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Würgegeister

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Der Schwebende Palast, Kaiserpfalz Venabulae, auf dem Gipfel des Berges Kyporus, früher Morgen, am selben Tag

»Herrin! Ein Bote! Soeben ist ein Bote aus Duros Xenthos eingetroffen!« Genia hielt in ihrem Gesang inne und senkte die kleine Harfe, deren Klang die Kammer erfüllt hatte. Salada hatte ohne Ankündigung ihr Gemach betreten und hielt sich keuchend den Busen.

Dann war ihr Vater also siegreich gewesen? Natürlich. Wer oder was vermochte der Macht des Imperiums schon zu trotzen? Die Prinzessin war sich im klaren darüber, daß ihre mißgünstige Tante nur auf diesen Tag gewartet hatte.

»Jemand, der mir bekannt ist?«

»Es heißt, es sei Guelfo, Herrin«, nuschelte die alte Dienerin. »Euer alter Lehrer. Man wird ihn in den Pfauensaal führen, sobald Ihr bereit seid, ihn zu empfangen.«

»Guelfo!? Wirklich?« Ein freudiges Lächeln huschte über Genias Züge, und schon war sie aufgesprungen. »Das wird Emerentia nicht gerade glücklich machen.«

Mit lautem Klatschen hieß Salada vier Kammerdienerinnen einzutreten, die bereits ein prachtvolles, mit goldenen Drähten verstärktes Brokatgewand sowie die Zedernschatulle mit dem fürstlichen Schmuck bei sich trugen. Genia haßte diesen Zierat. Er war viel zu schwer für ihre schmalen Schultern. Wie immer würde ihr in diesem Staat der Schweiß in Bächen den Rücken hinunterrinnen. Doch Salada hatte die Lage richtig eingeschätzt. Sie mußte sich beeilen, wenn sie vor ihrer Tante im Pfauensaal eintreffen wollte.

Schweigend und mit großer Hast kleideten die Frauen die Prinzessin an. Salada rückte selbst die ausladende Brokathaube zurecht und legte letzte Hand an die diamantgeschmückte, dreireihige Sternenkette. Dann machten sich die Frauen zusammen mit zwei von Genias Leibgardisten auf, um über die Korridore und Treppen des Schwebenden Palasts hinauf zum Pfauensaal zu gelangen. Als sie ihr Ziel erreicht hatten, fragte sich Genia im stillen, warum ihr Vater ausgerechnet Guelfo als Boten gesandt hatte.

Die Säulenhalle war das Herz des Palasts und stellte an Prunk jeden anderen Teil der Residenz in den Schatten. Die Fenster bestanden aus buntem kurjamäischem Glas, die marmornen Wände und Säulen waren mit Blattgold verziert, und überall in der Halle verteilt standen vergoldete Amphoren mit ausladenden Wedeln, deren Enden von Dutzenden Pfauenfedern geschmückt wurden. Dennoch verstellte die opulente Ausstattung der Halle nicht den Blick auf den prachtvoll gestalteten Mosaikboden. Kaiser Gratianus war hier dargestellt, wie er von seinen besiegten Gegnern die drei Reichskronen entgegennahm: die corona ivoris, die Elfenbeinkrone des Südens, die corona rosarum, die Rosenkrone Pentarosaes, und die corona aquilina, die Adlerkrone des Nordens. Jedes Kind im Reich lernte, daß dies die Herrschaftsinsignien jener Großreiche waren, die ihr Urahn einst zum Imperium vereinigt hatte. Der Besitz der drei Kronen besiegelte noch heute den Machtanspruch der Imperatorenfamilie.

»Schlagt die Augen nieder! Schlagt die Augen nieder! Ihre Imperiale Hoheit Prinzessin Genia Gratiana hat den Saal betreten!«

Die Kaisertochter achtete kaum auf die zeremonielle Litanei des Palastvogtes, dem auf Venabulae die Verwaltung und auch die gewöhnlichen Truppen unterstanden. Kaum hatte sie sich auf dem Thron ihres Vaters niedergelassen, zogen sich die Dienerinnen wieder zurück, und die Leomannen nahmen seitlich Aufstellung. Wie sie es befürchtet hatte, war Emerentia bereits eingetroffen. Ihre Tante saß mit säuerlichem Gesichtsausdruck zu ihrer Linken und vermied es, sie anzusehen. Sie durfte ihr keine Gelegenheit geben, allein mit Guelfo zu sprechen. Wenigstens schwitzte Emerentia in ihrem Brokatgewand noch mehr als sie selbst.

»Führt den Boten herein.«

Kaum war der Ruf der Prinzessin verhallt, zogen zwei Männer der Wache den großen Sternenvorhang beiseite, der den Pfauensaal vom Vorraum trennte. Genia lächelte in stiller Vorfreude, als sie Guelfo nahen hörte. 15 Monde hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Augenblicke später betrat der Kaiserpriester den Saal und näherte sich eilig dem Thron.

Der Orator Seiner Illuminiszenz war Mitte der Vierzig und großgewachsen, wenn auch nicht ganz so groß wie die Hünen seines Volkes, die der Kaiserfamilie als Söldner dienten. Sein Gesicht wurde von einem langen blonden Kinn- und Backenbart eingerahmt, wie es sich für einen imperialen Zauberer geziemte. Wie immer trug Guelfo sein Ornat, die Insignien seines Amtes und den Sternenstab; seltsam war heute nur, daß er eine schwere, abgewetzte Satteltasche geschultert hatte. Darüber hinaus war der Saum seiner Kleidung schmutzig, an einer Seite sogar eingerissen. Die Augen, in denen sonst eine Begeisterung loderte, für die Genia ihn so liebte, waren verschattet. In diesem Moment wußte sie, daß er alles andere als gute Nachrichten brachte.

Der Zauberer blieb inmitten des Kronenmosaiks stehen und verbeugte sich knapp. Der Prinzessin kam es so vor, als irrlichterte Guelfos Blick zu den Kriegern ihrer Leibgarde.

»Imperiale Hoheiten, ich habe schlimme Kunde zu überbringen. Die Schlacht bei Duros Xenthos ... ist verloren!«

Genia und ihre Tante fuhren hoch.

»Wie konnte das geschehen?« keuchte Emerentia, sichtlich um Fassung ringend. »Niemand ist in der Lage, das Vereinigte Imperiale Heer zu schlagen. Niemand!«

»Was ist mit der kaiserlichen Familie?« Genias Stimme klang belegt. Plötzlich lastete eine bleierne Stille im Saal.

Guelfo räusperte sich. »Seine Illuminiszenz ist tot, Hoheiten. Das Heer auf der Flucht. Es war ...«, der Orator zögerte kurz, »es war Verrat im Spiel. Imperiale Hoheit Genia Gratiana, ich muß Euch um ein Gespräch unter vier Augen bitten. Ich habe eine Botschaft Seiner Illuminiszenz, die Euch allein betrifft. Aber nicht hier.«

Emerentia schnaubte ungehalten, doch etwas in Guelfos Blick verriet der Prinzessin, daß ihr alter Lehrer noch aus einem anderen Grund mit ihr allein sein wollte. Ohne ein weiteres Wort erhob sie sich und gab ihrer Leibgarde einen Wink.

»Unter vier Augen, Prinzessin!« zischte Guelfo gerade so laut, daß nur Genia verstehen konnte, was er sagte. Verblüfft hielt sie inne. Sie gebot den Gardisten im Saal zu bleiben und schritt würdevoll am Palastvogt vorbei, der ihr besorgt hinterherblickte.

Der Imperator war tot, sein Heer geschlagen. Genia schwindelte, als die Nachricht in ihr Bewußtsein drang. Und doch mußte sie sich eingestehen, daß ihr Vater ihr all die Jahre über fremd geblieben war und sie nur wenig Trauer verspürte. Nun würde wohl ihr ältester Bruder Crispinus die Nachfolge antreten. Obwohl Hunderte weiterer Fragen in ihr brannten, sprachen sie und Guelfo kein Wort, bis sie endlich ihre privaten Gemächer betreten hatten. Dort war Salada gerade damit beschäftigt, ein leichtes Gewand für sie herauszulegen.

»Bitte schickt Eure Dienerin fort, Imperiale Hoheit.«

Genia reagierte ungehalten. »Guelfo, es ist genug. Salada ist meine engste Vertraute. Was ich weiß, das darf auch sie wissen. Nun sagt, was Ihr mir bestellen sollt.«

Der Leomanne warf einen hastigen Blick zurück in den Gang. »Wie Ihr wünscht, Prinzessin. Salada, ich will, daß sich Ihre Hoheit so schnell wie möglich Jagdkleidung anlegt. Außerdem brauchen wir Verpflegung für mehrere Tage. Gibt es einen geheimen Gang von hier aus hoch zur Festung? Oder noch besser: hinunter in den Dschungel?«

Genia und Salada sahen sich fassungslos an.

»Guelfo, was redet Ihr? Ist das feindliche Heer etwa schon so nah? Venabulae ist unbezwingbar. Erzählt mir lieber, was vorgefallen ist. Was ist mit Crispinus und Desiderius, meinen beiden älteren Brüdern? Und mit Naria und Cassandra? Was ist es, was Ihr mir von Seiner Illuminiszenz ausrichten sollt? Nun erzählt endlich, wie es geschehen konnte, daß ...«

»Sie sind tot, Prinzessin. Alle! Wir haben keine Zeit mehr. Ihr seid hier nicht sicher!«

Genia war, als hätte man sie ins Gesicht geschlagen. Sprachlos sah sie mit an, wie Guelfo an ihr vorbei zu einer der großen Kommoden ihres Gemachs eilte und die Schubladen mit den Schminktiegeln und Flakons herausriß. Hastig öffnete er eines der Behältnisse und spähte hinein. Fluchend ließ er es fallen und griff nach dem nächsten Gefäß.

»Guelfo!« Die Prinzessin schrie hysterisch. Der Orator hielt unvermittelt in seiner Bewegung inne und warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. Seine Nasenflügel bebten vor Anspannung. »Was sagt Ihr? Sie sind tot? Alle?«

»Ja, alle, Hoheit. In der Thronfolge ist nur mehr Prinz Nicandrius übrig – und Ihr. Ihr könnt es nicht wissen ... Es war die Leomannengarde. Sie hat rebelliert. Es muß von langer Hand vorbereitet gewesen sein. Vielleicht hätten die Gefährten die Niederlage noch abwenden können, aber auch sie haben versagt.«

Der Kaiserpriester verstummte und fuhr plötzlich Salada an. »Beim Geifer des Behemoth, was steht du noch da und glotzt wie der Affe vor der neuen Palme? Sorge endlich dafür, daß sich die Prinzessin umzieht. Ich muß sie aus dem Palast schaffen! Umgehend!«

Salada trat scheu heran, doch Genia stammelte verlegen: »Ich kann mich nicht umkleiden, solange Ihr im Raum seid.«

Guelfos braune Augen blickten überrascht. »Ich durchsuche die Arzneien im Schlafraum!« schnaubte er. »Wenn ich zurückkehre, tragt Ihr Eure Reisekleidung!«

Salada bewegte sich, als hätte sie ein Affe gebissen. Unmittelbar nachdem Guelfo in den Nachbarraum gestürmt war, zerrte sie Genia das schwere Brokatgewand vom Leib, während der Orator nebenan fieberhaft weitere Kommoden und Schränke durchsuchte. Schlafmittelchen, Salben und Pasten polterten lautstark zu Boden.

Die Prinzessin war wie betäubt. Nur verschwommen nahm sie wahr, wie die alte Amme ihr das grüne Jagdgewand überstreifte und ihr in die Stiefel half. Nicandrius, ihr jüngerer Bruder, war jetzt der Thronfolger. Hoffentlich kümmerte sich auch jemand um seine Sicherheit!

»Nichts. Das war zu befürchten.« Guelfo erschien im Durchgang zum Schlafzimmer, als über ihnen im Pfauensaal gedämpfte Schreie und Kampfeslärm zu hören waren. Erstaunlich behende sprang er zu einem der Fenster.

»Wie ich es mir gedacht habe! Sie haben keine Zeit verloren. Hoheit, wie viele Leibgardisten haben Euch nach Venabulae begleitet?«

»Zehn«, erwiderte Genia tonlos. »Und zehn weitere, die Emerentia unterstehen.«

»Jeder von ihnen kann es mit drei gewöhnlichen Wächtern aufnehmen«, erklärte Guelfo bitter und sah sich erneut im Raum um. Genia schien es, als hielte er nach einer Waffe Ausschau. Doch eine solche Suche war hier vergebens.

»Dem Palastvogt unterstehen etwa 50 Mann«, fuhr Guelfo fort. »Auch wenn er nicht als Erster erschlagen wurde und die Palastwache jetzt kopflos dasteht, werden die Aufrührer den Schwebenden Palast ohne Mühen halten können. Zumindest so lange, bis sie Euch und Eure Tante als Geisel genommen haben. Doch sagt, lebte auf Venabulae nicht ein hervorragender Alchimist und Heiler? Ich glaube, sein Name war Cinctus Guavinus. Existiert sein Apothekarion noch?«

»Ja, das existiert noch«, nuschelte Salada an Genias Stelle.

»Dann bitte ich Euch, stellt mir jetzt keine weiteren Fragen, sondern führt mich dorthin. Schnell!«

Die drei schlichen aus dem Gemach und hielten sich im Schatten der Säulen, während nicht weit über ihnen die Schreie von Männern und das Klirren von Schwertern laut wurden.

Genia führte Guelfo zu einer verschlossenen Tür, die jenseits des überdachten Innenhofs lag. »Hier!«

Der Zauberer schob sie unsanft beiseite und warf sich mehrmals mit Macht gegen das Holz. Krachend flog die Tür auf. Die dunkle Kammer, die sich ihren Blicken darbot, stand voll mit Regalen und Schränken, in denen ungezählte Phiolen, Töpfe und Krüge verwahrt wurden. Von der Decke hingen Dutzende getrockneter Kräuterbündel, die den Raum mit aromatischen Gerüchen Rillten. Guelfo eilte hinein; leise murmelnd wühlte er in Schubladen, schüttelte Phiolen, öffnete Säckchen und warf sie zurück. »Hatte überhaupt nichts, der alte Guavinus.« Der Orator füllte zwei Schälchen mit etwas, das Genia für Salz und Kalk hielt. »Vulkanschwefel – damit kann man wenigstens Geister rufen. Ich brauche Kupferkies. Hoheit, seht nach, ob Ihr etwas Glänzendes findet.«

Auch Genia kramte nun in den Fächern. Kranichdung, Froschlaich, getrocknete Blutegel – es war einfach widerlich.

»Ist das brauchbar?« Sie hielt einen Beutel mit metallischen Körnern hoch.

»Bleiglanz!« brummte Guelfo. »Der tut es vielleicht auch. Ich hätte die Alchimie gründlicher studieren sollen. Etwas wie Feuerlehm habt Ihr nicht gefunden?«

Genia schüttelte den Kopf.

»Vielleicht steht auch Phosphoros darauf – oder etwas mit Lux?«

»Nein.«

In diesem Augenblick waren im Innenhof Schritte zu hören.

»Danke!« Guelfo griff nach den Körnern und warf sie hastig in einen Gluttopf, den er aus seiner ledernen Satteltasche zog.

Saladas überraschter Ruf ließ Genia herumwirbeln. Im Innenhof standen keine Leomannen, sondern der Palastvogt und zwei seiner Männer. An ihren Waffen klebte Blut. Einer von ihnen war verwundet, und ihre Blicke wirkten gehetzt.

»Vogt, was ist mit der Leomannengarde?«

»Es tut mir leid, Hoheit!« preßte der Palastvogt hervor. »Aber wir wurden überrumpelt. Der Palast ist praktisch in ihrer Hand. Ich muß Euch der Gnade meines Schwertes ausliefern.«

»Was ... was redet Ihr da?« Genia wich entsetzt einen Schritt zurück. Hatte sich nun selbst die Palastwache gegen sie verschworen? Die Lippen des Vogts zuckten. »Ich folge nur dem Befehl Ihrer Hoheit Emerentia. Ihr letzter Wunsch war es, daß kein Mitglied der Kaiserfamilie als Geisel zurückbleibt. Ich habe ihr versprochen, daß es schnell gehen wird«, er hob die blutige Klinge, »und ich habe mein Versprechen gehalten ...«

Salada stieß einen spitzen Schrei aus. Der Mann trat mit gezücktem Schwert vor, als unvermittelt Guelfo aus der Kammer trat.

»Haltet ein! Der Imperator und seine gesamte Familie wurden auf dem Schlachtfeld erschlagen.«

»Kaiserpriester, tretet beiseite! Laßt es mich hinter mich bringen, oder ich muß auch Euch töten.«

»Seid Ihr von Sinnen, Mann? Wir müssen die Prinzessin retten! Vertraut mir, ich weiß einen Weg.«

»Nein, Zauberer. Die Lage ist hoffnungslos. Jeder von uns ist zum Sterben verurteilt. Nur bei Euch bin ich mir nicht sicher. Vielleicht setzt Ihr ja darauf, daß man Euch Eurer leomannischen Herkunft wegen verschont?«

»Ich diene dem Imperator, Vogt!«

»Der Imperator ist tot. Außerdem hat mich Ihre Hoheit Emerentia vor Eurer Schläue gewarnt. Versucht also nicht, mich zu beschwatzen. Ich werde nicht riskieren, daß Ihr die Imperiale Hoheit Genia Gratiana dazu benutzt, um Euer eigenes Leben zu retten.« Der Vogt leckte sich fahrig über die Lippen. »Ich werde nun den Befehl ausführen, so wie ich es geschworen habe!«

»Gut, Vogt, Ihr wollt es nicht anders!«

Guelfo hob mit der Linken gebieterisch den Gluttopf in die Höhe. »Ist Euch bewußt, daß ich das giftige Flußpferd Behemoth allein mit der Macht meines Wortes getötet habe?« Seine Stimme nahm einen bedrohlichen Ton an, und die Bewaffneten hielten beunruhigt inne. »Nicht nur, daß es groß wie ein Hügel war und die Seelen von Menschen fraß. Sein Blut war so giftig, daß jeder Tropfen Würgegeister zeugte. Würgegeister, Vogt! Ich habe sie in diesem Gefäß eingesperrt. Wollt Ihr wirklich, daß ich sie wecke?«

Verunsichert blickte sich der Vogt zu seinen Begleitern um. Die starrten Guelfo angsterfüllt an.

»Was, wenn Ihr doch nur ein Hochstapler und Scharlatan seid? Männer, ergreift ...!«

Bevor der Vogt den Befehl aussprechen konnte, schnellte Guelfos Rechte vor, und eine kleine Wolke aus Vulkanschwefel senkte sich über den Gluttopf. Schlagartig breitete sich ein unsäglicher Gestank nach faulen Eiern aus. »Fühlt Ihr die Würgegeister, Vogt?«

Ein geisterhafter Windstoß kam auf, fuhr in die Glut und trieb den Rauch in dunklen Schwaden auf die Männer zu. Keuchend wichen die Wachen zurück. Guelfo streckte den Gluttopf hastig weit von sich. Einen Moment lang sah es so aus, als wäre er selbst von der Wirkung überrascht.

»Zurück!« zischte er der Prinzessin in einem Tonfall zu, der keinen Widerspruch duldete. Majestätisch fuhr er fort: »Fühlt Ihr die Klauen an Eurem Hals?«

Genia verspürte einen betäubenden Brechreiz und wich zurück, wie Guelfo ihr geheißen hatte. Als sie mit ansah, was den Männern widerfuhr, die inmitten des Qualms standen, weiteten sich ihre Augen. Die Männer ließen hustend die Waffen fallen, griffen sich an die Kehlen und gingen röchelnd in die Knie. Der Vogt taumelte würgend und mit hervorquellenden Augen rücklings gegen eine der Säulen, dann hatte ihn augenscheinlich der Tod ereilt. Der Gluttopf erlosch von einem Augenblick zum anderen, und lähmende Stille senkte sich über den Innenhof. Der Orator war blaß geworden. Das Gefäß rutschte ihm aus der Hand und zerbarst mit einem dumpfen Laut auf dein Boden. Kurz darauf waren erneut Schritte zu hören.

»Niemals hätte ich gedacht, daß ... Welch eine Vergeudung!«

Genia wußte nicht, ob Guelfo den Zauber oder den Verlust der Menschenleben meinte. Sie kam auch nicht mehr dazu, ihn zu fragen. Denn in diesem Moment betraten fünf Leomannen ihrer Leibgarde den Säulenhof. Sie hatten sich die weißen Tuniken vom Leib gerissen und Oberkörper und Waffen mit Blut beschmiert. Ihr Anführer starrte verblüfft zu den Toten, dann musterte er Guelfo mißtrauisch. Doch seine Worte galten der Prinzessin.

»Ihr werdet von nun an einem wahren Gott dienen, Genia Gratiana. Betrachtet Euch als Gefangene Aionars.«

Das Geheimnis der Gezeitenwelt

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