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Lange vor unserer Zeit

Nui lag auf dem Rücken.

Die Hände unter dem Kopf, stierte er auf das flackernde Licht an der Höhlendecke.

Er hatte Feuer wache.

Die Sicherheit der Sippe hing von ihm ab, von dem Feuer zwischen ihm und dem Höhleneingang.

Es durfte nicht verlöschen.

Draußen war der Tiger.

Anu, ihr Anführer, war tot.

Am Morgen hatten sie ihn gefunden, unten am Fluss, das, was von ihm übrig war.

Daneben waren die Spuren, größer als alle, die sie je gesehen hatten.

Sie hatten sie verfolgt, die ganze Sippe sichernd nach allen Seiten.

In der Nähe ihrer Heimathöhle verloren sie sich.

Der Tiger war da draußen.

Nui drehte seinen Kopf zur Seite, sah in die Glut.

Noch eine kleine Weile, dann würde er ein paar dicke Äste nachlegen müssen.

Ein Windstoß von draußen war f zuckend rote Schatten auf die Felswände.

Da waren sie, die Wesen aus der Unterwelt.

Er glaubte, Anki zu erkennen, seinen Vater.

Aber mit dem nächsten Windhauch war er verschwunden.

Nui drehte seinen Kopf zurück und stierte wieder zur Decke in das flackernde Dunkel.

Je länger er versuchte, es zu durchdringen, desto deutlicher und klarer sah er Aaron, den Großen Bären, den Schöpfer der Welt.

Wir wissen heute natürlich etwas, was Nui nicht wissen konnte.

Nicht der Große Bär erschuf die Welt, sondern Gott.

Und zwar in sieben Tagen (in sechs Tagen, am siebten Tag ruhte ER).

Sein Meisterstück war Adam.

Glaubte er zumindest.

Und er glaubte auch zu wissen, was für Adam gut und richtig war.

Deshalb setzte er ihn ins Paradies.

Das Problem allerdings besteht darin, dass diejenigen, die hineingesteckt werden, das Paradies anders empfinden.

Genau so erging es Adam.

Es war langweilig, und er kam sich überflüssig vor.

Gott ließ sich erweichen und schuf Eva aus Adams Rippe.

Jedem halbwegs vernünftigen Gentechniker wird sich hier allerdings die Frage stellen, warum Eva nicht das Spiegelbild von Adam ist.

Gott sei Dank weiß Gott mehr über Gentechnik als unsere heutigen Wissenschaftler.

Nachdem wir nun wissen, wie die Welt entstanden ist, erkennen wir, dass der Mensch versucht, sich selbst und seine Welt um sich herum zu erklären.

Er tut dies in Modellen.

Für Nui und sein Volk war völlig klar, dass der Große Bär die Welt erschaffen hatte.

Das konnten sie jeden Tag sehen.

Denn es gab Pflanzen und Tiere, und die Sonne ging unter und wieder auf, so, wie es der Große Bär gemacht hatte.

Und wenn sie nicht beständig Aaron dankten und ihm Opfer brachten, sandte er den Tiger oder schleuderte den Blitz.

Für uns, die wir lesen können, ist klar, dass dies natürlich völliger Blödsinn ist.

Denn es steht geschrieben, in der Heiligen Schrift, dass Gott die Welt erschuf.

Wir alle zusammen stammen ab von Adam und Eva.

Und es ist ihre Schuld, dass wir nicht mehr im Paradies leben.

Wir wissen das und glauben das, vielleicht bis auf ein paar eingefleischte Gentechniker oder andere Unverbesserliche.

Lassen Sie uns noch einmal zurückkehren in die Höhle mit dem Feuer am Eingang.

Nui hatte inzwischen ein paar trockene Äste nachgelegt.

Der gelbrote Widerschein auf den zackigen Wänden generierte Sicherheit.

Nui legte sich zurück auf sein Bett aus dünnen Fichtenzweigen.

Er sog den harzigen Duft ein und vergaß für eine Weile seine Aufgabe.

Sich dessen bewusst werdend, tastete er erschrocken nach seinem Messer.

Aaron sei Dank, es lag griffbereit neben ihm.

Er hatte es „Messer“ getauft, weil Messer „länger“ bedeutete, und es war tatsächlich deutlich länger, dreimal ungefähr wie die Klingen der üblichen Faustkeile.

Er hatte lange darüber nachgedacht, bevor er sich den Feuerstein suchte, den er dann mühsam schärfte.

Den hinteren Teil des langen, schmalen Dreiecks hatte er mit vier Lagen dünner Lederstreifen umwickelt.

So lag es gut in der Hand und tötete beim ersten Stich.

Nicht wie die normalen Faustkeile der Sippe, wo man fünf- oder sechsmal zuschlagen musste.

Er griff nach dem Messer.

Es gab Sicherheit.

Das Gebrüll des Tigers von Sonnenaufgang her, durch den Spalt des Höhleneinganges, holte ihn zurück, zurück in eine gefährliche Wirklichkeit.

Sein Messer war besser als alle anderen Waffen, die sie besaßen.

Es war besser als alle Faustkeile, alle Fallgruben und langen Schlagstöcke nebst den ledernen Fangseilen.

Ein Tiger – sein Messer könnte ihn töten mit zwei, drei Stichen.

Aber seine Arme waren zu kurz.

In die Reichweite der Pranken des Tieres zu kommen war absolut tödlich. Ein, zwei Hiebe, das war’s.

Er brauchte längere Arme.

Vielleicht half es, wenn er jeden Tag an einem Ast hing und die Sippe ihn nach unten zog.

Er dachte an Aaron, betete zu ihm der längeren Arme wegen.

Und Aaron erschien, hob ihn hoch.

Nui umfasste einen quer wachsenden starken Ast und umklammerte ihn, während der Bär an ihm zog.

Seine Arme wurden länger und länger, wie Schlagstöcke, an deren Ende seine Hand das Messer hielt.

Funkensprühend knackte der Kiefernast im Feuer.

Nui schreckte hoch aus seinem Sekundenschlaf, beschämt wegen der Pflichtverletzung.

Sein Blick schweifte durch das rot flackernde Dämmerlicht.

Alles war friedlich.

Die Sippe schlief, einige schnarchten.

Koa erzählte leise im Schlaf, wie so oft.

Nuis Blick blieb in der Ecke hängen.

Dort standen die Schlagstöcke, mannshoch und armstark.

Armstark waren sie und lang.

Er sah seine Hand an deren Spitze.

Die Hand hielt sein Messer.

Leise schlich er hinüber und suchte sich den besten aus.

Es machte erhebliche Mühe, mit dem Feuersteinmesser die Kerbe in das Stockende zu raspeln.

Aber am Morgen war es geschafft.

Als die ersten Sonnenstrahlen in die Höhle drangen, hielt er ihnen seinen „Speer“ entgegen, was „langer Arm“ bedeutete.

Sein Messer steckte in der Spitze des mannshohen, armdicken Stockes. Die Lederbänder des ehemaligen Griffes hielten es im Holzspalt sorgsam fest.

Er trat aus der Höhle und freute sich darauf, dem Tiger zu begegnen.

Ich kann Ihnen beim besten Willen nicht sagen, ob Nui es geschafft hat, seine Sippe von dem Tiger zu befreien, und ob er den Kampf überlebte. Eines aber hat auf jeden Fall überlebt: seine Erfindung und die beiden Prinzipien seines Menschseins.

Wie wir an Nui gesehen haben, zeichnen wir Menschen uns durch zwei wesentliche Eigenschaften vor allen anderen Lebewesen aus.

Wir versuchen, seit unser Bewusstsein zündete, unsere Welt und die Vorgänge darin zu erklären.

Wir tun dies in Modellen.

Ob diese richtig oder falsch sind, zeigt sich daran, ob sie alle neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse widerspruchsfrei erklären können.

Diese Vorgehensweise nennt man „modellhaften Realismus“.

Die jeweiligen Modelle entsprechen immer dem Zeitgeist und dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand der entsprechenden Epoche.

Zweitens sind wir ständig dabei, unsere Welt nach unseren Vorstellungen zu verändern.

Dabei ist es egal, ob wir gerade einen Feuersteinspeer planen oder die Software für ein komplexes Medizinprojekt schreiben.

Beiden Aktivitäten ist gemeinsam, dass es unsere Gedanken sind, die die neue materielle Wirklichkeit vorabbilden und damit letztendlich schaffen.

Die Veränderung in unserer Raumzeit erfolgt erst, nachdem wir den Bauplan dazu in unserem Bewusstsein erarbeitet haben.

Aber am Anfang waren es die intuitiven Lösungen, zufällig und vom Augenblick abhängig.

Es sollte noch sehr, sehr lange dauern nach der Erfindung des Feuersteinspeeres durch Nui.

Es mussten noch viele Tausende von Jahren vergehen, und nicht weniger Generationen mussten kollektives Wissen anhäufen, bevor die Menschheit beginnen konnte, sich das mächtigste Instrument zu schaffen, zu dem sie fähig ist. Ein Instrument, mit dem wir die Welt nach unseren Wünschen verändern können – die wissenschaftliche Forschung.

Leben wir in einer Illusion?

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