Читать книгу Leben wir in einer Illusion? - Lutz Gaudig - Страница 15
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„Wollt Ihr, Galileo Galilei, widerrufen und abschwören, dann tut es jetzt.“
Die Stimme des Großinquisitors war schneidend.
Der Widerhall in der nur spärlich beleuchteten Halle war kurz wie der Knall einer Peitsche.
Er war als freier Mann gekommen – zu seinem Prozess.
Heute war der 22. Juni 1633.
Er hatte gehofft, dass die Verhandlung nebenan in „Santa Maria sopra Minerva“ stattfinden würde.
Er war schon dort gewesen, nicht nur einmal.
Sie war für ihn seit jeher die Kirche in der Heiligen Stadt, die einlud, Geist und Gefühlen freien Raum zu lassen.
Nach dem Passieren der wenig einladenden, schmucklosen Fassade war man versetzt in eine andere Welt, in ein Gotteshaus aus Farbe und Licht. Der helle Marmor des Fußbodens und der Säulen reflektierte die Sonnenstrahlen zur hellblauen Decke mit ihren goldenen Fresken und Malereien.
Wer hier eint rat, fühlte: Der Himmel selbst offenbarte sich.
Der Weg führte vorbei an der Jesusstatue von Michelangelo.
Jedes Mal war er stehen geblieben.
Jesus hielt das Kreuz fest in beiden Händen, schaute zur Seite, zum Besucher, zu ihm.
Seine Blicke schienen mitzuwandern.
Galileo fühlte jedes Mal, Jesus spräche zu ihm:
»Hier, übernimm es, nimm mein Kreuz.
Mach weiter auf deinem Weg.“
Aber er war nie hier gewesen wegen der farbigen Lichtspiele.
Er war auch nicht hier gewesen wegen der zahlreichen Statuen von Michelangelo.
Galileo war hier gewesen wegen eines einzigen Fensters.
Er blickte hinauf zu dem lichtdurchfluteten Rund.
Bei den bildgebenden Farben dominierten blaue und goldbraune Töne.
Der Hintergr und war strahlendes Weiß.
Er hatte das Fensterbild wieder und wieder betrachtet.
Es schien eine geheime Botschaft zu beinhalten – aus den Anfängen der Kathedrale.
Im Mittelpunkt der zwölf blättrigen Rosette strahlte die Sonne.
Davon strebten zwölf Blätter symmetrisch ab, wie bei einer Blume auf einer wunderschön gestickten Tischdecke.
Die Enden der zwölf Rosettenblätter zierten abwechselnd ein betender Engel und ein Sonnensymbol, auf das der Engel blickte.
Wieder und wieder hatte er hinaufgeschaut.
Es war eine Botschaft.
Eine Botschaft an ihn?
Die Sonne steht im Mittelpunkt, und viele andere Sonnen sind da draußen.
Und die Engel Gottes bewachen sie.
Galileo hätte sich gewünscht, dass sein Prozess in der lieblichen, lichtdurchfluteten Kathedrale unweit des Pantheons stattfindet.
Stattdessen stand er jetzt nebenan im angeschlossenen Kloster des Benediktinerordens.
Die Halle war düster, spärlich von Fackeln erleuchtet.
An den Seiten reihte sich dunkles Kirchengestühl.
Ein steinernes Kruzifix thronte über dem Fresko eines griechischen Tempels an der Stirnwand.
Davor waren vier Tische aufgebaut.
Ein rotes Samttuchverhüllte sie.
Dahinter saßen der Großinquisitor und einige wichtige Beamte der Inquisition.
An der Seite hatten die für die Verurteilung zuständigen zehn Kardinäle Platz genommen.
Unter ihnen war Francesco Barberini, der Neffe des Papstes.
Er setzte riesige Hoffnungen in ihn.
„Wollt Ihr endlich widerrufen Galilei?
Dann tut es jetzt!“
Die einschneidende Stimme des Großinquisitors riss ihn aus seinen Gedanken.
Er roch den Ruß der Fackeln.
Die Dunkelheit des Raumes drückte auf seine Schultern.
Er hielt sich an dem kleinen Tisch fest, hinter dem er stand.
Vor ihm lag sein Buch „Dialogo“.
Die beiden Soldaten link s neben ihm nervten.
Sie standen auf ihre Hellebarden gestützt.
Die Fackeln zuckten im Widerschein über ihre silbernen Helme.
„Ja, Monsignore, gleich, sofort!
Ich bitte Euch, geduldet Euch noch einen kleinen Augenblick.
Ich war und bin gerade im Gespräch mit Gott.“
Alles hatte angefangen mit Nikolaus Kopernikus und seinen verdammten Schriften.
In „De revolutionibus orbium coelestium“ („Über die Umschwünge der himmlischen Kreise“) beschrieb er das heliozentrische Weltbild des Sonnensystems.
Es waren die grundsätzlichen Ideen des antiken Astronomen Arist archos von Samos in neuen Berechnungen.
Kopernikus versetzte damit die wissenschaftliche Welt in helle Aufregung: nach 1700 Jahren.
Er beschrieb die Planetenbahnen als Überlagerungen von gleichförmigen Kreisbewegungen.
Das Zentrum befand sich in der Nähe der Sonne.
Gewollt oder ungewollt hatte er damit das vorherrschende Weltbild infrage gestellt, das geozentrische Weltbild des Ptolemäus.
Und nicht nur das!
Galilei lächelte still in sich hinein. „Schlauer Fuchs“, dachte er.
Die Veröffentlichung seiner Schriften hatte Kopernikus erst kurz vor seinem Tod im Jahr 1543 vorgenommen, bei Johannes Petreius in Nürnberg.
Sie wurden bis dato nicht verboten, „De revolutionibus orbium co elestium“ wurde lediglich „suspendiert“.
(Anmerkung des Autors: Sie durfte fortan, im Einflussbereich der Römischen Inquisition, bis 1822 nur noch in Bearbeitungen mit einem eindeutigen Zusatz erscheinen.
Es musste klar herausgearbeitet werden: Das heliozentrische System ist ein bloßes mathematisches Modell, das zur Diskussion freigegeben ist.)
„Galileo Galilei! Ich fordere Euch nicht noch öfter auf: Widerruft Ihr?“
Die Stimme war gewohnt zu befehlen.
Er sah hinüber zu Kardinal Francesco Barberini, dem Neffen des Papstes, seinem Bewunderer und Gönner.
Er, Galileo, hatte sich in seinen Schriften der Meinung von Kopernikus angeschlossen, dass die Planeten auf Kreisbahnen die Sonne umlaufen.
Die anschließende langjährige Korrespondenz mit Johannes Kepler hatte ihn nicht dazu bewegen können, dessen Meinung zu akzeptieren.
Kepler behauptete, dass die Planeten auf Ellipsen um die Sonne kreisen.
Natürlich hatte er begriffen, dass die Planetenbewegungen mit Keplers Modell äußerst exakt berechnet werden konnten.
Er nahm in Kauf, dass die extremste Bewegung, die Bahn des Merkur im Kopernikanischen Modell deutlich schlechter berechnet war.
Seine eigenen Beobachtungen gaben Kepler sogar recht.
Aber was hätte er machen sollen?
Keplers Ideen einfach nur wiederholen?
Über die wichtigste Frage aber, ob sich die Erde um die Sonne dreht oder die Sonne um die Erde – da war er sich mit Kepler einig.
1616 waren nicht theologische Schriften über kopernikanische Astronomie, darunter auch ein Werk von Johannes Kepler, auf den Index (Librorum Prohibitorum) gesetzt worden, also verboten.
Auch seine eigenen Schriften wurden von der katholischen Kirche argwöhnisch begleitet.
Im Mai 1630 war er deshalb nach Rom gereist.
Er trug Papst Urban VIII. seine Meinung zu den Systemen des Ptolemäus und des Kopernikus vor.
Er hatte über zeugend argumentiert, und der Papst hatte gönnerhaft entschieden.
Er erhielt eine „Imprimatur“, eine vorläufige Druckerlaubnis, von dem für die Zensur verantwortlichen Inquisitor Niccolò Riccardi.
Sein „Dialogo“ setzte astronomisch und weltanschaulich-theologisch neue Akzente.
Er schaute auf das Buch vor sich.
Aus seinen Augenwinkeln sah er jede Bewegung im Gesicht des Großinquisitors.
Galileo erinnerte sich, Gedankenfetzen rasten durch sein Gehirn.
Erstmalig hatte er an die Stelle von Latein sein Italienisch gesetzt.
Seine Erkenntnisse sollten über die Kreise der Wissenschaft hinausget ragen werden.
Er lächelte in sich hinein.
Ja, es hatte funktioniert.
Alle Welt sprach über „seine Planetenbahnen“ und die von ihm entdeckten Jupiter monde.
Die Begüterten kauften seine Fernrohre, um sie zu sehen und die von ihm beschriebenen „Mondphasen“ der Venus.
Aber jetzt schien er über seine eigene Eitelkeit zu stolpern, über die Selbstüberschätzung seiner eigenen Machtposition.
Der Inquisitor Niccolò Riccardi hatte ihm zu seiner Imprimatur eine Zensurauflage mitgegeben.
Er sollte seinen „Dialogo“ mit einer Schlussrede zugunsten des „Ptolemäischen Weltbildes“ beschließen.
Wenn er jetzt daran dachte, musste er sich zügeln, nicht laut aufzulachen.
Ein Schmunzeln sollte genügen.
Er war der Zensurauflage nachgekommen.
Aber er hatte die Rede hier zu in den Mund des allseits bekannten und offensichtlichen Dummkopfes Simplicio gelegt.
Er sah hinüber zu Kardinal Barberini.
Als sich ihre Blicke trafen, wandte dieser sich demonstrativ ab.
Bleierne Schwere floss Galilei durch die Glieder.
Er wusste: Es war vorbei.
Wie einfach es doch Kepler im Jahr 1609 gehabt hatte, als er in „Astronomia nova“ bei Gotthard Vögelin in Frankfurt am Mains ein erstes und zweites „Kepler’sches Gesetz“ veröffentlichte.
Am 15. Mai 1618 hatte er das dritte entdeckt, welches Kepler im Jahr 1619 in „Harmonices mundi libri V“ („Fünf Bücher zur Har monik der Welt“) veröffentlichte.
Kepler war tot.
Friedlich gestorben vor drei Jahren in seinem Bett, unbehelligt von der römischen Inquisition.
Er lebte eben in einer anderen Welt, fortschrittlicher als in Italien.
Sie hatten miteinander nicht nur über Astronomie korrespondiert.
Was wäre alles anders gewesen!
Alles wäre anders gewesen, hätte Martin Luther seine Thesen nicht in Wittenberg, sondern in Rom angeschlagen.
Alles wäre anders gewesen, wäre es das Tor der „Santa Maria sopra Minerva“ gewesen.
Er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken.
Flammen brannten ihn weg.
Er hörte die Schreie.
Sie hatten ihn auf dem Scheiterhaufen verbrannt, Giordano Bruno, am 17. Februar 1600 in Rom auf dem Campo de‘ Fiori.
„Maiori forsan cum timore sententiam in me fertis quam ego accipiam.“ („Mit größerer Furcht verkündet Ihr vielleicht das Urteil gegen mich, als ich es entgegennehme.“)
Giordano Bruno war für seine Überzeugung in den Tod gegangen.
An der Behauptung, dass viele Welten im All ex istieren, hielt er bis auf den Scheiterhaufen fest.
Wem hatte es genutzt?
Sie würden auch bei ihm nicht wanken.
Er sah hinüber zu Barberini.
„Ich werde widerrufen, Monsignore!“
Das Urteil nahm er kommentarlos hin.
Als er flankiert von den beiden Soldaten das Benedektinerkloster verließ, murmelte er mehr als deutlich:
„Eppur si muove“ – und sie bewegt sich doch.
Ob Galilei diesen berühmten Satz tatsächlich gesprochen hat, ist historisch nicht belegt.
Es ist eher unwahrscheinlich.
Die Behauptung und die Kunde hiervon wurden jedoch schon zu seinen Lebzeiten verbreitet.
Es war wie ein kleines Wunder.
Obwohl andere, Kopernikus und Kepler, das heliozentrische Weltbild wiederentdeckt hatten, war es Galilei, der wesentlich zu seinem Siegeszug beitrug.
Nach ihm etablierte sich das Kepler’sche System zum alles Beherrschenden. Schon bald sollte Isaac Newton dafür die physikalisch wissenschaftliche Grundlage schaffen.
„De revolutionibus orbium coelestium“, und darin beschrieben das Kopernikanische Weltbild, dass sich die Erde und mit ihr die Planeten um die Sonne drehen, wurde erst 1822 durch die katholische Kirche rehabilitiert und anerkannt.
Im Jahr 2000 erklärte Papst Johannes Paul II. die Hinrichtung Giordano Brunos für Unrecht.
Ironie des Schicksals: Aus heutiger wissenschaftlicher Sicht hätten die Scheiterhaufen nicht brennen müssen, und der Hausarrest für Galileo Galilei war völlig grundlos.
Beide Systeme, das Ptolemäische und das Kepler’sche Weltbild haben gleichermaßen wissenschaftlichen Bestand.
Wie wir in den nächsten Kapiteln sehen werden, sind alle Bezugssysteme in unserer Raumzeit gleichwertig.
Es ist mathematisch machbar, die Erde als Mittelpunkt unserer Raumzeit darzustellen.
Genauso lässt sich zeigen, dass sich die Erde und die Planeten um die Sonne drehen, wobei die Sonne das Zentrum der Raumzeit ist.
Beide Systeme sind gleichwertig mit jedem beliebigen Inertialsystem, das einen anderen Fixstern oder Planeten als Zentrum unseres Weltalls darstellt. Zugegebenermaßen ist es mathematisch allerdings leichter, die Sonne als Zentrum unseres Planetensystems zu beschreiben.
Aber die wissenschaftliche Leistung Galileo Galileis umfasst weit mehr, als er für die Durchsetzung des heliozentrischen Weltbildes geleistet hat.
Als erster Wissenschaftler der Geschichte führte er das Experiment in die Naturwissenschaften ein.
Das Experiment als Beweis für die Richtigkeit der Theorie.
Diese Herangehensweise ist bis heute die grundlegende Arbeitsweise der modernen Naturwissenschaften.
Zur Untersuchung der Fallgesetze führte Galilei die schiefe Ebene als Versuchsanordnung ein.
Er experimentierte mit Kugeln aus verschiedenen Materialien.
Dabei stellte er fest, dass die Beschleunigung etwas von der Geschwindigkeit völlig Verschiedenes ist.
Gleichzeitig konnte er beweisen, dass alle Körper gleich schnell fallen.
Bis dahin galt die griechische Lehrmeinung, dass leichte Körper langsamer und schwere Körper schneller fallen.
Nun brauchen Sie nicht unbedingt eine schiefe Ebene wie Galilei, um diese Gesetzmäßigkeit nachzuweisen.
Nehmen Sie sich ein Blatt Papier und ein dickes Buch.
Beschneiden Sie das Blatt Papier in der Größe des Buches.
Jetzt nehmen Sie beide in die Hand.
Das Blatt Papier in die linke und das dicke Buch in die rechte Hand oder umgekehrt.
Lassen Sie beide fallen, und Sie sehen: Die Griechen hatten recht.
Vollziehen Sie jetzt das Experiment noch einmal.
Legen Sie das Blatt Papier auf das Buch und nehmen beides in eine Hand; rechts oder links überlasse ich Ihnen.
Lassen Sie beide fallen.
Beide kommen zusammen auf dem Boden an.
Sie sehen:
Galilei hat recht, wenn man den Widerstand der Luft ausschließt.
Galilei war einer der genialsten Naturwissenschaftler aller Zeiten.
Er erkannte, dass die Gesetze der Natur in mathematischer Sprache geschrieben sind.
Er führte das Experiment als Prüfstein für die Theorie ein.
Er legte den Grundstein für die modernen Naturwissenschaften.
Am 2. November 1992 wurde Galileo Galilei von der römisch-katholischen Kirche formal rehabilitiert.