Читать книгу Das Geheimnis der Gezeitenwelt - Magus Magellan - Страница 5

Prolog

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»Und das hier?« fragte die jüngere der beiden fettleibigen Frauen und drehte einen kleinen blauen Stein zwischen den Fingern.

Seitdem Varatreo ihr und ihrer Schwester hatte weismachen können, die Glassteinchen mit dem aufgeschmolzenen Blattgold seien Klümpchen reinen Goldes, hatte er jegliche Hemmungen abgelegt. Dennoch wollte er nicht völligen Unsinn von sich geben. Schließlich war das Ganze längst kein Spiel mehr, sondern eine Frage von Leben und Tod.

Varatreo betrachtete das blaue Steinchen, das die Frau aus dem Mosaik gebrochen hatte. Soweit er wußte, stammte die Farbe der Glasur tatsächlich von einem zerstoßenen Edelstein. Welcher war es bloß? Amethyst? Beryll? Aquamarin? Das klang gut!

»Es ist ein Aquamarin!« log er andächtig.

»Kenn ich nicht«, antwortete die Frau und besah das Steinchen, als wäre es bloß ein Klumpen Dreck.

»Man findet ihn nur am Meer«, schwindelte Varatreo. »Er wird dort an den Strand gespült und von den Fischern eingesammelt.«

»Ist er wertvoll?«

»Sicherlich. Dafür bekommst du einen Schleier, wie ihn die reichen Frauen in Maganta tragen. Hauchdünner Stoff, fast durchsichtig.« Er merkte sogleich, daß sie mit der Erklärung nichts anzufangen wußte. Flor oder zerschlissenes Leinen – für diese dumme Gans und ihre Schwester war das ein und dasselbe. Er verbarg ein Lachen. »Für ein Aquamarinsteinchen bekommst du mindestens zwei fette Gänse.«

Das verstand sie! Entschlossen setzte die Frau ihr Zerstörungswerk fort. Blaue, rote und goldene Blättchen schossen durch die Luft, als sie erneut mit dem faustgroßen Stein auf die Mosaiken einschlug, mit denen die verlassene Basilika des Abwesenden Gottes ausgeschmückt war. Viel war von ihnen sowieso nicht mehr übrig geblieben. Die Jahrzehnte, in denen das Gotteshaus leergestanden hatte, hatten ihren Tribut gefordert. Was die steinernen Wandbilder einst dargestellt hatten, war kaum noch zu erkennen. Hier eine einzelne Hand mit einer Locke – zweifellos Teil eines Bildnisses der Hochheiligen Sarmantha –, dort ein Kopf mit Helm. Vielleicht der heilige Malachias, vielleicht auch jemand anderes. Die Kirche Aionars kannte viele wehrhafte Heilige.

Varatreo zwang sich dazu, sich wieder mit dem Naheliegenden zu beschäftigen. Selbst wenn die einfältigen Geschöpfe bis zum letzten Mosaiksteinchen glaubten, Gold und Edelsteine von den Wänden zu schlagen, hätte er damit sein Leben nicht gerettet. Mutter wäre mit dem vermeintlichen Schatz nicht zufrieden! Er mußte bald eine Möglichkeit finden, ihr und ihrer Brut zu entkommen.

Zum tausendunderstenmal verfluchte sich Varatreo. Wegen ein paar Bechern scharfen Schnapses hatte er sich in diese Lage gebracht. Um die zu erschnorren, hatte er in der Schenke geprahlt, wie weitgereist, gebildet und welterfahren er sei, und als Beweis eine seiner erfolgreichsten Lügengeschichten zum besten gegeben: die von der verlassenen Stadt mit dem Tempel voller Gold. Wer hatte auch ahnen können, daß es zwei Tagesmärsche entfernt einen verlassenen Ort gab, auf den seine Beschreibung annähernd zutraf? Wer hätte ahnen können, daß zwei der Gimpel, die ihm zuhörten, jedes Wort vollkommen ernst nähmen?

Varatreo hatte das und noch viel mehr erfahren, als er Stunden später mit dröhnendem Schädel und einer riesigen Beule das Bewußtsein wiedererlangt und Mutter kennengelernt hatte: ein Weib, halb so schwer wie ein Ochse und doppelt so reizbar wie ein Stier! Sie und ihre zehnköpfige Brut hatten ihn in dieses seit mindestens hundert Jahren aufgegebene Städtchen geschleppt, auf daß er ihnen die Schätze zeige. Aber hier gab es keine! Hier gab es nur leerstehende Häuser, und das zuhauf. Mutter würde arg enttäuscht sein, wenn sie das erst einmal begriff.

Eine der Frauen schrie auf. Blut lief ihr über die Stirn. Ihre Schwester hatte ihr erbost mit dem Stein auf den Kopf gehauen, nachdem sie von einem der durch die Luft schwirrenden Mosaikplättchen getroffen worden war. Unverzüglich fielen die beiden übereinander her. Sie kratzten sich, hieben aufeinander ein und wälzten sich ineinander verkrallt über den Boden. Welch günstige Gelegenheit, dachte Varatreo. Die beiden waren beschäftigt. Wie er wußte, räumten mindestens sechs ihrer Brüder Schutt aus den Kellergewölben der Basilika. Blieben also höchstens noch zwei übrig ...

Varatreo schlich zum Eingang, spähte hinaus und rannte so schnell er konnte davon: vorbei an eingeschossigen Häuschen aus unbehauenen Steinen, die mit Schiefer gedeckt waren. Man sah ihnen auf den ersten Blick gar nicht an, daß sie schon so lange leerstanden. Einst hatten sie mindestens tausend Menschen als Zuhause gedient. Was war aus den Bewohnern geworden? Warum waren sie weggezogen? Der Ort mußte einmal sehr wohlhabend gewesen sein. Die Straßen waren sogar gepflastert. So etwas gab man nicht ohne weiteres auf! Hatte eine Krankheit die Bewohner dahingerafft, oder waren sie vor einem Kriegsherrn geflüchtet? Das Spießland war ein unruhiges Land. Viele hatten Varatreo gewarnt, als er vor gut vier Wochen erwähnt hatte, daß er hindurchreisen wolle.

Meide dieses schreckliche Land! hatten sie ihm geraten. Dort wohnen nur böse Leute! Er hatte es nicht glauben wollen, hatte standhaft beteuert, ein Land voller Bösewichte gäbe es nicht. Unsinn! Natürlich gab es das! Jetzt wußte er es. Alle hatten recht gehabt. Alle bis auf ihn.

Varatreo lauschte dem Klatschen seiner Sandalen. Er wunderte sich, wie spärlich Gras und Keimlinge in den Fugen zwischen den Pflastersteinen wuchsen. War der Boden so schlecht, oder sorgte heimisches Getier dafür, daß der Bewuchs niedrig blieb? Vielleicht Ziegen?

Sein erster Fehler war diese Reise gewesen, dachte Varatreo grimmig, aber nicht sein letzter! Der war es, durch das Bergland von Enostasia zu wandern. Wieder hatte er alle Warnungen in den Wind geschlagen, sogar mit gewitzelt, als jeder gespottet hatte: Willkommen in den Bergen, wo der Schnaps blendend schmeckt und auch so wirkt und jeder Jüngling zu seiner Liebsten Schwester oder Mammi sagt! Enostasia, Inzuchtasia! Ja, ja, wie lustig hatte das aus der Ferne geklungen!

Aus der Nähe aber nicht mehr, wenn man überall dieselben leeren Gesichter um sich hatte, derselben verbissenen Wortfaulheit ausgeliefert war und demselben lauernden Schweigen. Vor drei Tagen hatte Varatreo am Eingang eines Dorfes einen Mann ausspucken sehen. So weit er blicken konnte, hatte das jeder Mann im gesamten Dorf fast gleichzeitig ebenso gehalten. Ganz genau dieselbe Bewegung. Und wenn er Mutters Brut betrachtete, so legten auch ihre Söhne und Töchter beredtes Zeugnis ab. Angeblich stammten sie von sechs verschiedenen Vätern. Das sah man nicht.

Allerdings, räumte Varatreo ein, hatte er gar keine Wahl gehabt, als den Weg über Enostasia zu nehmen, nachdem dieses Land voll bösartiger Menschen von einem Tag auf den anderen wahnsinnig geworden war. Binnen einer Woche hatte ein kleiner Priester den höchsten Würdenträger der Aionarskirche ermordet, sich an seine Stelle gesetzt und verkündet, ein Zeitenwandel stehe bevor. Die Bauern hatten sich erhoben und lieferten sich seither blutige Schlachten mit den Heeren des Adels. Oft erfolgreich, da sie nach Landessitte kaum schlechter bewaffnet waren als deren Spießträger und Speerwerfer. Man sprach von Zehntausenden Toten. Angeblich brannten ganze Städte, und Fische waren aus den Flüssen gesprungen, weil ihnen zuviel Blut im Wasser war.

Die einzige Begründung, die Varatreo für dieses Aufflackern von Gewalt gehört hatte, war der Verweis auf den neuen Stern, der vor kurzem entdeckt worden war. Wie konnte ein einzelner Stern ein ganzes Land in Unordnung stürzen? Am Nachthimmel hingen unzählige Sterne. Wer hatte sie je gezählt? Wer konnte guten Gewissens bezeugen, daß nicht jede Nacht ein Stern verschwand oder hinzukam? Wie konnte man deswegen nur so viel Aufhebens machen?

Gewiß, anders als andere Sterne wurde der neue Nacht für Nacht ein wenig heller und größer. Inzwischen war er sogar schon bei Tag zu sehen. Wenn das so weiterging, würde er in zwei Wochen der Sonne den Himmel streitig machen und ihn in zwei Monden ganz ausfüllen. Doch wenn es heute zu regnen begönne und nie wieder aufhörte, wäre in zwei Monden trockenes Brennholz ebenfalls ein nebensächliches Problem ...

Varatreo hörte ein Meckern. Aha, die Ziege, dachte er. Zwei Schritte später blieb er wie erstarrt stehen.

Das Tier trat aus einem Hauseingang. Es war fast so groß wie ein Kalb. Seine Hufe, die Ohren, der Schwanz, der Rumpf und auch das kurzhaarige, braun-schwarz gescheckte Fell erinnerten an eine Ziege. Doch nicht der Kopf und schon gar nicht die Zähne, die nicht zum Graszupfen und Blätterzermalmen taugten. Varatreo hatte von Wolfsziegen gehört. Niemand mußte ihm erklären, daß er einer gegenüberstand. Wenn diese Tiere etwas verschmähten, dann allenfalls Gras oder junge Triebe. Ganz gewiß aber nicht totes oder lebendiges Fleisch.

Bisher war Varatreo die abschüssigen Straßen der Ortschaft aufwärts gerannt: hin zu den Berggipfeln, weg von Mutter und dem blutrünstigen Wahn in den Tälern und Ebenen. Nun lief er wieder zurück. Umgehend hörte er hinter sich Hufe auf Pflastersteinen und ein verlogenes, Harmlosigkeit vortäuschendes Meckern.

Wohin? dachte er.

In eines der Häuser? Wer konnte sagen, wie es dort drinnen aussah? Das wäre leichtsinnig. Vielleicht begäbe er sich damit in eine auswegslose Falle und führte sein eigenes Ende herbei! Was dann? Da vorn wuchs ein Baum ... Das war die Rettung!

Nur noch fünf Schritt! Das Hufgetrappel kam näher. Nur noch drei! Varatreo vermeinte heißen Atem in seinem Nacken zu spüren. Nur noch einer! Er sprang, zog sich an einem Ast hoch und meinte ein Schnappen ganz in der Nähe zu hören.

Er setzte sich auf den Ast. Der Baum, nein bestenfalls das Bäumchen, wie ihm bewußt wurde, geriet ins Schwanken. Die Wolfsziege rieb sich am Stamm. Varatreo krallte die Finger in die rauhe Borke. Ihr Heiligen, laßt mich nicht hinunterfallen, flehte er. Ein furchtbarer Gedanke schoß ihm durch den Kopf. Hoffentlich hatte das Raubtier nicht noch mehr Gemeinsamkeiten mit Ziegen. Die kamen in Herden. Zwanzig oder dreißig Stück dieser absurden Ungeheuer waren nichts, was er sehen, geschweige denn treffen wollte!

Plötzlich richtete sich die Wolfsziege auf die Hinterbeine auf. Mit den Hufen der Vorderbeine stützte sie sich gegen den Stamm. Varatreo schrie auf, als das zähnestarrende Maul immer näher kam. Blitzschnell zog er die Füße an und richtete sich mit pochendem Herzen auf. Nun stand er mit angehaltenem Atem auf dem zitternden Ast. Das Tier ließ sich wieder auf alle viere nieder.

Hufe, dachte Varatreo erleichtert. Wenigstens konnte die Bestie nicht damit klettern. Doch welche unfreundlichen Überraschungen hielt sie wohl noch bereit?

Ein Stein traf ihn am Kopf.

Mühsam gelang es Varatreo, sich auf den Beinen zu halten. Er klammerte sich an den Baumstamm und sah, daß Mutter und ihre gesamte Bande gekommen waren. Sie trugen Fackeln und warfen mit Steinen nach der Bestie. Ganz außer sich brüllte Mutter ihren Zweitgeborenen an, der offenbar den Stein geworfen hatte.

»Nicht auf den, du Nichtsnutz«, kreischte sie. »Den brauchen wir doch. Auf das Vieh! Auf das Vieh!«

Zornig prügelte sie auf ihren Sohn ein. Daß sie keinen Stock in der Hand hielt, sondern eine brennende Fackel, kümmerte sie nicht weiter. Der beinahe dreißigjährige Mann duckte sich unter den Schlägen, wagte aber selbst dann, als er unter dem wütenden Ansturm seiner Erzeugerin zu Boden ging, keine Gegenwehr. Er schützte sich nur mit den Armen und schrie: »Nicht, Mammi! Nicht!«

Mutter ließ erst von ihm ab, als die Wolfsziege bereits das Weite gesucht hatte. Der junge Mann riß sich rasch die Kleidung vom Leib, da sie Feuer gefangen hatte, und trampelte auf ihr herum. Mutter kam unterdessen zum Baum.

So also ging sie mit ihren Kindern um, dachte Varatreo verzweifelt. Was blühte dann ihm? Daß er zu flüchten versucht hatte, ließ sich nicht leugnen.

»Runter!« befahl Mutter düster. Als Varatreo vom Baum geklettert war, fuhr sie fort: »Zur Basilika!«

Varatreo verstand die Welt nicht mehr. Er hatte damit gerechnet, von der ganzen Schar verprügelt, verbrannt oder in Stücke gerissenen zu werden. Doch nichts dergleichen geschah. Was hatte das zu bedeuten? Der Singsang einer leisen Stimme in seinem Rücken ließ ihn vor Entsetzen schaudern: »Mammi mag dich!«

Das Ziel waren die Kellergewölbe der Basilika. Varatreo hatte die Söhne nur deswegen dazu angestiftet, dort unten nach Schätzen zu suchen, um sie los zu sein. Doch wider Erwarten waren sie fündig geworden. Eine Tür mit Eisenbeschlägen und mehrere achtstrahlige rote Sterne, die Tür und Rahmen versiegelten, bewiesen es.

Mutter deutete auf eine Inschrift über der Tür. »Lies!«

Varatreo zuckte die Schultern, da er keine Ahnung hatte, was die Schriftzeichen bedeuten mochten.

»Du kannst nicht lesen?« fragte Mutter drohend.

»Doch, doch«, antwortete er erschrocken. Diese Fähigkeit schützte ihn schließlich vor ihr. »Aber es ist eine alte Schrift. Sie hat nichts zu bedeuten. Wäre sie wichtig, so wäre sie so geschrieben, daß ich sie lesen kann.«

Als Mutters Kinder die Tür aufbrachen, verfluchte sich Varatreo. Vielleicht war das sein letzter Fehler gewesen. Warum hatte er nicht einfach behauptet, die Inschrift bedeute: Diese Kammer ist gefüllt mit Schätzen. Wer sie stehlen will, ist des Todes ...

Vielleicht hätte er auf diese Weise entkommen können!

Die Fackeln leuchteten in einen rotgetünchten Raum. In die Wände waren Wandbilder eingelassen. Auf Lesepulten standen Leuchter und lagen dicke Wälzer. Die Leuchter waren aus Kupfer und bis auf zwei dunkel angelaufen. Die verbliebenen glänzten in strahlenderem Rot, als es Kupfer gemeinhin tat. An Haken hingen Überwürfe aus Leder. Varatreo entdeckte Geräte, deren Bestimmung ihm ein Rätsel war, und seltsam geformte Vasen. Eine von ihnen war mit einem vielarmigen blauen Geschöpf bemalt. Sie ging unter einem Fußtritt zu Bruch, kaum daß er einen Blick auf sie geworfen hatte.

Die Bilder zogen ihn magisch an. Eines zeigte einen großen und viele kleine Sterne, die vom Himmel fielen. Ein anderes eine große Gestalt mit Löwenmähne, die von Lichtstrahlen umgeben war. Danach wurden die Darstellungen wirrer. Er sah Wesen, die nur aus einem Rachen und Tausenden von Beinen bestanden, geflügelte Pferde, schwebende, vielleicht auch aus großer Höhe stürzende Männer und Frauen, die aus Pflanzen wuchsen.

Was für Fieberträume waren das?

Eine von Mutters Töchtern schrie auf. Sie hatte ein Buch geöffnet und schlug Seiten um, die so alt waren, daß sie beim Umblättern aus ihrer Bindung brachen. Was darauf stand, war ebenfalls in der alten Sprache verfaßt, so daß Varatreo nichts damit anzufangen wußte. Doch die sorgfältig gemalten Bilder ähnelten denen an den Wänden, stellten aber noch weit Schreckliches dar. Sie flößten Varatreo so viel Angst ein, daß er sich einige Augenblicke lang sogar mit Mutters Tochter verbunden fühlte.

»Keine Schätze«, erklang Mutters Stimme.

Varatreo wußte nicht, wie er sie noch länger hinhalten sollte. »Nein, keine Schätze«, gab er zu.

»Er lügt«, behauptete einer ihrer Söhne. Auch er hatte in einem der Bücher geblättert.

»Ich lüge nicht«, widersprach Varatreo. Denn wenn Mutter zu der Ansicht gelangte, er wolle ihr etwas verheimlichen, würde sie ihn sicherlich foltern lassen.

»Doch, er lügt«, beharrte der Sohn. Er legte den Finger auf eine der Buchseiten und sagte zögernd: »Gold ... Edelstein... Schätze ... Kronen ... drei Reiche ...«

Varatreo starrte ihn an: »Du kannst lesen?«

»Nur die wichtigen Worte«, antwortete der Sohn und kam mit dem Buch zu ihm.

Varatreo blickte auf das wellige Pergament. Das Buch war zwar nicht in der alten Sprache verfaßt, dennoch klangen die Worte altertümlich. Er staunte. Hier war tatsächlich von Zehntausenden Goldstücken die Rede, von Edelsteintruhen, Kaiserkronen und der Macht des Imperiums. Varatreo wunderte sich. Imperium? Anscheinend war damit nicht das Merkantilische Imperium gemeint, sondern das alte, das vor Jahrhunderten zerstört worden war.

Er blätterte einige Seiten weiter, las von Prinzessinnen und Königen und entdeckte Angaben in einer längst nicht mehr gebräuchlichen Zeitrechnung. Noch ein paar Seiten weiter sprangen ihm die Worte ins Auge: »Wie gestern erscheint es, doch bereits ein halbes Menschenleben ist es her, daß sich der fleischgewordene Gott Aionar gen Süden wandte, um seine geflügelte Widersacherin zu bekriegen. Das wiederum war lange nachdem die Sterne verschwunden und sich die vier Himmel verdunkelt hatten. Derweil befahl er dem Heer seiner Diener, das Reich des Gottkaisers zu bestürmen.«

Varatreo schwindelte. Das Buch gab vor, aus einer Zeit zu stammen, als sich die allmächtige Kirche Aionars noch nicht über den ganzen Kontinent verbreitet hatte und der Abwesende Gott leibhaftig unter den Sterblichen gewandelt war. Dann mußte es vor rund fünfhundert Jahren geschrieben worden sein ... Nun, nicht gerade dieses Buch, jedoch das Original, von dem es wer weiß wie oft kopiert worden war. Damit kannte er sich aus. Immerhin hatte er selbst eine vergleichbare Tätigkeit im Kontor seiner eulykischen Herrin ausgeübt, bis er eines Tages mit der Kasse durchgebrannt war. Eine der wenigen klugen Entscheidungen seines Lebens, auch wenn er seither vermied, länger als ein halbes Jahr am selben Ort zu bleiben.

Varatreo schloß das Buch und betrachtete es von allen Seiten. Der Einband war nicht verziert, das Buch war auch keine Urschrift. Warum wurde es dann in diesem Kellerraum voller Seltsamkeiten aufbewahrt?

»Wo sind die Schätze?« brachte sich Mutter in Erinnerung.

Varatreo wußte im selben Augenblick eine Antwort. Er lächelte und klopfte auf den Einband des Buches: »Hier drin. Hier drin steht es irgendwo. Man muß nur die richtige Stelle finden.«

»Wo?«

»Ich muß es erst lesen.«

»Lies laut«, befahl Mutter und ging mit schwerem Schritt zur Treppe. Varatreo folgte ihr nach oben in die Kulthalle des Gotteshauses. Dort suchte er eine Stelle, wo er bequem sitzen konnte und ausreichend Licht hatte. Bald darauf begann er mit klarer Stimme vorzutragen: »Es begab sich nicht lange vor der Regenzeit des Jahres 243 seit Gründung des Imperiums, daß der göttliche Imperator in den Krieg gegen die Götzendiener Aionars zog. Nach Hunderttausenden zählten die Krieger, die sich bei Duros Xenthos unter den Sternenstandarten versammelt hatten. Der Imperator hatte sich geschworen, die Horden des Savannengottes durch die reine Macht des Willens zu brechen und Weh und Pein in ihre Länder zu trauen. Um die Barbaren aus den grasbewachsenen Ebenen durch den Glanz seiner Herrlichkeit zu blenden, ließ er auf den Höhen über dem Grünen Kalykados die besten Ritter aus neunzehn Königreichen zum Turnier antreten. Unter ihnen befand sich auch der stolze Lorenco, der an jenem Tag die Gunst einer Prinzessin gewann und die eines Gottes verlor ...«

Das Geheimnis der Gezeitenwelt

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