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Das Gebrüll des Löwen

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Im Elfenbeinzimmer des Schwebenden Palasts von Venabulae, wenig später

»Könnt Ihr uns nicht einfach in Freiheit zaubern?« Prinzessin Genias Stimme war verhalten, aber sie gab sich keine Mühe, heimlich zu tun.

Guelfos Antwort war ein unverkennbar leises Flüstern. »Nicht ohne Vorbereitungen, nicht mit dem, was uns in diesem abgeschlossenen Raum zur Verfügung steht.« Der Zauberer hatte während des Ritts von Duros Xenthos fünf Tage Zeit gehabt, sich einen Plan zurechtzulegen für den Fall, daß auch die Leomannen auf Venabulae rebelliert hätten. Immer wieder hatte er sich alchimistische Rezepte ins Gedächtnis gerufen, um Qualm oder Gestank zu erzeugen. Er wußte besser als jeder andere, wie empfindlich Leomannen auf alles reagierten, was ihnen den Atem raubte. Der Löwe in ihnen mußte brüllen. Aber sein Plan hatte wenig gebracht. Wie es aussah, hatte erst seine Nachricht Genias Leibgardisten zur Rebellion bewegt. Und den Zauber, der ihnen einen Fluchtweg durch die Reihen der Leomannen hatte schlagen sollen, hatte er an diesen selbstmörderischen Vogt verschwendet. Hatte der Mann wirklich dem Befehl Emerentias folgen oder sich doch eher bei den Siegern beliebt machen wollen, indem er die letzte Prinzessin erschlug? Welch eine sinnlose Tat, welch ein sinnloser Tod ...

»Aber Ihr habt Geister bezwungen und das Flußpferd Behemoth ...«

Der leomannische Kaiserpriester sah sich in dem quadratischen Raum um: Die Türflügel mit den Elfenbeinschnitzereien waren von außen verriegelt, die Fenster zu hoch, um an Flucht auch nur zu denken. »Ja«, seufzte er, »magische Kreaturen. Doch gegen leblose Wände und versperrte Türen bin ich machtlos.«

Die Prinzessin blickte gedankenverloren auf die geschnitzten Elefanten mit der Krone auf dem Rücken. Ihr Lehrer hatte sie zu jener Zeit, als sie sein Schützling gewesen war, oft vor Gemälden von Tieren oder Blumen vorgefunden, wenn sie wieder einmal versucht hatte, sich Hofzeremoniell und Unterricht zu entziehen. Genias Amme saß im Hintergrund, die Hände im Schoß, bisweilen mit ihren alten Kiefern schmatzend.

Guelfo lugte aus dem schmalen Glasfenster auf den Hof und bemühte sich, selbst nicht gesehen zu werden. »Es hat den Anschein, als vertrüge sich Euer Falkner mit den Leomannen.« Seine Gedanken rasten. Er mußte einen Überblick darüber gewinnen, wer dort draußen zu welcher Partei gehörte: die Rebellen, die Verräter, die Überläufer, die Getreuen.

»Der Burgvogt«, wisperte Genia ungläubig, »meine eigene Leibgarde.« Ihre Augen hoben sich hilfesuchend. »Und selbst Rygus. Ich vertraute ihm Tag für Tag mein Leben an, wenn ich ausritt.«

»Habt Ihr mit ihm gesprochen, Hoheit?« Guelfo wandte sich zu der Prinzessin um. »Wißt Ihr, was dieser Mann dachte, wenn er vor Euch durch den Wald ritt?«

Genia schwieg betreten.

Für die da draußen, dachte Guelfo, ist sie eine Prinzessin – nichts sonst. Ein Symbol, eine Verpflichtung, eine Trophäe vielleicht.

Was hatte er selbst gedacht, als er fortgerannt war, hinter sich das Gemetzel am scharlachroten Zelt, rings um sich aus den Wäldern brechende Horden von Leomannen, noch tropfnaß von der Durchquerung des Flusses? Er war gewiß nicht der erste gewesen, der sich ein Pferd genommen hatte und davongaloppiert war – eher einer der letzten. Er war wohl der erste gewesen, der an die ungehorsame Prinzessin gedacht hatte, deren Verbannung sie das Massaker an ihrer Familie hatte überleben lassen. Aber vermutlich war er auch in dieser Hinsicht nicht der einzige gewesen ...

Welch dumme Entwicklung: über hundertachtzig Meilen zu reiten, um die Prinzessin zu befreien, und nun selbst mit ihr in Gefangenschaft zu harren.

»Gibt es eine Schließerin, eine Schaffnerin oder dergleichen? Der Palastvogt trug doch gewiß nicht alle Schlüssel bei sich, oder?«

Genia schüttelte hilflos den Kopf. »Ich kenne die Dienstboten von Venabulae doch kaum.«

Der Zauberer stellte weitere Fragen, tastend wie eine Hand, die eine Wand nach einer Geheimtür absucht. »Wenn der Falkner also ausfällt: Habt Ihr da draußen einen jungen Edelknaben, der euch ergeben ist? Einen Steigbügelhalter?« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Euer Vorkoster? Schleppenträger? Wedelsklave? Wer schminkt Euch? Eine Lieblingssklavin, die uns vielleicht helfen würde?« Warum sollte sie, dachte er bitter. Auch er, Guelfo, war in der Savanne mit Menschen aufgewachsen, die seinem edelblutigen Vater rechtlos unterworfen gewesen waren – aber kein Leomanne hätte sie als Besitz bezeichnet.

Es war erschreckend, wie wenig die Prinzessin über die Menschen zu sagen hatte, die sie umgaben und ihr ein Leben in Luxus und Tatenlosigkeit ermöglichten – und dabei fragte Guelfo ohnehin nicht nach den einfachen Näherinnen, Gärtnern, Wasserträgern und Maultiertreibern, die dieses Ungeheuer von einem Palast am Leben erhielten.

»15 Monde!« Guelfo zog einen der kunstvoll geschnitzten weißen Stühle heran und setzte sich der Prinzessin gegenüber. »Ihr seid zu einer berückend schönen Jungfrau herangewachsen.« Er hatte sich in den letzten Monden oft in der Nähe ihrer Schwester aufgehalten, wenn er seine laute Leomannenstimme für den Imperator erhoben hatte. Wie verblüffend ähnlich zwei Gesichter sein konnten – und wie unterschiedlich der glutvolle Blick. Ebenso der Duft: Die Schwester hatte gerochen wie eine mit Blumen und Gewürzen überschüttete Antilopenstute; Genia hingegen umgab ein unschuldiger Hauch erblühender Rosenknospen.

Die Prinzessin lächelte höflich, dann wurde ihr Mund trotzig. »Ihr habt mich einfach verlassen.«

Der Zauberer lächelte zurück. »Die Berufung zur Stimme des mächtigsten Mannes der Welt lehnt man nicht ab.« Vor allem nicht, fügte er in Gedanken hinzu, wenn man der einzige Leomanne ist, der jemals zum Kaiserpriester geweiht wurde. Wofür eine Liebschaft mit der gelangweilten Gattin eines Priesters doch gut sein kann ...

Vom Korridor hörte man das Kreischen eines Mädchens. Guelfo lauschte mit zusammengekniffenen Augen.

»Glaubt Ihr, daß sie meinen Sklavinnen ... Gewalt antun?« Genias Miene war gefaßt. Also doch Mitgefühl, dachte Guelfo grimmig; diesem Kind fehlt nur das Wissen.

»Noch vor einer Woche hätte ich nicht für möglich gehalten, daß jemand einer Dienerin der kaiserlichen Familie auch nur zu nahe tritt. Aber ich hätte auch nicht für möglich gehalten, daß jene Männer, die Seine Illuminiszenz, Euren kaiserlichen Vater, ein Dutzend Mal mit ihrem eigenen Leib vor Geschossen und Dolchen von Attentätern beschützt haben, plötzlich ihre Waffen gegen seinen unantastbaren Leib richten körnten.« Ebenso, fügte er in Gedanken hinzu, wie ich manche Ankündigung des Imperators nicht für möglich gehalten hätte, ehe ich sie selbst weitergab. Und dabei hatte er den Kaisergott stets nur in der Öffentlichkeit erlebt und nicht inmitten seiner Könige, Heerführer und Berater, wenn er seine wirklich gefürchteten Befehle erteilt hatte.

Was für eine schmutzige Welt!

Wieder stand der großgewachsene Zauberer auf, trat zu dem schmalen Glasfenster und blickte in den Hof. Eine Weile lauschten die beiden Gefangenen noch, doch auf den Gängen wurden keine Geräusche mehr laut. Guelfos unruhiger Blick fiel auf die Tierstandbilder, die das Elfenbeinzimmer beherrschten: weiße Elefanten, welche die Abbilder der Elfenbeinkrone bewachten. In Elephantinos hatte Guelfo vor fünfzehn Jahren erstmals den Fuß auf imperialen Boden gesetzt. Wie viele Menschen hatten wohl ihr Leben lassen müssen, damit allein dieses Königreich zum Imperium gehörte?

»Wie starben meine Geschwister?«

Der Mund des Orators zuckte.

»Grausam, aber schnell. Ziemlich schnell, so hoffe ich.« Er griff nach seinem an der Wand lehnenden Sternenstab und drehte ihn zwischen den Fingern. Dann nahm er erneut der Prinzessin gegenüber Platz und betrachtete sie. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß dieser Angriff ohne Planung und Vorbereitung geschah, aber er machte allen Anschein eines plötzlichen ... Blutrausches.« Nach dem letzten Wort in der lingua regia hatte er suchen müssen. Liwaskergangr nannten es die Leomannen, wenn sich Menschen in Tiere verwandelten. Aber ein leomannisches Wort in dieser Situation erschien ihm wie ein Frevel.

»Ihr wart also kein Zeuge?«

Der Kaiserpriester lachte humorlos. »Es gibt keine Zeugen. Niemand, der im Morgengrauen näher als hundert Schritt am Dormon weilte, hat überlebt.« Das war übertrieben. Aber die Brutalität, mit der die Gardisten in ihren blutgetränkten Tuniken aus dem Zelt gestürmt waren und umstehende Edelleute und Dienstboten niedergemacht hatten, hatte etwas Wahlloses gehabt. Niemand konnte so schnell entscheiden, wie nahe eine von tausend Personen dem Imperator stand. Guelfo jedenfalls hatte nicht abgewartet. Er hatte getan, was er seit seiner Jugend angesichts tobsüchtiger Leomannenkrieger stets getan hatte.

»Und meine Schwestern? Hat man ihnen ... Gewalt angetan?«

Das arme Mädchen, dachte der Kaiserpriester. So wenig sie es in all den Jahren für nötig befunden hatte, in die Köpfe ihrer Mitmenschen zu blicken, so sehr verstieg sie sich nun darin. Was sollte er der jungen Prinzessin antworten?

Guelfo sprang wieder auf und sprach, während er auf und ab ging wie ein in die Enge getriebenes Tier. »Hoheit, für derartige Begierden war weder Raum noch Zeit.« Auch das entsprach nicht der Wahrheit. Er hatte schon von Männern gehört, die einen Sieg so feierten – an lebenden oder toten Frauen. Aber das war es nicht, worum es bei diesem Massaker gegangen war.

»Hoheit«, er rang nach Worten, »Ihr müßt verstehen, was in Duros Xenthos geschah. Ihr müßt verstehen, was Euer Vater war – und ist. Der Imperator ist das Licht des Reiches. Wer die drei Kronen trägt, ist ein Gott. Und einer seiner Nachfahren ist der zukünftige Kaisergott. Dies versieht die gesamte Familie, das Blut des Kaisers, mit einer Aura der Unantastbarkeit.«

Welch ein sinnentleertes, größenwahnsinniges Gewäsch, dachte er bei sich. Die ›Unantastbarkeit‹ hatte sich unter Hacken und Schneiden ins Gegenteil verkehrt. Genia lauschte, die Hände im Schoß, wie bei einer seiner Lektionen – aber ihr Gesicht verriet Verwirrung und Qual.

Guelfo wühlte in seinem Zauberwissen, das er noch nie mit jemandem geteilt hatte. Das Mädchen mußte verstehen. Er wollte, daß sie verstand – für das, was kommen würde.

»Für diese Männer war Eure Familie ein lebender Mythos. Dieses Wort beschreibt etwas, vom dem man weiß, daß es existiert, obwohl man es noch nie gesehen hat. Wie die Götter oder die Geister der Vorfahren.«

Guelfo ging vor der Prinzessin auf die Knie und widerstand dem Bedürfnis, ihre Hände zu umfassen. »Es braucht sehr viel Mut, solch einen Mythos anzugreifen. Sehr viel Zorn. Sehr viel Schmerz.« Hastig sprach er weiter: »Diese Männer müssen sehr zornig gewesen sein. Da war kein Platz für Gier und Lust.«

»Aber welchen Grund hatten sie, zornig zu sein? Das Haus Gratianus war immer gut zu den Tausend Gefährten. Ihr selbst, Guelfo, habt mir erklärt, wie sehr wir die anderen Familien des Adels brüskierten, indem wir uns Barbaren als Garde wählten. Barbaren, die uns gegen unsere eigenen Verwandten und Vasallen beschützten, gegen ihre Dolche und Intrigen und Gifte.« Ihre Augen schimmerten feucht. »Barbaren aus der tiefsten Savanne. Halbwilde, die zu Hause in Tierfelle gehüllt umherlaufen und womöglich Menschen fressen. Wir haben ihnen unser Vertrauen geschenkt. Und sie fallen über uns her wie Bestien ...«

Guelfo erhob sich ruckartig, ging zum Fenster und redete sich ein, daß er den schmalen Ausschnitt des Palasts im Auge behalten mußte.

Einige Stunden später erklang Hufgetrappel. Guelfo blickte auf den Hof.

»Bei den Rätseln der Sphinx, da sind sie schon!« Seine Stimme war rauh.

Genia erhob sich, und ihre Anmut machte die Angst in ihrem Gesicht doppelt schmerzhaft. »Was werden sie mit mir tun?«

Guelfo behielt die Ankömmlinge im Auge, obwohl ihm Genias Angst fast das Herz zerriß. Markige Befehle und Waffenklirren drangen herauf, dann waren leichte Schritte auf den Marmorfliesen zu vernehmen. Keine Stiefel – die Ankömmlinge waren barfuß ...

»Er geht kein Risiko ein«, sagte Guelfo mit widerstrebender Anerkennung. »Er verteilt seine Männer, obwohl ihm der Anführer Eurer Garde die Schlüssel übergeben hat.«

»Guelfo!« Genias Stimme war ganz nah. Sie hatte die Hände erhoben, um nach seinem Arm zu fassen, aber sie war eine Prinzessin – noch. »Guelfo, wenn Ihr wirklich zaubern könnt, dann tut es jetzt.«

Er sah ihr in die Augen und versuchte in seinem Gewirr aus Stolz, Ehrgeiz, Zynismus und eigener Angst irgendein Gefühl zu finden, auf das er sich stützen konnte. Schließlich zog er eine Gurunuß aus der Tasche und zerbiß sie. Die bittere Stärke erfüllte seinen Hals und Nacken.

An der Tür rumorte es, dann knirschte der große Bartschlüssel im Schloß.

Beide Flügel flogen auf, von ausgestreckten Armen herrisch beiseite gestoßen. Der Hüne trat ein wie ein Löwe, der von erfolgreicher Jagd zu seinen Bäumen zurückkehrte und bereits wieder Hunger verspürte. Ein maliziöses Lächeln spitzte die Oberlippe inmitten des dunkelblonden Vollbartes. Natürlich trug er ein Löwenfell über der Rüstung, den Kopfpelz mit dem Maul über der eigenen Mähne.

Seine barfüßigen Schritte führten ihn unnötigerweise in die Mitte des Elfenbeinzimmers, ehe er sich den beiden Gefangenen am Fenster zuwandte. Weitere Krieger seines Schlages drängten sich am Eingang.

»Prinzessin!« bleckte der Recknir die Zähne. Die Kriegsbemalung machte daraus das Zähnefletschen eines Raubtiers am Ende einer langen Jagd. Sein Akzent war schwer, selbst bei diesem einzelnen Wort. »Und Ihr seid der Priester!«

Guelfo fühlte, wie ihn der Blick ins Innerste traf. Er war fünfzehn Jahre älter als dieser junge Krieger, aber in seiner Erinnerung war er halbwüchsig, als er das letzte Mal zu einem Löwentöter aufblickte.

»Und wer seid Ihr, Fremder?« Genias Stimme in vornehmster lingua regia war von makelloser Würde.

Der Leomanne warf den Kopf zurück und lachte brüllend. Sein spitzer Adamsapfel tanzte über dem protzigen Goldschmuck. »Ich bin Hrodger Manwari«, grinste er zufrieden. Doppelname, dachte Guelfo, er hatte sich also zweimal in der Leomanning bewiesen. Aber es gab ohnehin keinen Anlaß zum Zweifel, daß dieser Mann mit seinen eigenen Händen nicht nur den Löwen getötet hatte, dessen Haut er trug.

»Priester«, fuhr er fort, »ich muß mit Euch sprechen.« Er legte die Rechte, zur Kralle geformt, auf seinen Brustpanzer. Guelfos Herz verkrampfte sich: der Löwengruß!

Zwei Krieger eskortierten Guelfo, als er Hrodger folgte. Der Geruch! Er schloß die Augen und sog die Ausdünstungen der drei Leomannen ein: männlicher Schweiß, sonnengegerbte Felle, halbwilde Pferde, Öl und Säfte der Kriegsbemalung, der würzige Duft von gebratenem Fleisch. Wie fremd ihm doch im Grunde die Parfüms und Tuche waren, die ihn seit nahezu zwanzig Jahren umgaben.

Sie führten ihn in die kleine Bibliothek, einen gediegen eingerichteten Raum, der anscheinend wenig benutzt wurde. Der Löwentöter baute sich vor ihm auf. Seine zwei Krieger blieben nahe der getäfelten Tür stehen.

»Mir ist zu Ohren gekommen, daß Ihr Guelfo heißt.« Man hörte, daß er die lingua regia selten und ungern sprach. »Ein Name aus meiner Sprache. Der Palastvogt sagt, Ihr habt einen leomannischen Vater.«

»Einen leomannischen Vater und eine leomannische Mutter.« Guelfos Stolz war schneller aufgeflammt, als ihm lieb war. »Ich gehöre zum Stamm der Hrochnir, südlich der Urassagundir und Gautamannen.«

»Unzählbar sind die Stämme des Löwen.« Hrodger sprach nun leomannisch, und die weit ausladende Geste seiner Hände drückte Großzügigkeit aus. Natürlich. Niemand kannte die Hrochnir. Deswegen hatte der junge Leomanne sie damals ja verlassen. »Guelfo ... du bist ein Priester des Imperators?« Im Leomannischen gab es nur die offene, ebenbürtige Anrede.

»Ja.« Der Orator blieb hei der Sprache des Imperiums. Er war froh, den Sternenstab zu haben, um sich daran festhalten zu können.

Hrodgers Augen verdunkelten sich leicht, aber seine Miene blieb friedfertig. »Was gehört zu deinen Pflichten?«

»Ein Priester des imperialen Kultes verkündet die unbedingte Göttlichkeit des herrschenden Sprosses des Hauses Gratianus. Das Licht ist in ihm, und des Reiches Licht ist er.«

»Der Herr des Hauses Gratianus ist tot.« Der Triumph war unüberhörbar. Der Hüne betrachtete den kostbaren Wandteppich mit der Blutlinie des Kaisers. »Du trägst sein Gesicht auf deinem Gewand. Warst du ... täglich an seiner Seite?«

Diesem Löwenjäger aus der Savanne war nicht klar, wie riesig der Hofstaat war, den er angegriffen hatte. Und getötet. Guelfo verging das überhebliche Lächeln.

»Ich gehörte nicht zu seinen Leibpriestern, und das Hofzeremoniell verbot mir, mich ihm auf Reichweite eines Speerwurfs zu nähern.«

Bis vor zwei Jahren war das die Wahrheit gewesen. Aber Guelfo hatte nicht vor, sich selbst auszuliefern und zuzugeben, daß er es gewesen war, der die Worte des Imperators hinausgebrüllt hatte, wenn die Menge der versammelten Edelleute unüberblickbar gewesen war. Falls die Leomannen ihn folterten, wollte er noch etwas zu gestehen haben; das mochte ihm das Schlimmste ersparen.

»Das geschieht«, sagte der leomannische Edle nachdenklich, während er den Kopf in den Nacken legte, um das Porträt von Gratianus dem Großen auf dem Teppich zu betrachten, »wenn ein Herrscher nicht mehr das Ainari seiner Krieger hat.« Ja, ein leomannischer Herzog mußte sich täglich die Achtung und das Vertrauen der Männer verdienen, die ihn gewählt hatten. »Hat sein Gesicht wirklich geleuchtet?« Die Neugier klang echt.

Du Barbar, dachte Guelfo. Du kannst ihn umbringen, aber seinem Mythos erliegst du trotzdem. »Für einen Zauberer war das Antlitz des Imperators hell wie der Mittag, aber jeder Sterbliche ahnte das Licht seines Blutes.«

Hrodgers Blick war nicht zu deuten. Er wandte sich dem gegenüberliegenden Regal zu, in dessen rautenförmigen Fächern Schriftrollen gestapelt waren. Konnte es ein, daß ihm das Wort Zauberer in der lingua regia nichts sagte?

»Und die drei Kronen auf deinem Gewand? Hast du sie täglich gesehen?«

»Die drei Kaiserkronen sind viel zu mächtig und schwer. Selbst ein Gott wie der Imperator trägt stets nur eine Krone.«

»Welche trug er?« Der Löwentöter zog eine Schriftrolle aus dem Regal und roch daran.

»Das alte Hofzeremoniell besagt, daß der Imperator sich die Corona jenes Reiches reichen läßt, dem er gerade Befehle erteilt.«

»Dann muß er die Kronen häufig gewechselt haben.«

Guelfo mußte unwillkürlich lachen. Der Mann hatte Humor. »Ja, das hat er.«

»Und die anderen zwei Kronen?« Der Leomanne griff mit kindlicher Neugier nach einem kostbar verzierten Zirkel zur Vermessung der Sterne. »Was geschah mit denen, die er nicht trug?«

Eine Falle. Guelfos Instinkt, der noch in der Jugend in der Wildnis geschärft worden war, ließ ihn zögern. Die gemalten Löwengesichter der beiden Krieger an der Tür waren undurchdringlich. Sie hatten den gleichen leidenschaftlichen Mund und wirkten wie weniger durchsetzungsfähige Abbilder Hrodgers. Auch das hatte er vermißt: im Imperium wurde Gefolge stets vor die Tür geschickt. Doch die beiden Krieger waren enge Verwandte, und ein Leomanne hatte vor seinem Schlag keine Geheimnisse.

Besprachen sie hier eben Geheimnisse?

»Drei Könige bewachen die Kronen«, erklärte Guelfo. Das war Teil des Mythos, das sollte eigentlich jeder Untertan und jeder Feind des Imperators wissen. »Das Imperium ist so groß, daß der Imperator seit den Zeiten Gratianus' des Großen von einem Königreich zum nächsten zieht – mit seinen Edelleuten und seinen Rittern.« Dieser Umstand klang nicht mehr so beeindruckend, wo die Ritter nun tot im Schlamm von Duros Xenthos lagen. »Stets begleiten ihn der König, den er zuletzt verließ, der König, den er besucht, und der König, den er als nächstes besuchen wird.«

»Muß schwer gewesen sein, all diese Könige ständig im Auge zu behalten«, meinte Hrodger sarkastisch. »Aber das war ja wohl der Gedanke, um all diese Länder beherrschen zu können.«

»Das war die Idee«, bestätigte Guelfo. Sie sprachen noch immer verschiedene Sprachen, der Leomanne und ... der Leomanne.

»Zwei der Könige sind ebenfalls tot.« Ja, sie waren mit dem Mann gestorben, der zugleich ihr Herr, ihr Oheim, ihr Vetter und ihr Schwiegervater gewesen war. Die Inzucht im Kaiserhaus hatte bisweilen skurrile Ergebnisse gezeitigt. Der König von Gratiandien, so der Kalauer bei Hofe, war sein eigener Stiefvater gewesen.

»Die Krieger der Tausend Gefährten übergaben uns die Rosenkrone und die Elfenbeinkrone. Sie waren ein wenig besudelt, fürchte ich. Guelfo, du weißt nicht zufällig, wo die Adlerkrone des Nordens ist?«

Beim Gemächt des Löwen, dieser Hrodger war kein satter Löwe, sondern ein raffinierter Schakal! Ein Schakal auf einer Fährte!

»Selbst wenn ich es wüßte, warum sollte ich es dir sagen?« Der Kaiserpriester machte sich nichts vor: das war ein Verhör. Hrodgers Finger spielten mit bedrohlicher Geläufigkeit um den goldverzierten Knauf des Schwertes an seiner Hüfte. »Und ich weiß es nicht«, ergänzte Guelfo. »Ich ging bis eben davon aus, daß ihr den imperialen Kronschatz vollständig erobert habt ... nachdem ihn euch die treue Leomannengarde auf einem blutigen Leichentuch servierte.«

Unter den Löwenhäuten der beiden Krieger zeichnete sich eine leise Bewegung ab.

»Ja, es macht uns keine Ehre, daß wir diese Schlacht durch einen so schändlichen Totschlag unserer Brüder gewannen. Doch sie haben uns blutig und vorzeitig etwas geliefert, was uns ohnehin bestimmt war.« Hrodger straffte sich. »Die Welt, die Aionar uns verheißen hat, wird entstehen; niemand mehr kann das verhindern. Die grausamen Tyrannen und ehrlosen Könige dieser Welt fallen vor uns wie der räudige Ur vor dem Löwen.«

»Ist es das, was euch eure Runenwerfer erzählt haben? Ist es das, was die Tausend Stämme geeint hat und wie ein Rudel tollwütiger Hyänen über die Völker nördlich der Savanne herfallen läßt?«

»Du hast ihn nicht gesehen! Es sind nicht die Runenwerfer, die gesprochen haben. Aionar ist keiner dieser schwächlichen Götter, die aus verzauberten Grotten oder berauschten Priestern sprechen.« Er ballte die Faust. »Er ist an unserer Seite!«

»Aionar? Der himmlische Löwe?« Der Name war Guelfo unbekannt, aber auch die Hrochnir hatten einen Gott in Löwengestalt.

»Der Löwe mit dem Silberhaar«, war Hrodgers Antwort. »Der die Macht hat. Der alle Kraft allein besitzt. Der, dessen Kriegspläne und Jagdlisten wahr werden. Der Kinder zu Männern macht und Männer zu Löwen.«

»Der alte Löwe? Der Löwenvater? Oder der Beschützer der Krieger? Der Herr der Herden? Unsere Stämme habe so viele Götter, die einander ähneln.«

»Es gibt nur einen einzigen Löwengott. Es gibt nur einen Gott, der würdig ist, angebetet zu werden. Er ist ohne Ende wie die Savanne, ohne Ende wie die Stämme.«

»Nennt ihr ihn deswegen Aionar? Aion – die Unendlichkeit? Ein Begriff aus der kurjamäischen Sprache für einen leomannischen Gott?«

»Es ist der Name, den ihm die Stämme gaben. Gemeinsam. Aionar hat die Blutrache unter den Stämmen beendet. Wir sind alle Brüder, und Aionar ist unser Gott.«

Auch die beiden anderen Leomannen standen jetzt entspannt, als zehrten sie von einer inneren Kraft.

»Und du hast ihn gesehen?«

Der hünenhafte Leomanne lachte ein Löwenlachen und drehte sich im Kreis, die Arme ausgestreckt. »Wir haben ihn alle gesehen.« Auch seine Vettern strahlten.

»Wie ... erscheint er?« Guelfo bemerkte nicht, daß er nun leomannisch sprach. »Im Traum? Im Blutrausch?«

»Du hast immer noch nicht verstanden. Ich habe an seiner Seite gekämpft. Er ragt auf wie der Löwe über die Welpen.«

»Jeder seiner Prankenhiebe trifft einen Feind«, stieß kehlig der linke der beiden Krieger aus.

»Doch Aionar kämpft nur gegen Götter«, fügte der andere hinzu. »Und er hat noch nie verloren.«

»Er ist leibhaftig?«

»Aber natürlich«, brüllte Hrodger vor Stolz. »Ihr werdet ihn alle sehen. Ihr hättet ihn auch am Arkos gesehen, wenn er nicht im Süden gekämpft hätte. Er hätte euren Imperator mit eigenen Händen erwürgt, doch der war ein minderer Gott. Und im Süden wartet die Sphinx auf ihn und die Stadt, die sie gebiert.«

»Die Sphinx? Er wird mit der Sphinx kämpfen?«

Das Glänzen der ummalten Augen war Antwort genug.

Bei den Pranken des Löwen, sie kämpften auch unten am Leonîl! Was trieb die Savannenvölker voran? »Ich habe die Sphinx gesehen. Sie ist riesenhaft. Und sie kennt die Antwort auf jede Frage.«

»Dann weiß sie ja, was ihr bevorsteht«, lachte Hrodger, und seine Vettern grölten mit.

»Wie viele Götter hat ... Aionar getötet?«

»Aionar tötet nicht«, antwortete Hrodger überrascht. »Er hat sie im Zweikampf bezwungen, einen nach dem anderen. Und dann hat er sie in sich aufgenommen. Es waren Hunderte. Weißt du, wie viele leomannische Stämme es gibt? Aber Aionar tötet nicht mehr – er befreit. Und die Besiegten werden Brüder der Sieger.«

Das Geheimnis der Gezeitenwelt

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