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Erwachen!

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Nahe dem Ufer des Arkos, am selben Morgen

Ferner Glockenklang drang gedämpft in das Bewußtsein des Ritters. Lorenco blinzelte. Sein Kopf war schwer vom Weihrauchduft. Tastend glitt seine Hand über den Boden. Er lag auf kaltem Marmor. Der matte Schein der Öllampen stach in seine verklebten Augen.

Seine Finger ertasteten fein gegerbtes Leder und ein langhaariges Fell. Die Bilder der vergangenen Nacht hielten ihn noch gefangen. Die Erinnerung an die Ekstase.

»Ianassa?« Seine Stimme hallte von den Wänden des Gewölbes wider. Der Ritter stemmte sich auf die Ellbogen. Neben ihm lag eine feine Haut. Blasses Leder, gekrönt von langem aschblondem Haar.

Lorenco starrte einige Herzschläge vor sich hin, bis er begriff, was dort auf dem Marmor lag. Ianassas Haut, sauber abgezogen und noch mit dem Haar verbunden. Der Schreck tilgte den Weihrauchrausch. Lorenco fühlte sich wie in eisiges Wasser getaucht. Das Geräusch des Glockenklangs änderte sich. Mit einemmal war es das scharfe Klirren aufeinanderschlagender Schwerter.

Etwas Warmes streifte die Wange des Ritters. Von einem Riß in der gewölbten Decke tropfte Blut.

Mit einem Satz war der Krieger bei seinem Schwert. Die blanke Waffe in der Hand, stürzte er die Treppe hinauf, zerteilte den schweren grünen Vorhang und fand Laikos im Kampf mit zwei Leomannen. Die Männer waren fast nackt und hatten sich mit gelber und weißer Farbe beschmiert. Der kleinere der beiden trug eine Kette aus Löwenzähnen um den Hals und hatte einen Schurz aus fleckigem Leder um die Hüften geschlungen. Ein dritter Barbarenkrieger lag niedergestreckt neben der kleinen Frau, die Laikos vergangene Nacht für sich erwählt hatte. Sie preßte sich die Hände auf den Bauch. Dunkles, zähflüssiges Blut quoll zwischen ihren Finger hervor und versickerte in einem Spalt in den Marmorplatten. Sie hob den Kopf und blickte zu Lorenco auf. Ihr Gesicht war bleich wie eine Totenmaske.

Mit einem wütenden Schrei stürzte sich der Erste Ritter auf die Krieger. Der Jüngere der beiden, eine Hüne von fast zwei Schritt Größe, wollte erschrocken zurückweichen, als ihn Laikos’ Schwert unter der Achsel traf.

In blindem Zorn wandte sich Lorenco gegen den letzten Gegner, den stiernackigen Kerl mit der Kette. Geschickt wehrte der Wilde sich gegen die Hiebe, die wie Hagelschlag auf ihn niederprasselten. Schritt um Schritt trieb Lorenco den Leomannen zurück.

Der Mann schrie etwas in der Sprache der Savanne, als sein unförmiges Schwert über dem Heft zerbrach. Lorencos Klinge traf ihn zwischen Schulter und Hals. Der Stahl zerteilte das Fleisch. Ein Ruck riß dem Ersten Ritter fast die Waffe aus der Hand, als mehrere Rippen unter der Wucht des Treffers splitterten. Der sterbende Leomanne sackte in sich zusammen.

Lorenco setzte einen Fuß auf die Brust des Barbaren und befreite seine Klinge. Die schwarze Galle hatte den Ritter übermannt. Wieder und wieder schlug er auf den Gegner ein, bis die beschwörende Stimme von Laikos ihn in die Wirklichkeit zurückholte. »Er ist tot. Es ist vorbei.«

»Ianassa ...« Lorenco begann am ganzen Körper zu zittern. Nach solchen Wutanfällen war er stets zu Tode erschöpft. »Sie sind gekommen, als wir geschlafen haben. Sie ... sie haben sie gehäutet ... Ich habe daneben gelegen und ... und nichts bemerkt. Sie ist sauber gehäutet ... Da war kein Blut! Was ...« Die Stimme versagte ihm. Er blickte zu der verletzten Frau hinüber. Sie lag reglos da.

»Hast du die Leiche gesehen?« fragte der ältere Ritter mißtrauisch.

»Ich sagte doch ... die Haut ... Sie haben sie gehäutet!«

»Und außer der Haut – wo war ihr Leib? Warum hast du nicht gehört, wie man sie tötete?«

Lorenco sah seinen Gefährten fassungslos an. Was fragte er da? »Ich war betäubt vom Weihrauch ... Ich ...« Er stutzte. Laikos hatte recht. Da war nur die Haut gewesen, keine Leiche. »Ihren Körper habe ich nicht gesehen.«

Laikos schlug das Zeichen des schützenden Halbmonds. »Laß uns von hier verschwinden!«

»Was ist los?«

»Begreifst du es wirklich nicht?« fauchte er gereizt. »Kennst du die Geschichten nicht? Von den Geschöpfen, die sich die Haut eines Menschen überstreifen, um uns zu täuschen? Ich weiß nicht, wem du gestern gefolgt bist und was in der Nacht geschehen ist. Ich weiß nur eins: Eine Sterbliche war Ianassa nicht! Bete zu den Göttern, Lorenco! Bete zu den Göttern. Es ist kein gutes Omen, die Aufmerksamkeit dieser Geschöpfe geweckt zu haben. Du mußt ...«

Hufschlag ließ den Boden erbeben. Dicht über die Mähne des Grauen geduckt, preschte Rufus den Säulengang hinab und führte die anderen beiden Pferde an langen Zügeln mit sich.

»Leomannen! Sie sind überall!« Er riß den Grauen herum, daß die Hufeisen Funken schlugen. »Schnell, Herr. Alles ist verloren. Die Barbaren ... sie sind überall. Es heißt, die Leibwache habe den Imperator und seine ganze Familie ermordet! Die Leomannen kommen zu Tausenden auf Schilfbündeln den Arkos hinabgeritten. Unser Heer ist in Auflösung begriffen. Es ist alles verloren!«

»Laikos, rüste dich!« befahl Lorenco, erleichtert, nicht länger über Ianassa nachdenken zu müssen. Er war Ritter und Heerführer und war es gewohnt, einen kühlen Kopf zu bewahren – solange ihn nicht die schwarze Galle übermannte. Doch das geschah nur im Kampf Mann gegen Mann.

Was Rufus berichtete, konnte nicht wahr sein! Selbst wenn es den Leomannen gelungen sein sollte, dem Heer mit ein paar tausend Kriegern in den Rücken zu fallen, war gewiß nichts verloren. Die Truppen des Imperiums waren vorbildlich und diszipliniert. Die Soldaten würden sich vom Schock des überraschenden Angriffs erholen, wenn sie nur richtig geführt wurden.

Entschlossen eilte Lorenco in das Gewölbe hinab und legte seine Rüstung an. Bevor er den Maskenhelm aufgesetzt hatte, blickte er noch einmal nach der Haut. Er entdeckte keinen einzigen Schnitt darin. Hatte Laikos recht? Oder war hier finstere Leomannenmagie am Werk? Der Ritter konnte sich nicht vorstellen, daß Ianassa ein Fabelwesen war. Sie war so ... Nein! Sie hatte ihn gewiß nicht getäuscht. Lorenco streifte seinen Siegelring ab und legte ihn als letzte Gabe für ihre Reise ins Jenseits auf den Rand des Beckens. Der Ring war aus rotem Gold gefertigt, in das ein Türkis eingelegt war, der einen Delphin zeigte – das Wappentier der Nardes Odera. »Du wirst gerächt sein, Ianassa!« flüsterte er leise und lief zur Treppe zurück.

Wieder bei seinen Gefährten, stieg der Erste Ritter in den Sattel. Eilig verließen sie den langen Säulengang. In das Ruinenfeld waren keine weiteren Plünderer eingedrungen, versprachen die Flußschiffe am Ufer doch ungleich reichere Beute.

Hinter dem wuchtigen Sockel eines Tetrapylons verharrten die drei Reiter. Von hier aus hatte man eine gute Sicht auf das Heerlager an der Hügelflanke. Schon auf den ersten Blick begriff Lorenco, daß Rufus nicht übertrieben hatte. Das Heer war verloren. Ganze Einheiten streckten kampflos die Waffen, und rings um das Dormon standen Feldzeichen mit Antilopenhörnern und Löwenfellen aufgerichtet. Allein das mußte reichen, um die Moral der Mehrzahl der Truppen zu brechen.

Lorenco beobachtete, wie eine der Flußgaleeren aus den großen Zelten unter dem Hügelkamm geschoben wurde. Die Ruderer hatten über Nacht ihren Einsatz vorbereitet. Das schlanke, mehr als zwanzig Schritt lange Schiff war auf zwei hochrädrige Wagen verladen worden. So hätte es schnell zum Fluß geschafft werden können, wenn der Imperator den Gegenangriff befohlen hätte. Doch jetzt war das Schiff von Leomannen umringt, die Fackeln darauf schleuderten. Als hätten die Wilden den Rumpf mit Öl getränkt, brannte die Galeere lichterloh. Unter Gejohle ließen sie sie den Hügel hinabrollen. Schon brach das erste der übermannsgroßen Karrenräder; wie von der Faust eines Riesen getroffen, wurde das Gefährt herumgeworfen. Die Halteseile der Galeere rissen. Sich seitlich überschlagend, rollte sie den Hügel hinab. Mit zerschmettertem Rumpf stürzte sie schließlich mitten ins Lager der Hilfstruppen aus Kurjameos. Die Elefanten gerieten in Panik und zerrten an ihren schweren Fußfesseln. Drei der grauen Kolosse wurden unter den brennenden Trümmern des Schiffsrumpfs begraben. Einigen Elefanten gelang es, ihre Fesseln zu sprengen. Sie stoben auseinander und trampelten nieder, was ihnen in den Weg geriet.

Laikos und Rufus warteten mit gezogenen Schwertern auf einen Befehl. In dieser Schlacht zu kämpfen schien sinnlos. Selbst wenn es ihnen gelingen sollte, einen Teil der fliehenden und verwirrten Truppen wieder zu sammeln, dieser Tag war verloren!

Lorenco blickte zum scharlachroten Dormon, das sich wie eine blutende Wunde gegen den hellblauen Himmel abzeichnete.

»Wer hat gesagt, daß die kaiserliche Familie ermordet wurde?« fragte er leise.

»Ein Mann, der die goldbestickte Tunika eines Leibdieners trug«, brachte Rufus stockend hervor. »Er sagte, er sei einer der Vorkoster von Prinzessin Cassandra gewesen. Sie haben sie geschlachtet wie Vieh.«

Lorencos Hand senkte sich auf den Schwertknauf. Er hätte in dieser Nacht bei der Adelsgarde sein sollen. Hätte er ein wenig früher eine Botschaft erhalten, dann wäre die Katastrophe vielleicht zu verhindern gewesen. Er mußte einen klaren Kopf behalten! Selbst wenn nicht die ganze Familie ermordet war, so war es unmöglich, dort hinzugelangen und jemanden zu befreien.

»Prinz Nicandrius und Prinzessin Genia ... wir müssen sie warnen! Solange die kaiserliche Blutlinie nicht ganz versiegt ist, besteht noch Hoffnung für das Reich. Wir müssen die beiden retten!«

Laikos sah ihn verblüfft an. »Nicandrius ist sterbenskrank, und von Genia heißt es, sie sei romantisch und weltfremd. Wie sollten sie je das Reich regieren?«

»Indem sie treue Berater an ihrer Seite haben«, entgegnete Lorenco entschieden. »Nur einem Sproß des Imperators werden die Könige und Fürsten des Imperiums folgen. Dem Blut des Gottkaisers beugen sie sich, aber gewiß niemand Geringerem. Wenn es nicht gelingt, die Erben zu retten, dann ist am heutigen Tag bei Duros Xenthos das Imperium zerbrochen.« Lorenco zog die Zügel herum. »Wir müssen durch den Arkos schwimmen und uns dann nach Norden durchschlagen.«

»Wir sollen fliehen?« fragte Laikos ungläubig.

»Erinnerst du dich an den Tag, als du vom Kaiser vereidigt wurdest? Wir haben geschworen, dem Imperium zu dienen. Wenn wir leben und Nicandrius und Genia vor den Barbaren erretten, dann erweisen wir dem Reich einen besseren Dienst, als wenn wir in den Kampf reiten und vielleicht ein Dutzend Feinde erschlagen, bevor wir selbst hingemetzelt werden.«

Lorenco gab seiner Stute die Sporen. Tausende versuchten den Hügel hinab zum Arkos zu flüchten, doch am Fluß erwartete sie eine Mauer aus Feuer. Die Leomannen hatten die Schiffe am Ufer in Brand gesetzt. Dichter Qualm trieb ihnen entgegen. Aus dem Rauch heraus schossen Bogenschützen und Schleuderer nach den Flüchtlingen. Überall lagen Tote und Sterbende, während die Masse zwischen den Flammen und den Truppen der Savannenkrieger, die inzwischen den Hügelkamm besetzt hielten, hin und her wogte. Vereinzelt versuchten Offiziere die Fliehenden aufzuhalten und zur Ordnung zu bringen, doch sie wurden in der Panik von ihren eigenen Männern niedergemacht.

Ohne Rücksicht trieb Lorenco sein schweres Schlachtroß durch die Reihen der Soldaten. An seiner Seite war Rufus, der mit der Reitgerte losdrosch, um sich Platz zu verschaffen und dabei in allen Zungen des Imperiums fluchte. Ein Stück hinter ihnen folgte Laikos.

Plötzlich war die Luft voller Pfeile. Eine Gruppe von gut dreißig Kriegern kam aus dem Rauch an den Kais gelaufen. Es waren langhaarige Männer, mit Lederschurzen bekleidet. Stilisierte Löwenfratzen schmückten ihre Schilde. Einige trugen sogar gehörnte Masken, die sie wie Ungeheuer aussehen ließen.

Ihr Anführer deutete auf Lorenco und brüllte etwas. Der Erste Ritter warf sich nach vorn und krallte die Hände in die Mähne seiner Stute, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Ein Wurfspeer mit breitem Blatt verfehlte ihn nur knapp. Er trieb die Stute voran. Mit einem Schwerthieb drosch er einen der leichten Lederschilde zur Seite und schlug in fließender Bewegung mit einem Rückhandschlag einen Schädel ein.

Lorencos Helm hallte wie eine Glocke, als ein Schleuderstein von ihm abprallte. Jetzt war Laikos an seiner Seite. Einander Deckung gebend, brachen sie durch die Reihe der Leomannen und trieben die Pferde den Kai entlang.

Immer neue Krieger tauchten aus dem Rauch auf. Pfeile umschwirrten die Flüchtlinge wie wütende Hornissen. Lorenco wußte: Sobald das erste Pferd strauchelte, wäre ihre Flucht vereitelt. Der Rauch trieb ihm Tränen in die Augen. Sie mußten in den Fluß!

Die Pferde scheuten vor den brennenden Schiffen. Lorenco hieb der Stute die Sporen in die Flanken. Das große Tier tat erschrocken einen Satz, dann rutschte es vom steinernen Kai. Die schmutzigen Fluten schlugen über Lorenco zusammen. Als sie wieder auftauchten, spuckte der Ritter prustend Wasser. Die Stute wieherte schrill. Funken prasselten auf sie nieder.

Keuchend sah der Erste Ritter sich um. Auch Rufus hatte seine häßliche Mähre ins Wasser getrieben. Er fluchte lauthals und trieb das Tier an, schnell vom Kai wegzuschwimmen. Dort oben war Laikos. Sein Hengst bäumte sich auf. Die Vorderhufe trommelten auf einen bärtigen Krieger, der dem Pferd in die Zügel fallen wollte. Aus dem Gleichgewicht gekommen, kippten Roß und Reiter seitlich ins Wasser und streiften die Bordwand eines der Schiffe.

Bogenschützen erschienen auf der Kaimauer. Lorenco drängte sich vor Rufus, um den Reitknecht zu decken, der nur eine Tunika trug. Hier unten im Wasser waren sie dem Beschuß wehrlos ausgesetzt. Laikos war im trüben Fluß verschwunden.

Die Pferde strampelten verzweifelt und gelangten langsam aus dem Bereich der brennenden Schiffe. Auf dem offenen Fluß patrouillierten einige Reitboote, die lediglich aus einem großen, mit Seilen verschnürten Schilfbündel bestanden. Jeweils zwei Leomannen saßen rittlings auf den primitiven Flußfahrzeugen. Einer trieb es mit einem kurzen Paddel voran, während der andere mit einem langen Speer Jagd auf Flüchtlinge machte, die durch den Fluß zu entkommen versuchten.

Einer der Krieger hatte Lorenco entdeckt und stieß einen gellenden Schrei aus. Mehrere Boote hielten nun auf den Ritter zu, der verzweifelt sein Pferd antrieb. Ein brennendes Schiff hatte sich aus seiner Vertäuung gelöst und trieb steuerlos in die Mitte des Flusses. Den meisten Verfolgern verlegte es den Weg. Doch eines der Boote war schon ganz nah.

Lorenco blickte über die Schulter. Der Mann, der vorn auf dem Schilfbündel kauerte, hatte einen langen rotblonden Bart. Siegessicher hob er den Speer. Der Stoß verfehlte den Ritter und traf die Stute in die Kruppe. Schrill wiehernd bäumte sie sich auf. Das Speerblatt war tief ins Fleisch eingedrungen.

Lorenco griff nach dem Schaft der Waffe und umklammerte ihn mit der Linken. Die Strömung hatte das Schilfbündelboot fast parallel zu ihm gebracht. Verzweifelt zerrte der Leomanne an der Waffe, als Lorenco mit dem Schwert nach ihm hieb. Ein breiter Schnitt klaffte im Hals den Kriegers, als er nach hinten sackte, selbst im Tod noch den Speerschaft umklammernd. Blanke Wut stand in den Augen des Mannes am Paddel. Er warf sich seitlich vom Boot in die Fluten, um außer Reichweite des Schwertes zu gelangen.

Die Kräfte der Stute erlahmten. Kaum schaffte sie es noch, den Kopf über Wasser zu halten. Ringsherum trieben Leichen. Immer mehr Flußschiffe lösten sich vom Kai und wurden von der Strömung erfaßt. Laikos und Rufus waren nirgends zu sehen.

Beruhigend redete der Ritter auf die Stute ein und strich ihr sanft durch die Mähne. Sie waren nun in der Mitte des Flusses und damit außer Reichweite der Bogenschützen.

Plötzlich griff etwas nach Lorencos Bein. Der Paddler! Er hielt einen Sicheldolch in der Rechten und versuchte den Ritter aus dem Sattel zu ziehen. Lorenco hieb mit dem Schwertknauf nach dem Kopf des Kriegers und verlor dabei das Gleichgewicht.

Ineinander verknäult versanken sie im Wasser. Im Ringkampf entglitt Lorenco das Schwert. Das Gewicht seiner Rüstung zog sie beide in die Tiefe. Der Ritter hielt das Handgelenk des Leomannen umklammert und bog es langsam zurück, während die Dolchspitze noch immer auf seine Brust zeigte. Lorencos Lungen begannen zu brennen. Immer stärker wurde der Wunsch einzuatmen. Er dachte an das Lächeln Cassandras. Sie war von diesen Barbaren ermordet worden! Und wieder übermannte schwarze Galle den Ritter. Auch wenn dies die Stunde seines Todes war, diesen Mistkerl würde er noch mit sich nehmen! Mit einer wütenden Kraftanstrengung bog er das Handgelenk des Kriegers zurück und drückte ihm den Sicheldolch in die Brust.

Wie eine dunkle Wolke quoll Blut aus der Wunde. Der Leomanne grinste. Seine Finger hatten sich in Lorencos Wehrgehänge gekrallt. Verzweifelt versuchte der Ritter sich zu befreien, doch er wurde immer tiefer hinabgezogen. Ein dunkler Schiffsrumpf glitt über ihn hinweg.

Verzweifelt kämpfte Lorenco gegen das Ende an. Stumm flehte er zu Kymo, der Inselgebärerin und Schutzgöttin seiner Familie. Seine Lungen schienen mit flüssiger Glut gefüllt. Ein Atemzug, und das Wasser des Arkos würde diesen Brand auf immer löschen.

Da schob sich etwas mit sanfter Kraft unter den Leib des Ritters. Im trüben Wasser konnte er zunächst nur einen undeutlichen Schemen erkennen. Seine Finger ertasteten glatte Haut. Lorenco wurde dem Licht entgegengehoben. Verzweifelt preßte er die Lippen zusammen und unterdrückte den immer übermächtiger werdenden Wunsch einzuatmen.

Endlich durchbrachen sie die Wasseroberfläche. Die stickige Dschungelluft erschien Lorenco köstlich wie eine frische Meeresbrise. Gierig atmete er ein, berauschte sich daran, noch am Leben zu sein. Ein graublauer Flußdelphin war sein Retter. Ein Delphin! Das Wappentier seiner Familie!

Dankbar klammerte er sich an der Rückenfinne des Tieres fest. Kymo hatte ihn erhört und für würdig befunden weiterzuleben!

Der Delphin trug ihn ein kleines Stück flußabwärts. Entlang des Ufers retteten sich Flüchtlinge an Land. Die Leomannen ließen sie ziehen. Warum auch nicht! Sie waren ein undisziplinierter Haufen, und Beute machte man am anderen Flußufer, dort, wo das Heerlager lag, und nicht bei den Jammergestalten, die froh waren, mit dem Leben davongekommen zu sein.

Der Delphin brachte ihn zu einem sandigen Uferstreifen. Lorenco erkannte Laikos, der sich über eine leblose Gestalt beugte. Ein Stich durchfuhr sein Herz, als er sah, wer dort lag. Rufus! Ein Pfeil steckte zwischen seinen Schulterblättern. Neben dem Pferdemeister stand der häßliche graue Hengst und stieß den leblosen Körper immer wieder mit seiner Schnauze an.

Lorenco ließ die Finne des Delphins los. Aufgewühlt von widerstreitenden Gefühlen, watete er ans Ufer. Welch grausames Spiel trieben die Götter! Ihn retteten sie, und zugleich kannten sie keine Gnade mit Rufus, der ihnen immer ein ehrfürchtiger Diener gewesen war.

»Er war schon in Sicherheit«, stammelte Laikos. »Er kam zurück, um mir zu helfen ...« Dem Ritter stockte die Stimme. »Er ist an meiner statt gestorben.«

»Unser Leben liegt in der Hand der Götter«, sagte Lorenco leise. »Unser Schicksal ist es, Nicandrius und Genia beizustehen. Wenn wir sie retten, ist Rufus nicht vergebens gefallen. Laß uns reiten! Die Mörder sind gewiß schon auf dem Weg.«

»Du ... du willst ihn nicht begraben?« fragte Laikos vorwurfsvoll.

Der Erste Ritter sah seinen Gefährten traurig an. »Ich trage ein Ehrenmal für Rufus in meinem Herzen. Dies wäre ihm wichtiger. Dort wird er leben, so lange ich atme. Was hier am Ufer liegt, ist nur noch ein toter Körper. Und auf dein Ritt, den wir vor uns haben, zählt jede Stunde.«

Laikos preßte die Lippen aufeinander. Widerspruch stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er sagte jedoch nichts.

Der Erste Ritter wandte sich ab, um sich dem stummen Vorwurf zu entziehen. Ganz nah, im seichten Wasser, war der Delphin. Fast schien es, als wartete er auf etwas. Lorencos Blick fiel auf die Augen des Tiers. Sie waren graublau, und rings um die Pupille lag ein goldener Kranz. Dort aber, wo er an Land gegangen war, blinkte etwas im Uferschlamm. Ohne den Delphin aus den Augen zu lassen, ging er zum Wasser zurück. Das Tier war sein Retter, aber es war ihm auch unheimlich. Ob Kymo es wirklich geschickt hatte?

Lorenco bückte sich. Im Schlamm lag sein Wappenring, den er im Gewölbe zurückgelassen hatte. Einen Herzschlag lang war er wie versteinert. Wie war das möglich? Als er wieder aufblickte, war der Delphin verschwunden.

Das Geheimnis der Gezeitenwelt

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