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Der Silberfalke
ОглавлениеDer Schwebende Palast, Kaiserpfalz Venabulae, auf dem Gipfel des Berges Kyporus, Königreich Gatanien, Kaiserreich der Fünf Rosen, am 1. Tag des Hitzemondes, im 243. Jahr des Imperiums
Prinzessin Genia stand im Schatten des doppelten Säulengangs und blickte hinab auf das Blätterdach des Dschungels, der den Palastberg wie ein Meer umschloß. Grün, soweit das Auge reichte, erstreckte sich der urwüchsige Wald bis zu den Flanken des Gaba-Massivs fern im Nordosten, dessen Umrisse nur schwach zu erahnen waren. Die Prinzessin wußte von dem Gebirge lediglich, daß dort die Quellen des Grünen Kalykados entsprangen.
Sie schloß die Augen, spürte dem Wind nach, der ihr feuchtheiße Dünste zutrug, und lauschte den fremdartigen Geräuschen der Natur. Ein tausendstimmiger Vogelchor vermengte sich unter ihr mit dem Kläffen der Affenhorden, und in ihren Ohren klang es wie der Ruf ungebändigter Freiheit. Verheißungsvoll schwebte er über den Wipfeln der Bäume. Doch so nah der Wald auch schien, für Genia blieb er unerreichbar.
Seit über einem Jahr schon lebte sie im Schwebenden Palast von Venabulae. Trotz seiner Abgeschiedenheit galt er im ganzen Reich als ein Prunkstück imperialer Architektur. Kaiser Gratianus, ihr legendärer Urahn, hatte auf dem Gipfel des Kyporus eine Wehranlage errichten lassen, die in den letzten 150 Jahren immer weiter ausgebaut worden war. So war eine Dschungelresidenz entstanden, die mit ihren Lustgärten und Badehäusern der kaiserlichen Familie ungetrübte Zerstreuung und Vergnügungen aller Art bot. Die Abgeschiedenheit des Tafelberges, die aufwendig errichteten Zisternen, die reich gefüllten Speicher und nicht zuletzt die hohen Mauern sorgten dafür, daß die Kaiserpfalz im Notfall sogar einer mehrjährigen Belagerung standhalten könnte.
Doch die steinerne Wucht der Anlage verblaßte angesichts der Erhabenheit, die den Schwebenden Palast umgab – das Juwel der Festung. Direkt am Nordhang des Kyporus gelegen, wo es stets kühl und schattig war, erstreckte sich der marmorne Säulenbau über drei untereinander liegende Felsterrassen. Seine vorzügliche Lage gestattete dem Imperator und seiner Familie einen freien Blick nach Westen, Norden und Osten. Die heitere Eleganz, mit der die Marmorsäulen dem Himmel entgegenstrebten, die filigranen Ornamente, mit denen Kapitelle und Firste geschmückt waren, und die verspielte Leichtigkeit, mit der Treppen, Portale und Terrassen zueinanderfanden, ließen einen Außenstehenden glauben, der Palast schwebe leicht wie ein Wolkenschloß über dein felsigen Untergrund des Berges.
Auch Genia, die all die Kaiserpfalzen, Königshöfe und Fürstenpaläste des Reiches kannte, war von seinem Anblick sogleich in Bann geschlagen worden, als Imperator Rigorius, ihr vergöttlichter Vater, sie vor 15 Monden nach Venabulae hatte bringen lassen.
Hin und wieder traten im Palast Gaukler, Musikanten und Schauspieler auf, die eigens zu Genias Unterhaltung angereist kamen. Unter ihnen waren auch Künstler, die Komödien und Tragödien aus allen Teilen des Reiches auf leichtverständliche Weise darboten. So sehr die Prinzessin Abwechslungen dieser Art auch entgegenfieberte, hatten die Darbietungen doch einen bitteren Beigeschmack. Sie erinnerten sie an das Leben, das unwiederbringlich hinter ihr lag.
»Der Silberfalke, Imperiale Hoheit.«
Genia blinzelte und strich sich eine lose Strähne aus dem Gesicht. Wie jeden Morgen hatten tüchtige Dienerinnen ihr langes nachtschwarzes Haar streng hochgesteckt. Und gleichfalls wie jeden Morgen hatte sie kurz darauf wieder einige Strähnen gelöst. Sie wußte selbst, daß ihre trotzigen Versuche, gegen die engen Regeln des Hofzeremoniells aufzubegehren, mehr als kindisch waren. Aber viele Freiheiten besaß sie seit dem Verlust ihres Fürstentums nicht mehr. Niemand verstieß ungestraft gegen einen Befehl des Imperators. Auch sie nicht, seine älteste Tochter. Nicht einmal seine Favoritinnen wagten dies – eine zweifelhafte Ehre, die ihr Vater ihr glücklicherweise nie hatte zuteil werden lassen. Denn mit ihr hatte er andere Pläne gehabt; Pläne, die wegen ihres Ungehorsams gescheitert waren ...
Anmutig wandte sie sich zu dem Sprecher um. Wie alle Falkner von herausragendem Ruf stammte auch Rygus aus der Gegend um Mediogenia. Der untersetzte Mann mit dem Federspiel am Gürtel hatte weiche Gesichtszüge, doch noch nie hatte Genia ihn lächeln sehen. Andererseits, was wußte sie, wie sich der Falkner unter seinesgleichen verhielt? Wenn sie ehrlich zu sich war, mußte sie sich eingestehen, daß sie sich bislang nur selten über das Leben ihrer Untergebenen Gedanken gemacht hatte. Das betraf Rygus ebenso wie die beiden muskulösen Hünen ihrer Leibgarde, die in strahlendweißen Tuniken die Treppe hinauf zum Pfauensaal flankierten. Statuen gleich, hielten die gebürtigen Leomannen Äxte und Schwerter vor den Beinen überkreuzt. Was fühlten diese blonden Söldner, wenn sie jene bewachten, die mit den Völkern der Savanne im Krieg lagen? Offensichtlich veränderte sie der ungewöhnlich lange Aufenthalt auf Venabulae.
Genia, die es gewohnt war, mit dem Dormon ihres vergöttlichten Vaters von Königreich zu Königreich zu ziehen, konnte sich nicht daran erinnern, jemals zuvor so lange an einem Ort gelebt zu haben. Venabulae war längst zu dem geworden, was ihr Vater beabsichtigt hatte: ein goldenes Gefängnis.
Ihr Blick ruhte auf der zwei Schritt hohen Falkentrage, die Rygus in Händen hielt. Auf der langen, hölzernen Querstange saß mit majestätischer Ruhe ein ungewöhnlich großer Falke, dessen Federkleid verschattet war. Wie wundersam mußte das Aussehen des Silberfalken gewesen sein, bevor er eingefangen worden war!
Sein Kopf wurde von einer ledernen Falkenhaube verhüllt. Hätte man einen Beizvogel unverkappt getragen, wäre er auf der Faust unruhig geworden. Doch Genia wußte, daß dieser Vogel die Kappe noch aus einem anderen Grund trug ...
»Hoheit, ich muß noch einmal darauf aufmerksam machen, daß ich nicht weiß, ob der Silberfalke für die Beiz geeignet ist. Er ist kein gewöhnlicher Falke. Er stammt aus den Träumenden Wäldern nahe Pentarosae.«
»Ich weiß, Rygus.« Der Falkner hob erstaunt eine Augenbraue, als Genia ihn mit Namen ansprach. »Ihr habt mir die Geschichte seiner Ergreifung bereits erzählt.«
Die Prinzessin streckte die Hand aus – und hielt unvermittelt inne. Sie wagte es nicht, das wundersame Wesen zu berühren. Der Falke roch nach Oleander und nach harziger Erde. Vor zwei Monden hatte sie ihn in einem Verschlag des Curiosums entdeckt, einer jener Luststätten Venabulaes, in der die kaiserlichen Kreaturensammler zahlreiche seltsame Geschöpfe aus dem ganzen Imperium ausgestellt hatten. Einer alten Sage aus Pentarosae zufolge trug das Wesen auf der Falkentrage sogar einen eigenen Namen: Speranto, was im Dialekt Pentarosaes ›Hoffnung‹ bedeutete. Fragte man die Bewohner rings um die Träumenden Wälder, so hieß es, ein Silberfalke sei der Sendbote geheimnisvoller Waldgeister, die ihre Gunst allein denen schenkten, die rein im Herzen waren. Obwohl der Silberfalke seit seiner Ergreifung vor drei Jahren nachweislich nichts zu sich genommen hatte, lebte er noch immer. Doch das herrlich silberne Federkleid, das Speranto noch in den Monden nach seiner Ergreifung getragen hatte, war längst stumpf geworden. Genia war nach Aussage der Kreaturenwärter die einzige, die er in seiner unmittelbaren Nähe duldete. Und jetzt auch Rygus. Die Prinzessin fand, daß dies für den Mann sprach.
»Ich werde den Silberfalken nicht für die Beiz verwenden«, erklärte sie mit fester Stimme. »Ich habe mich dazu entschlossen, den Vogel freizulassen.«
»Ich habe deine Worte gehört, törichtes, dummes Mädchen!« Bevor der Falkner etwas darauf sagen konnte, wurden auf der Treppe zur Empfangshalle Schritte laut. Kurz darauf rauschte eine hochmütig blickende Frau in die Säulenhalle, deren ausladendes Äußeres bei Hofe für gewöhnlich als stattlich heruntergespielt wurde. Ihre dunklen Haare waren zu einer Frisur hochgesteckt, deren abstehende Zöpfe ihr vage die Umrisse einer Amphore verliehen. Gehalten wurde die Haarpracht von einem Netz aus Golddraht und kleinen Smaragden, die grün im Nachmittagslicht funkelten.
Emerentia war eine Schwester von Genias Vater Rigorius. Sie war vom Imperator persönlich als ihre Unterhaltungsdame ausgesucht worden, in den Ohren der Prinzessin lediglich ein anderer, wenig verschleiernder Ausdruck für ›Gefängniswärterin‹. Denn in Wahrheit war ihre Tante dazu ausersehen, ihren Stolz zu brechen.
Wie immer blitzten Emerentias dunkle Augen in mühsam unterdrückter Wut, kaum daß sie ihre Nichte erblickte. »Glaube nicht, dein Vorhaben sei mir entgangen«, keifte sie in einer Lautstärke weiter, die jetzt auch Salada, Genias ergraute Amme, besorgt in den Säulenhof treten ließ.
»Reicht es nicht, daß du dich dem Befehl des Imperators verweigert hast? Mußt du ihn jetzt auch noch um seine wertvollsten Besitztümer bringen?«
Genia ballte kämpferisch die Fäuste. »Mein Vater weiß wahrscheinlich nicht einmal, daß der Silberfalke existiert. Wie kann ich ihm diesen Vogel da wegnehmen?«
Emerentia trat dicht an sie heran, und ihre Stimme nahm einen lauernden Unterton an. »Es geht ums Prinzip, meine Teure. Wenn du diesen Falken freiläßt, sehe ich mich leider gezwungen, das zu melden, sobald der Imperator diesen leomannischen Abschaum bei Duros Xenthos in die Savanne zurückgetrieben hat. Daß es überhaupt zu diesem Krieg kommen konnte, ist allein deine Schuld, wie du sehr gut weißt.«
Genia spürte die Empörung wie einen heißen Geysir in sich aufsteigen. »Emerentia, du kannst noch so oft versuchen, mir dies einzureden. Aber es wird dadurch nicht wahrer. Die Savannenvölker treibt ein heidnischer Glaube, das weiß ich von meinem alten Lehrer Guelfo. Er dient meinem Vater nicht umsonst ah Orator. Es ist äußerst zweifelhaft, ob irgend etwas unsere Feinde davon hätte abhalten können, den Boden des Imperiums zu betreten.« Tatsächlich war sich Genia dessen nicht so sicher, aber das mußte sie ihre Tante schließlich nicht wissen lassen.
»Guelfo ...« Emerentia verzog die feisten Lippen zu einem höhnischen Lächeln. »Dieser sogenannte Zauberer ist nichts weiter als ein speichelleckerischer Scharlatan. Früher oder später wird das auch der Imperator erkennen. Welche Weisheiten will man in dieser Angelegenheit schon von einem ›Orator‹ erwarten, der durch seine eigene leomannische Herkunft befleckt ist?!«
Genia glaubte zu spüren, wie sich ihre beiden Leibgardisten bei Emerentias Worten versteiften. Oder irrte sie sich?
»Alles wäre anders gekommen«, giftete ihre Tante weiter, »wenn du dich dem Befehl deines Vaters nicht widersetzt hättest!«
»Bei den Dornen des Rosenhains! Ich konnte nicht anders!« Genia hob trotzig ihr Kinn. »Wenn du es genau wissen willst: Odia, die Rosenfee Pentarosaes, hat mir bei meiner Geburt prophezeit, daß meine Liebe dereinst dem größten Streiter des Nordens gehören werde. Wenn es nach den Beratern meines Vaters gegangen wäre, hätte ich mich wie die goldene Antilope erlegen lassen sollen, nur um Ruchhelm als Trophäe das Bett zu wärmen. Und das, obwohl er dreimal so alt ist wie ich – und mindestens so fett wie ... wie ...«
Das ›du‹ verschluckte die Prinzessin wohlweislich. Einen Augenblick lang schien es, als wollte Emerentia ihr eine Ohrfeige geben. Doch sie beherrschte sich.
»Kindchen ... du glaubst offenbar wirklich an diesen Unsinn mit der Prophezeiung? Wenn ich das nur höre ... Liebe. Hier geht es um Politik! Da ist kein Platz für Märchen. Und was deine Rosenfee betrifft, für die gibt es nur eine einzige Zeugin: Salada, deine schwachköpfige Dienerin! Wahrscheinlich hat sie sich das Ganze ausgedacht, um sich wichtig zu machen. Deine Mutter hätte sie besser steinigen lassen sollen, statt dich ihr anzuvertrauen. Aber ebenso wie du war Pinella ja zeit ihres Lebens für ihre kindischen Schwärmereien berüchtigt. Hättest du nur etwas von deiner Schwester Cassandra! Sie würde ...«
»Cassandra? Cassandra ist eine liederliche Dirne!« platzte es aus Genia heraus. »Die macht jedem Dummkopf schöne Augen, wenn das nur ihren Intrigen dient ...« Erschrocken schlug sie sich die Hand vor den Mund. Ihre Schwester war immerhin die Favoritin ihres Vaters.
»Sagtest du ›Dummkopf‹?« Emerentias Augen blitzten siegestrunken. »Daß Seine Illuminiszenz dich nur mit Verbannung bestrafte, nachdem du seinen Wunsch ausschlugst, war mehr Glück, als du verdientest. Aber das eben ... das war Blasphemie! Mehr noch, Genia: Es war dein Todesurteil!«
Emerentias höhnischer Blick ruhte auf dem Silberfalken. »Tu nur, was du willst, und verschlimmere deine Lage. Mir soll es recht sein. Schon bald wird ein Bote eintreffen, um uns über den großartigen Sieg des Imperiums bei Duros Xenthos in Kenntnis zu setzen. Ich kann es kaum erwarten, ihm eine Nachricht an den Imperator mitzugeben. Wenn ich dich erst los bin, kann ich endlich wieder nach Gondallo zurückkehren.«
Ihre Tante wandte sich mit triumphierendem Lächeln um und strebte zurück in Richtung Pfauensaal. Genia starrte ihr beklommen nach, wohl wissend, daß der Unterhaltung fast ein halbes Dutzend Zeugen beigewohnt hatten.
»Herrin, macht Euch keine Sorgen.« Ohne es zu bemerken, war Salada an ihre Seite getreten. Die alte Dienerin berührte sie mitfühlend am Arm und entblößte beim Sprechen eine Zahnlücke.
»Glaubt mir«, nuschelte sie. »Die Rosenfee stand an Eurer Wiege. So gewiß, wie ich jetzt an Eurer Seite stehe. Gebt die Hoffnung nicht auf. Ihre Prophezeiung wird sich erfüllen.«
»Hoffnung? Ach, Salada ... ich fürchte, diesmal bin ich zu weit gegangen.« Genia seufze sorgenvoll und wandte sich wieder dem. Silberfalken zu. Ihr Falkner tat indes so, als hätte er von dem Wortgefecht nichts mitbekommen. »Es reicht, wenn einer an diesem Ort gefangen ist.«
Trotzig streckte sich Genia und öffnete den Verschluß der Kette an der Klaue des Tiers. Rygus senkte die Falkentrage ein wenig, so daß sie die Haube lösen und dem wundersamen Vogel vom Kopf streifen konnte. Erstmals bewegte sich das Wesen.
Doch statt den Blick dem nahen Dschungel zuzuwenden, drehte Speranto den Kopf der Prinzessin zu. Salada entfuhr ein Laut des Staunens. Denn dicht hinter dem stark hervortretenden Schnabel glitzerte spiegelgleich ein silberhelles Augenpaar – über das im nächsten Moment eine rasche Abfolge von Bildern huschte. Dann breitete der Vogel mit lautem Krächzen die Schwingen aus, stieß sich kraftvoll von der Trage ab und jagte pfeilschnell zwischen den marmornen Pfeilern des Säulengangs hindurch. Wenige Augenblicke später war er am trüben Himmel jenseits des Schwebenden Palasts verschwunden.
Genia wandte sich versonnen zu ihrer Leibdienerin um. »Salada, hast du gesehen, was ich gesehen habe?«
»Ja, Herrin!« lächelte diese. »Das waren Rosen. Wunderbare rote Rosen.«