem anderen Klassenkameraden ausgelacht worden, aber Cleo kannte mich so gut und sein Lachen war ohnehin nicht berechenbar – „Schwanzlurche können ihre Beine nachwachsen lassen. Man müsste deren DNS mit der von Schweinen vermischen.“

Apropos Schwanzlurch-Schweinereien: Als wir den Querzahnmolch wiederfanden, hatten wir schon fast Cleos Haus erreicht. Wieder standen wir vor einem Zaun, weniger verrostet, aber dafür oben mit Stacheldraht umwickelt.

„Und was jetzt?“, fragte Maria, unfähig, nicht mit jedem ihrer Worte an die vorige Auseinandersetzung zu erinnern.

Ich wies mit dem Finger den Zaun entlang. „Da vorne kann man drunter durchkriechen.“

Wir trabten neben dem Zaun her. Dann sahen wir ihn. Und wir sahen ihn gleichzeitig. Maria kreischte, ich erschrak derart heftig, dass mir ein unmännliches Quieken entkam, was sie in ihrem Schock glücklicherweise nicht bemerkte. Dann presste sie sich an mich und alles Mädchen-G’schiss löste sich in Luft auf.

Der Querzahnmolch steckte auf dem Stacheldraht – ein Stachel ragte ihm direkt durch die Brust. Die Augen hatte das arme Tier zugepresst, als würde es auch jetzt noch entsetzliche Todesqualen leiden. Aber er war schon tot. Sein gesprenkelter Schwanz hing schlaff vom Zaun und seine Haut war trocken wie Löschpapier.

„Das ist er“, wimmerte Maria.

„Entsetzlich!“, erwiderte ich. Meine Hände zitterten, mein Kopf war fieberheiß. Das war das Grausamste, was ich je gesehen hatte. Ich musste mich abwenden, es hob mich und ich schmeckte bittere Magensäure.

„Das war er, Hugo“, sagte Maria.

Ich konnte gar nichts sagen. Ich torkelte nur davon. Weg von hier, weit weg von hier.

„Hugo, das war er!“, rief Maria. Sie fasste mich an den Schultern und zwang mich, ihr ins Gesicht zu sehen. Einige Tränen hatten sich unter ihrer Nasenspitze zu einem dicken Tropfen versammelt. Dann fiel er und landete auf meinem T-Shirt. „Das war Cleo!“

Ich blickte – gewiss käsebleich – in ihr verquollenes Gesicht. Die Sonne schien ungetrübt auf uns herab und ich verabscheute sie. Es war so pietätlos. In meine Seele war nämlich die tiefste, schwärzeste Finsternis gefahren.

„Das war Cleo!“, wiederholte Maria.

„Ja“, sagte ich irgendwann. Es war aber kein Laut zu hören.

*

Dinotherium bavaricum vs. Predator

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