Читать книгу Leben wir in einer Illusion? - Lutz Gaudig - Страница 16
ОглавлениеDie Welt wird wissenschaftlich – und infrage gestellt
„Nature and Nature’s Laws lay hid in Night:
God said, Let Newton be! and all was Light.”
Inschrift an Newtons Grab in Westminster Abbey
Sehr viele Menschen besuchen jährlich London.
Nein, halt, das ist nicht ganz richtig.
Sehr viel ist relativ.
Wir werden in diesem Kapitel zum ersten Mal die Bekanntschaft mit der Relativität machen. Und bei acht Milliarden Menschen muss man relativieren.
Eine große Anzahl Menschen besuchen jährlich London.
Wenn man sie fragt, was ihnen zu London zuerst einfällt, nennen die meisten „Big Ben“.
Das ist auch vernünftig, finden wir ihn doch auf dem Einband vieler unserer Englischlehrbücher.
Nun, da sind wir nur unweit von dem Platz, auf den ich Sie jetzt entführen will.
Wenn Sie von Westen aus Big Ben besuchen wollen – und ich denke, da wohnen die meisten Touristen – müssen Sie an ihr vorbei.
Westminster Abbey!
Hier wurden und werden die Könige Englands gekrönt.
Wenn Sie also von Westen kommen, erwartet Sie ein gewaltiger Eindruck, so etwa wie Notre-Dame in Paris.
Vor Ihnen wachsen zwei riesige Türme aus dem Boden.
Architektonisch gestreckt, durch Säulenverzierungen gen Himmel strebend.
Rechts und links neben dem riesigen Eingang scheinen sie ein monumentales bleiverglastes Fenster zu halten.
Das ist der Westeingang zu Westminster Abbey.
Rechts davon ragt eine riesige Mauer mit Zinnen auf, die im Häusergewirr entschwindet.
Aber das ist nicht der Haupteingang.
Sie gehen weiter, links vorbei Richtung Nordosten.
Kurz darauf stehen Sie vor einem ganz anderen Portal.
Breit gefächert empfängt Sie orientalisches Flair.
Vier Türme, scheinbar schwerelos in den Himmel ragend, halten in der Mitte eine riesige Bleiglasrosette.
Darunter beherrschen sie drei Eingänge.
Der Haupteingang wird gesäumt von zwei kleineren.
Das Portal vermittelt eine ungeheure räumliche Tiefe, die magisch hineinzieht.
Wir befinden uns am sogenannten „Great North Door“, dem Nordeingang.
Egal wie Sie hineingelangen, Sie werden binnen Kurzem von zwei Eindrücken überwältigt.
Sie tauchen ein in ein Meer aus buntem Licht und aus höllisch teurem Stein.
Westminster Abbey ist seit Jahrhunderten die Krönungskirche der Könige von England.
Dieses allein würde die Kathedrale ähnlich großen Gotteshäusern in Europa gleichsetzen.
Aber Westminster Abbey ist weit mehr.
Westminster Abbey ist auch die Grabeskirche für englische Könige, Künstler, Wissenschaftler und Politiker.
Wenn Sie hier eintreten, egal ob durch das West-Tor oder das Nord-Tor, befinden Sie sich auf einem Friedhof, einem sehr teuren Friedhof.
Die Gräber sind im Fußboden eingelassen oder in aufwendigen Grabmalen in der Kirche verteilt.
Es gibt 102 königliche Gräber.
Meist von Königen, die vergessen sind, weil sie die Geschichte nicht geschrieben haben.
Nun gehen Sie schnell daran vorbei, und verschwenden Sie keine Zeit.
In dieser Kirche sind auch Menschen bestattet, die unserer Zivilisation Sprungkräfte verliehen haben.
Bewegen wir uns aufmerksam durch Westminster Abbey, lesen wir Namen, die uns tief ergreifen – ergreifen vor Ehrfurcht.
Charles Dickens
Georg Friedrich Händel
Charles Darwin
Lord Kelvin
Ernest Rutherford
Isaac Newton
„Hier ruht Newton, der eifrige, treue Forscher der Natur. Die Größe des erhabenen Gottes hat er mit seiner Weisheit bewiesen, die Einfachheit des Evangeliums mit seinem Leben an den Tag gelegt!“ – so lautet seine Grabinschrift.
Der Sarkophag ist Teil eines monumentalen Marmorgrabmals.
Es symbolisiert, in einer großartigen künstlerischen Arbeit, die Allegorien auf seine Entdeckungen.
Isaac Newton, präzise: Sir Isaac Newton!
Am 4. Januar 1643 in Woolsthorpe-by-Colsterworth in Lincolnshire geboren, wurde er 1705 von Königin Anne, nicht wegen seiner Verdienste um die Wissenschaft, sondern für seine politische Betätigung zum Ritter geschlagen; eben SIR Isaac Newton.
Wenn ich heute frage, wer Newton war, werden viele spontan antworten: der mit den mechanischen Grundgesetzen.
Okay, toll! Da haben Sie gut aufgepasst im Physikunterricht.
Einige werden noch draufsetzen: Na ja, auch die Infinitesimalrechnung ist von ihm.
Noch besser!
Daumen hoch!
Man kann Ihnen nicht viel vormachen.
Obwohl, bei der Infinitesimalrechnung sollte wohl auch Gottfried Wilhelm Leibnitz als der zweite Vater nicht unerwähnt bleiben.
Richtig ist, dass mit dem Namen Newton viele Fortschritte auf den Gebieten Physik, Mathematik und Philosophie verbunden sind.
Er wird heute zu Recht als einer der größten Naturwissenschaftler aller Zeiten bezeichnet.
An Newtons Grab in Westminster Abbey hatte drei Jahre nach seinem Tod Alexander Pope eine Inschrift angebracht:
„Nature and Nature’s Laws lay hid in Night: God said, Let Newton be! and all was Light.”
„Natur und der Natur Gesetze waren in Nacht gehüllt; Gott sprach: Es werde Newton! Und das All ward lichterfüllt.“
Newton fasste die wissenschaftlichen Ergebnisse von Größen wie Johannes Kepler, Galileo Galilei, René Descartes und vielen weiteren zusammen, durchdachte sie neu, ging die nächsten Schritte.
Er schuf mit seinen Gesetzen eine neue Weltsicht, ein Weltbild, das mathematisch berechenbar war.
„Wenn ich weiter als andere gesehen habe, dann nur deshalb, weil ich auf den Schultern von Giganten stand“, sagte er resümierend von sich selbst.
Zeit seines Lebens lebte Isaac Newton in wohlhabenden Verhältnissen.
Sein Vater war ein erfolgreicher Schafzüchter und trug den Titel „Lord of the Manor“.
Er starb vor Isaacs Geburt.
Nachdem seine Mutter drei Jahre später erneut geheiratet hatte, blieb Isaac bei seiner Großmutter in Woolsthorpe, um den Titel zu erhalten.
Die langjährige Trennung von der Mutter scheint ein Grund für seine schwierige Psyche gewesen zu sein.
Zweifel plagten ihn sein Leben lang.
„In der Wissenschaft gleichen wir alle nur den Kindern, die am Rande des Wissens hier und da einen Kiesel aufheben, während sich der weite Ozean des Unbekannten vor unseren Augen erstreckt.“
Auf Kritik reagierte er geradezu selbstzerstörerisch.
Er erlitt zwei Nervenzusammenbrüche.
„Ich habe in meinem Leben zwei wichtige Dinge gelernt: Ich bin ein großer Sünder, und Christus ist ein noch größerer Retter.“
Zeit seines Lebens blieb er ein gottesfürchtiger Mensch und versuchte in all seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen Gottes Allmacht zu entdecken.
Newton ist einer der wichtigsten und bekanntesten Physiker aller Zeiten.
Seine wissenschaftliche Laufbahn aber begann er als Mathematiker.
Seine Leistungen, schon in sehr jungen Jahren, waren offensichtlich ein Grund für seine steile Karriere an der Universität Cambridge.
Mit den von ihm entwickelten mathematischen Prinzipien gelang es ihm später, seine noch heute gültigen mechanischen Gesetze zu entwickeln und zu beweisen.
Ohne seine Infinitesimalrechnung hätte Newton dies kaum bewerkstelligen können.
Anfang des 17. Jahrhunderts hatten Cavalieri und Torricelli mit infinitesimalen Rechengrößen gearbeitet.
Descartes und Fermat nutzten algebraische Methoden zur Berechnung der Steigung von Kurven.
Newton gelang es noch als Student, sie in der „Fluxionsmethode“ zu verbinden.
Ab 1666 entwickelte er die Infinitesimalrechnung.
Im Jahr 1669 erschien „De analysi per aequationes numero terminorum infinitas“.
Dies war der Vorläufer der Infinitesimalrechnung als Manuskript.
Und es war der erste Schritt zu Newtons Entwicklung zu einem der führenden Mathematiker seiner Zeit.
Die Gesamtabhandlung zu seiner Infinitesimalrechnung veröffentlichte er allerdings erst im Jahr 1704 in einem Anhang zu „Opticks“.
Gottfried Wilhelm Leibnitz arbeitete von 1670 an am gleichen Problem.
Er nannte es Differentialrechnung.
Leibnitz näherte sich der Lösung über die mathematische Beschreibung des geometrischen Tangentenproblems.
Newton entwickelte seine Ideen aus der Physik heraus.
Dabei ging er vom physikalischen Prinzip der Momentangeschwindigkeit aus.
Das Ergebnis war, wie so oft in seinem Leben, ein Streit um die Priorität, die Urheberschaft.
Heute ist sich die wissenschaftliche Welt einig, dass beide Wissenschaftler „ihre Infinitesimalrechnung“ unabhängig voneinander entwickelt haben.
Isaac Newton war mit 26 Jahren jüngster Professor, als er 1669 auf den Lucasischen Lehrstuhl in Cambridge berufen wurde.
Auch heute noch ist der Lucasische Lehrstuhl für Mathematik der Universität Cambridge einer der weltweit berühmtesten.
Stephen Hawking hatte ihn von 1979 bis 2009 inne.
Bis 1672 lehrte Newton Optik.
Insbesondere beschäftigte er sich mit der Lichtbrechung.
Die Farbentheorie des Lichtes war das Thema der Antrittsvorlesung Professor Newtons in Cambridge.
Dabei stellte er die zu seiner Zeit gültigen Vorstellungen der Antike vom Kopf auf die Füße.
Die Annahme der alten Griechen, dass Licht prinzipiell weiß sei und Farben durch Veränderung entstünden, war nicht länger haltbar.
Durch Experimente mit Lichtspalt und Prisma kam Newton zu dem Ergebnis, dass weißes Licht aus farbigem zusammengesetzt ist.
Beim Durchgang durch ein Prisma wird es in seine Farbanteile zerlegt.
Damit konnte er wissenschaftlich die Entstehung von Regenbögen erklären. Aus seiner Entdeckung, dass Lichtstrahlen unveränderliche Eigenschaften haben, entwickelte er eine Teilchentheorie des Lichtes.
Nach Newton besteht Licht aus unveränderlichen, atomähnlichen, kugelförmigen Lichtteilchen, den „Korpuskeln“.
Die Farbeigenschaften würden durch unterschiedlich große Teilchen generiert.
Allerdings konnte er mit seiner Theorie bestimmte Phänomene wie die Interferenz oder die Doppelbrechung nicht erklären.
Trotzdem vertrat er in seiner „New Theory about Light and Colours“ neben der Farbentheorie auch seine „Korpuskeltheorie“.
Daran entzündete sich ein langer, erbitterter, wissenschaftlicher Streit mit Christiaan Huygens.
Dieser hatte die Wellentheorie des Lichtes entwickelt.
Aus heutiger Sicht erscheint dieser Streit belanglos.
Wie wir noch sehen werden, sind beide, die Wellen- wie auch die Teilchentheorie des Lichtes, heute in der Quantenmechanik vereint.
„Ich kann die Bewegungen der Himmelskörper berechnen, aber nicht die Verrücktheit der Menschen.“
Von 1678 bis in das Jahr 1684 befand sich Newton in einer depressiven Phase der Selbstzweifel.
Ab 1679 nahm er seine frühen Arbeiten zur Mechanik wieder auf.
Aufbauend auf den Gesetzen Johannes Keplers zu den Planetenbewegungen und Descartes’ Arbeiten zum Trägheitsproblem schuf er seine dynamische Gravitationstheorie.
Damit hatte sich das heliozentrische Weltbild endgültig durchgesetzt.
Für viele Anwendungen reicht die Genauigkeit ihrer Rechengrundlagen auch heute noch.
Zusammen mit der Gravitationstheorie sind die Newton’schen Gesetze der Grundstein der heutigen klassischen Mechanik.
Veröffentlicht 1687 in „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“ ist dieses Werk eine der wichtigsten physikalischen Veröffentlichungen aller Zeiten.
Die Messungen Galileo Galileis an rollenden Kugeln auf der schiefen Ebene führten zu den Newton’schen Gesetzen.
Wirkt eine Kraft auf einen Körper, wird dieser beschleunigt.
Wirkt keine Kraft auf diesen Körper, so bewegt er sich geradlinig mit konstanter Geschwindigkeit.
Die Kraft, die die rollenden Kugeln beschleunigt, ist deren Gewichtskraft.
Newton zeigt in seinem ersten Gesetz, dem Trägheitsgesetz, was mit einem Körper passiert, auf den eine Kraft einwirkt.
Er macht Aussagen über die Bewegung von physikalischen Körpern in Inertialsystemen bei Abwesenheit von äußeren Kräften.
Das zweite Newton’sche Gesetz, auch Aktionsprinzip, erklärt, wie die Bewegung eines Körpers durch Krafteinwirkung verändert wird.
Die Beschleunigung eines Körpers ist proportional der einwirkenden Kraft und umgekehrt proportional dessen Masse.
Es ist die Grundlage für viele Bewegungsgleichungen in der Mechanik.
Die Gleichung „Kraft ist Masse mal Beschleunigung“ (Euler’sche Formel) wird häufig als die Grundgleichung der Mechanik bezeichnet.
In seinem dritten Gesetz, dem Wechselwirkungsprinzip, zeigt Newton, dass zu jeder Kraft (actio) eine gleich große Kraft (reactio) existiert, die der ersten genau entgegengerichtet ist.
Das Wechselwirkungsprinzip wird auch kurz als „actio gleich reactio“ bezeichnet.
Wir wissen aus der Schule, dass Newton mit seinem Gravitationsgesetz und dem zweiten Newton’schen Gesetz, dem Aktionsprinzip, als Erster mathematisch nachweisen konnte, dass alle Körper gleich schnell fallen.
Seine Formeln zum Gravitationsgesetz verhalfen dem heliozentrischen Weltbild zum endgültigen Durchbruch.
Aber seine Gesetze zur Mechanik veränderten unser Weltbild wesentlich nachhaltiger.
Seine mathematischen Gleichungen führten zwangsläufig zur Einführung des Relativitätsprinzips in der Physik.
Bis dato hatte man angenommen, dass es einen bevorzugten Ruhezustand gibt, den ein Körper einnehmen würde, wenn keine Kraft auf ihn wirkt.
Vor allem meinte man, die Erde sei ein solcher Ruhepunkt.
Das war nun vorbei.
Das Fehlen des absoluten Zustandes der Ruhe beziehungsweise des absoluten Raumes bedeutet aber, dass man nicht bestimmen kann, ob zwei nacheinander folgende Ereignisse am gleichen Ort im Raum stattfinden.
Verdeutlichen wir uns das in einem Gedankenexperiment.
Nehmen wir an, Sie fahren in einem ICE mit 160 km/h.
Sie wollen gerade Ihr iPad verstauen, als es aus Ihren Händen gleitet.
Es fällt aus einer Höhe von 1,20 m auf den Boden und geht zu Bruch.
Im Fragebogen Ihrer Versicherung schildern Sie den Vorfall.
Sie erklären, dass Ihnen Ihr iPad an der Stelle x0 aus der Hand fiel und genau an der Stelle x0 zerschellte.
Nach Newton betrug die Fallzeit 0,49 Sekunden.
„Fällst du von einem Turm herab, fällst du g halbe t Quadrat.“
Sie müssen die Formel nur nach t umstellen und die Quadratwurzel ziehen.
Für Ihren Versicherungsvertreter stellt sich der Vorgang allerdings anders dar. Nichts Neues werden Sie sagen; wobei Sie nicht ganz unrecht haben.
Aber in unserem Fall gibt es physikalische Gründe.
Als Ihnen Ihr iPad aus den Händen fällt, steht Ihr Versicherungsvertreter gerade am Bahnsteig und beobachtet das Geschehen.
Er sieht, wie Ihnen das Gerät bei der Koordinate x0 aus der Hand fällt.
Wie gesagt, beträgt die Falldauer 0,49 s.
In dieser Zeit ist der ICE aber 21,56 m weitergefahren.
Ihr iPad schlägt für Ihren Versicherungsvertreter also nicht bei x0, sondern bei x0 plus 21,56 m auf.
Wer also hat recht?
Beide!
Wie sich ein Körper im Raum bewegt, hängt vom Beobachter ab.
Zwei Beobachter in zueinander bewegten Systemen kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen.
Trotzdem sind beide Resultate zulässig.
Eine Bewegung kann immer nur relativ zu anderen Körpern, das heißt Bezugssystemen, beschrieben werden.
Erst das Relativitätsprinzip macht den Bewegungsbegriff sinnvoll.
Das Fehlen eines absoluten Punktes, einer absoluten Position im Raum, erschütterte Newton schwer.
Die Erkenntnis war nicht in Einklang zu bringen mit seiner Vorstellung von einem absoluten Gott.
Er wollte diesen Mangel Zeit seines Lebens nicht akzeptieren.
Dieses Problem aber ergab sich zwingend aus seinen eigenen Gesetzen.
Auch bei der Zeit ging Newton von einer absoluten Größe aus.
Ähnlich wie Aristoteles behauptete er, dass die Zeit zwischen zwei Ereignissen eindeutig bestimmbar sei.
Das Ergebnis sei unabhängig von dem, der sie messe, immer gleich – vorausgesetzt, die Beobachter benutzen hinreichend genaue Uhren.
Während die Idee vom absoluten Raum im direkten Widerspruch seiner eigenen Gesetze stand, war es bei der Zeit anders.
Die Vorstellung von einer absoluten Zeit war im Einklang mit seiner Theorie. Das entsprach auch dem gesunden Menschenverstand und dominierte das Denken bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts.
Diese wissenschaftliche Idylle hielt an bis zum Jahr 1864.